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Document 62014CJ0561

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. April 2016.
Caner Genc gegen Integrationsministeriet.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG – Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 13 – Stillhalteklausel – Familienzusammenführung – Nationale Regelung, die neue und strengere Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Fall nicht erwerbstätiger Familienangehöriger von erwerbstätigen türkischen Staatsangehörigen vorsieht, die sich im fraglichen Mitgliedstaat aufhalten und dort aufenthaltsberechtigt sind – Voraussetzung einer hinreichenden Verbindung, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen.
Rechtssache C-561/14.

Court reports – general

Rechtssache C‑561/14

Caner Genc

gegen

Integrationsministeriet

(Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret)

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Assoziierungsabkommen EWG–Türkei — Beschluss Nr. 1/80 — Art. 13 — Stillhalteklausel — Familienzusammenführung — Nationale Regelung, die neue und strengere Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Fall nicht erwerbstätiger Familienangehöriger von erwerbstätigen türkischen Staatsangehörigen vorsieht, die sich im fraglichen Mitgliedstaat aufhalten und dort aufenthaltsberechtigt sind — Voraussetzung einer hinreichenden Verbindung, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. April 2016

  1. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls – Begriff „neue Beschränkung“ – Nach Inkrafttreten dieser Bestimmung eingeführte nationale Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme verschärft – Einbeziehung – Auslegung, die ebenso in Bezug auf Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 gilt

    (Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei, Art. 41 Abs. 1; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei, Art. 13)

  2. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – Tragweite – Nationale Regelung, die neue und strengere Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Fall nicht erwerbstätiger Familienangehöriger vorsieht – Voraussetzung einer hinreichenden Verbindung, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen – Anwendbarkeit der Voraussetzung je nach dem Zeitpunkt der Gewährung einer endgültigen Aufenthaltserlaubnis für den türkischen Arbeitnehmer – Unzulässigkeit – Rechtfertigung – Fehlen

    (Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei, Art. 13 und 14)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 39-41)

  2.  Eine nationale Regelung, die es für die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat legal aufhält, und seinem minderjährigen Kind zur Voraussetzung macht, dass das Kind eine hinreichende Verbindung mit diesem Mitgliedstaat, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen, besitzt oder besitzen kann, wenn das Kind und sein anderer Elternteil im Herkunftsstaat oder in einem Drittstaat ansässig sind und der Antrag auf Familienzusammenführung nach einer Frist von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem der Elternteil, der seinen Aufenthalt im betreffenden Mitgliedstaat hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit zum Daueraufenthalt erhalten hat, stellt eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei dar.

    Eine solche Beschränkung ist nicht gerechtfertigt.

    Eine nationale Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme minderjähriger Kinder von sich im betreffenden Mitgliedstaat als Arbeitnehmer aufhaltenden türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, und die somit geeignet ist, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet zu beeinträchtigen, stellt nämlich eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in dem Mitgliedstaat dar.

    Eine solche Beschränkung ist verboten, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 dieses Beschlusses aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus.

    Zwar kann das Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration der Drittstaatsangehörigen im betreffenden Mitgliedstaat einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, jedoch gelangt das Erfordernis, eine hinreichende Verbindung nachzuweisen, nicht nach Maßgabe der persönlichen Situation der Kinder zur Anwendung, die einen negativen Einfluss auf ihre Integration im betreffenden Mitgliedstaat haben kann, wie etwa ihr Alter oder ihre Verbindungen mit diesem Mitgliedstaat, sondern nach Maßgabe eines Kriteriums, das von vornherein keinen Zusammenhang mit den Chancen für die Erreichung dieser Integration aufweist, nämlich der Zeitspanne zwischen der Gewährung einer endgültigen Aufenthaltserlaubnis in dem betreffenden Mitgliedstaat für den betreffenden Elternteil und dem Tag der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung, und birgt dieses Erfordernis die Gefahr in sich, dass je nach dem Zeitpunkt der Antragstellung für die Familienzusammenführung Kinder ungleich behandelt werden, die sich in einer völlig gleichartigen persönlichen Situation befinden.

    In diesem Zusammenhang hat die Beurteilung der persönlichen Situation des betreffenden Kindes durch die nationalen Behörden auf der Grundlage hinreichend genauer, objektiver und nicht diskriminierender Kriterien zu erfolgen, die im Einzelfall zu prüfen sind und deren Anwendung zu einer mit Gründen versehenen Entscheidung führen muss, gegen die mit einem wirksamen Rechtsbehelf vorgegangen werden kann, um eine Verwaltungspraxis der systematischen Ablehnung zu vermeiden.

    (vgl. Rn. 50, 51, 56, 61, 65-67 und Tenor)

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