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Document 62015CJ0162

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. März 2017.
    Evonik Degussa GmbH gegen Europäische Kommission.
    Rechtsmittel – Wettbewerb – Art. 101 und 102 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 30 – Entscheidung der Kommission, mit der ein rechtswidriges Kartell auf dem europäischen Markt für Wasserstoffperoxid und Perborat festgestellt wird – Veröffentlichung einer erweiterten nicht vertraulichen Fassung der Entscheidung – Ablehnung eines Antrags auf vertrauliche Behandlung bestimmter Informationen – Mandat des Anhörungsbeauftragten – Beschluss 2011/695/EU – Art. 8 – Vertraulichkeit – Schutz des Berufsgeheimnisses – Art. 339 AEUV – Begriff ‚Geschäftsgeheimnisse oder sonstige vertrauliche Informationen‘ – Informationen, die sich aus einem Kronzeugenantrag ergeben – Ablehnung des Antrags auf vertrauliche Behandlung – Vertrauensschutz.
    Rechtssache C-162/15 P.

    Court reports – general

    Rechtssache C‑162/15 P

    Evonik Degussa GmbH

    gegen

    Europäische Kommission

    „Rechtsmittel – Wettbewerb – Art. 101 und 102 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 30 – Entscheidung der Kommission, mit der ein rechtswidriges Kartell auf dem europäischen Markt für Wasserstoffperoxid und Perborat festgestellt wird – Veröffentlichung einer erweiterten nicht vertraulichen Fassung der Entscheidung – Ablehnung eines Antrags auf vertrauliche Behandlung bestimmter Informationen – Mandat des Anhörungsbeauftragten – Beschluss 2011/695/EU – Art. 8 – Vertraulichkeit – Schutz des Berufsgeheimnisses – Art. 339 AEUV – Begriff ‚Geschäftsgeheimnisse oder sonstige vertrauliche Informationen‘ – Informationen, die sich aus einem Kronzeugenantrag ergeben – Ablehnung des Antrags auf vertrauliche Behandlung – Vertrauensschutz“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. März 2017

    1. Wettbewerb–Verwaltungsverfahren–Berufsgeheimnis–Beschluss des Anhörungsbeauftragten über die Offenlegung eines Beschlusses der Kommission, mit dem ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln geahndet wird–Pflichten des Anhörungsbeauftragten–Umfang und Grenzen

      (Verordnungen Nrn. 45/2001 und 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates; Beschluss 2011/695 der Kommission, Art. 8)

    2. Wettbewerb–Verwaltungsverfahren–Berufsgeheimnis–Bestimmung der Informationen, die unter das Berufsgeheimnis fallen–Nicht mehr aktuelle Informationen–Ausschluss–Informationen, die nicht als geheim oder vertraulich angesehen werden können

      (Art. 101 AEUV und 339 AEUV)

    3. Organe der Europäischen Union–Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten–Verordnung Nr. 1049/2001–Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten–Tragweite–Anwendung auf die Verwaltungsakten in Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung der Wettbewerbsregeln–Generelle Vermutung einer Beeinträchtigung des Schutzes der in einem solchen Verfahren involvierten Interessen durch Offenlegung bestimmter Dokumente, die zu solchen Akten gehören–Übertragung der Vermutung auf die Offenlegung von Entscheidungen, mit der ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt wird–Ausschluss

      (Art. 101 AEUV und 102 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 30)

    4. Wettbewerb–Verwaltungsverfahren–Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird–Veröffentlichung von Informationen, die ein Unternehmen, das an einer Zuwiderhandlung beteiligt war, der Kommission freiwillig übermittelt hat, um in den Genuss des Kronzeugenprogramms zu gelangen–Zulässigkeit–Veröffentlichung wörtlicher Zitate aus einer Erklärung, die abgegeben wurde, um in den Genuss der Kronzeugenregelung zu gelangen–Unzulässigkeit

      (Art. 101 AEUV und 339 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 und 30)

    5. Wettbewerb–Verwaltungsverfahren–Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird–Veröffentlichung von Informationen, die ein Unternehmen, das an einer Zuwiderhandlung beteiligt war, der Kommission freiwillig übermittelt hat, um in den Genuss des Kronzeugenprogramms zu gelangen–Verletzung der Rechte des nach der Kronzeugenmitteilung betroffenen Unternehmens–Fehlen

      (Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 30; Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission)

    1.  Art. 8 des Beschlusses 2011/695 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren dient der verfahrensrechtlichen Umsetzung des Schutzes, den das Unionsrecht Informationen gewährt, von denen die Kommission im Rahmen von Verfahren zur Anwendung der Wettbewerbsregeln Kenntnis erlangt hat. Dieser Schutz ist dahin zu verstehen, dass er jeden Grund betrifft, der den Schutz der Vertraulichkeit der fraglichen Informationen rechtfertigen könnte.

      Daraus folgt, dass sich die Gründe, aus denen die Offenlegung von Informationen wie denjenigen, die ein Unternehmen der Kommission übermittelt hatte, um in den Genuss der Kronzeugenregelung zu gelangen, eingeschränkt werden kann, nicht auf diejenigen beschränken, die ausschließlich den Regeln zu entnehmen sind, die speziell diese Informationen vor einer Offenlegung schützen, und dass der Anhörungsbeauftragte daher jeden Einwand zu prüfen hat, der auf einen Grund gestützt ist, der Regeln oder Grundsätzen des Unionsrechts zu entnehmen ist und vom Betroffenen geltend gemacht wird, um den Schutz der Vertraulichkeit der fraglichen Informationen zu beanspruchen. Die Tragweite von Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2011/695 wäre nämlich stark begrenzt, wenn diese Bestimmung dahin auszulegen wäre, dass sie die Berücksichtigung nur der Regeln durch den Anhörungsbeauftragten erlaubt, die – wie die in der Verordnung Nr. 45/2001 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr oder in der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission enthaltenen – speziell vor einer Offenlegung von Informationen schützen.

      (vgl. Rn. 51, 54, 55)

    2.  Angaben, die geheim oder vertraulich waren, aber mindestens fünf Jahre alt sind, sind aufgrund des Zeitablaufs grundsätzlich als nicht mehr aktuell und deshalb als nicht mehr vertraulich anzusehen, wenn nicht ausnahmsweise die Partei, die sich auf die Vertraulichkeit beruft, nachweist, dass sie trotz ihres Alters immer noch wesentlicher Bestandteil ihrer eigenen oder der wirtschaftlichen Stellung eines betroffenen Dritten sind. Diese Erwägungen, die zu einer widerleglichen Vermutung führen, gelten sowohl im Zusammenhang von Anträgen auf vertrauliche Behandlung gegenüber Streithelfern im Rahmen von Rechtsbehelfen vor den Unionsgerichten als auch im Zusammenhang von Anträgen auf vertrauliche Behandlung im Hinblick auf die Veröffentlichung einer einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht feststellenden Entscheidung durch die Kommission.

      (vgl. Rn. 64)

    3.  Aufgrund der Unterschiede zwischen der Regelung über den Zugang Dritter zur Kommissionsakte in Fällen einer Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV und der Regelung über die Veröffentlichung der Entscheidungen über Zuwiderhandlungen können richterrechtliche Regeln, die die Voraussetzungen einschränken, unter denen die Kommission nach der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Dritten Dokumente aus der Verwaltungsakte offenlegen kann, nicht auf den Kontext der Veröffentlichung von Entscheidungen über Zuwiderhandlungen übertragen werden.

      Die Veröffentlichung einer nicht vertraulichen Fassung einer Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird, ist nämlich in Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehen. Diese Vorschrift trägt Erwägungen hinsichtlich der Wirksamkeit der Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union insoweit Rechnung, als eine solche Veröffentlichung insbesondere ermöglicht, den Geschädigten von Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV eine Stütze für ihre Schadensersatzklagen gegen die Urheber dieser Zuwiderhandlungen an die Hand zu geben. Diese verschiedenen Interessen müssen jedoch gegen den Schutz der Rechte abgewogen werden, den das Unionsrecht insbesondere den betroffenen Unternehmen – wie das Recht auf Wahrung des Berufs- oder des Geschäftsgeheimnisses – oder den betroffenen Einzelnen – wie das Recht auf Schutz personenbezogener Daten – verleiht.

      (vgl. Rn. 77-79)

    4.  Die in Form wörtlicher Zitate vorgenommene Veröffentlichung von Informationen aus Dokumenten, die ein Unternehmen der Kommission zur Stützung seiner Kronzeugenerklärung vorgelegt hat, unterscheidet sich von der Veröffentlichung wörtlicher Zitate aus der Erklärung selbst. Während die erstgenannte Veröffentlichung insoweit zulässig ist, als sie den Schutz insbesondere der Geschäftsgeheimnisse, des Berufsgeheimnisses oder anderer vertraulicher Informationen wahrt, ist die zweitgenannte Veröffentlichung in keinem Fall zulässig.

      (vgl. Rn. 87)

    5.  Der einzige Schutz, den ein Unternehmen beanspruchen kann, das im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 101 AEUV mit der Kommission zusammengearbeitet hat, besteht zum einen darin, dass im Gegenzug für die Vorlage bei der Kommission von Beweismitteln für die mutmaßliche Zuwiderhandlung, die gegenüber den bereits in deren Besitz befindlichen Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen, die Geldbuße erlassen oder ermäßigt wird, und zum anderen darin, dass die Kommission die Dokumente und schriftlichen Erklärungen, die sie nach der Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen erhalten hat, nicht offenlegt.

      Somit beeinträchtigt eine Veröffentlichung, die nach Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 unter Wahrung des Berufsgeheimnisses erfolgt, nicht den Schutz, den ein Unternehmen nach der Mitteilung von 2002 beanspruchen kann, da dieser Schutz nur die Bemessung der Geldbuße und die Behandlung der Dokumente und Erklärungen betreffen kann, auf die diese Mitteilung speziell abzielt.

      (vgl. Rn. 97, 98)

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