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Document 62014CJ0198

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 12. November 2015.
Valev Visnapuu gegen Kihlakunnansyyttäjä (Helsinki) und Suomen valtio – Tullihallitus.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 34 AEUV und 110 AEUV – Richtlinie 94/62/EG – Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 7 und 15 – Versandgeschäft und Beförderung alkoholischer Getränke aus einem anderen Mitgliedstaat – Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen – Befreiung für den Fall, dass die Verpackungen zu einem Pfand- und Rücknahmesystem gehören – Art. 34 AEUV, 36 AEUV und 37 AEUV – Erlaubniserfordernis für den Einzelhandelsverkauf alkoholischer Getränke – Monopol für den Einzelhandelsverkauf alkoholischer Getränke – Rechtfertigung – Schutz der Gesundheit.
Rechtssache C-198/14.

Court reports – general

Rechtssache C‑198/14

Valev Visnapuu

gegen

Kihlakunnansyyttäjä et Suomen valtio – Tullihallitus

(Vorabentscheidungsersuchen des Helsingin hovioikeus)

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 34 AEUV und 110 AEUV — Richtlinie 94/62/EG — Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 7 und 15 — Versandgeschäft und Beförderung alkoholischer Getränke aus einem anderen Mitgliedstaat — Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen — Befreiung für den Fall, dass die Verpackungen zu einem Pfand- und Rücknahmesystem gehören — Art. 34 AEUV, 36 AEUV und 37 AEUV — Erlaubniserfordernis für den Einzelhandelsverkauf alkoholischer Getränke — Monopol für den Einzelhandelsverkauf alkoholischer Getränke — Rechtfertigung — Schutz der Gesundheit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 12. November 2015

  1. Umwelt — Abfälle — Verpackungen und Verpackungsabfälle — Richtlinie 94/62 — Abschließende Harmonisierung — Fehlen — Beurteilung der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung in demselben Bereich nicht nur auf der Grundlage der Harmonisierungsmaßnahme, sondern auch auf der Grundlage des Primärrechts

    (Richtlinie 94/62 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 1, 7 und 15)

  2. Steuerliche Vorschriften — Inländische Abgaben — Begriff — Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen — Befreiung für den Fall, dass die Verpackungen zu einem Pfand- und Rücknahmesystem gehören — Einbeziehung — Voraussetzungen

    (Art. 34 AEUV und 110 AEUV)

  3. Steuerliche Vorschriften — Inländische Abgaben — Verbot der Diskriminierung eingeführter Erzeugnisse gegenüber gleichartigen inländischen Erzeugnissen — Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen — Befreiung für den Fall, dass die Verpackungen zu einem Pfand- und Rücknahmesystem gehören — Zulässigkeit — Verstoß gegen die Richtlinie 94/62 über Verpackungen und Verpackungsabfälle — Fehlen

    (Art. 110 AEUV; Richtlinie 94/62 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 1, 7 und 15)

  4. Staatliche Handelsmonopole — Bestimmungen des Vertrags — Geltungsbereich — Bestimmungen über das Bestehen und die Funktionsweise eines Monopols — Staatliches Monopol für den Einzelhandelsverkauf alkoholischer Getränke — Regelung, die für Personen mit einer Erlaubnis zum Einzelhandelsverkauf alkoholischer Getränke Ausnahmen von diesem Monopol vorsieht — Erlaubnistatbestände, die sich von der Funktionsweise des Monopols trennen lassen — Unanwendbarkeit von Art. 37 AEUV — Beurteilung nach Art. 34 AEUV

    (Art. 34 AEUV und 37 AEUV)

  5. Staatliche Handelsmonopole — Art. 37 AEUV — Zweck — Verpflichtung zur Umformung von Verkaufsmonopolen in einer Weise, dass jede Diskriminierung des Handels mit Waren aus anderen Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist

    (Art. 37 AEUV)

  6. Freier Warenverkehr — Mengenmäßige Beschränkungen — Maßnahmen gleicher Wirkung — Regelung eines Mitgliedstaats, nach der ein Verkäufer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat für die Einfuhr alkoholischer Getränke mit dem Ziel ihres Einzelhandelsverkaufs an im ersten Mitgliedstaat ansässige Verbraucher eine Einzelhandelserlaubnis besitzen muss — Zulässigkeit — Voraussetzung — Schutz der öffentlichen Gesundheit und der öffentlichen Ordnung — Prüfung durch den nationalen Richter

    (Art. 34 AEUV und 36 AEUV)

  1.  Jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, ist anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen. Für die Prüfung, ob die mit einer Richtlinie vorgenommene Harmonisierung abschließenden Charakter hat, hat der Gerichtshof die betreffenden Vorschriften auszulegen und dabei nicht nur ihren Wortlaut, sondern auch ihren Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden.

    Die mit den Art. 1 Abs. 1, 7 und 15 der Richtlinie 94/62 über Verpackungen und Verpackungsabfälle vorgenommene Harmonisierung hat keinen abschließenden Charakter. Die nationalen Maßnahmen, mit denen diese Artikel umgesetzt werden, sind daher nicht nur nach den Bestimmungen dieser Richtlinie, sondern auch nach den einschlägigen Bestimmungen des Primärrechts zu beurteilen.

    Die Richtlinie 94/62 bezweckt nämlich nach ihrem Art. 1 Abs. 1, die Vorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Verpackungs- und der Verpackungsabfallwirtschaft zu harmonisieren, um einerseits Auswirkungen dieser Abfälle in allen Mitgliedstaaten sowie in dritten Ländern auf die Umwelt zu vermeiden bzw. diese Auswirkungen zu verringern und so ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und andererseits das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und zu verhindern, dass es in der Union zu Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen und ‑beschränkungen kommt.

    Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 94/62 bestimmt, dass die Rücknahme- und/oder Sammelsysteme sowie die Wiederverwendungs- oder Verwertungssysteme auch für Importprodukte gelten, die dabei keine Benachteiligung erfahren dürfen, auch nicht bei den Modalitäten und etwaigen Gebühren für den Zugang zu den Systemen, die so beschaffen sein müssen, dass „gemäß dem Vertrag“ keine Handelshemmnisse oder Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Art. 7 der Richtlinie 94/62 nimmt somit keine abschließende Harmonisierung vor, sondern verweist auf die einschlägigen Bestimmungen des Vertrags.

    Art. 15 der Richtlinie 94/62 nimmt ebenfalls keine Harmonisierung vor, sondern ermächtigt den Rat, marktwirtschaftliche Instrumente zur Erreichung der Ziele dieser Richtlinie einzusetzen, oder, wenn dieser nicht tätig wird, die Mitgliedstaaten, die dabei „unter Einhaltung der sich aus dem Vertrag ergebenden Verpflichtungen“ tätig werden. Somit verlangt auch diese Bestimmung die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags.

    (vgl. Rn. 40-43, 45-48)

  2.  Eine finanzielle Belastung stellt eine inländische Abgabe im Sinne von Art. 110 AEUV dar, wenn sie zu einem allgemeinen inländischen Abgabensystem gehört, das Warengruppen systematisch nach objektiven Kriterien unabhängig vom Ursprung oder der Bestimmung der Waren erfasst.

    Bei einer Regelung, die eine Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen in Höhe von 51 Eurocent pro Liter verpackter Ware vorsieht, aber die zu einem wirksamen Rücknahmesystem gehörenden Getränkeverpackungen von dieser Verbrauchsteuer ausnimmt, ist die Verbrauchsteuer zum einen eine finanzielle Belastung, die zu einem allgemeinen inländischen Abgabensystem gehört und eine Warengruppe, nämlich Getränkeverpackungen, systematisch erfasst. Insoweit wurde bereits entschieden, dass zur Beseitigung bestimmte Abfälle als Waren im Sinne von Art. 110 AEUV anzusehen sind. Bei einer Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen ist daher anzunehmen, dass sie auf Waren im Sinne dieser Bestimmung erhoben wird.

    Zum anderen erfasst die Verbrauchsteuer die Getränkeverpackungen nach objektiven Kriterien unabhängig von ihrem Ursprung oder ihrer Bestimmung. Sie wird nämlich sowohl auf Getränkeverpackungen inländischen Ursprungs als auch auf eingeführte Getränkeverpackungen erhoben, wenn die Verpackungen nicht zu einem wirksamen Rücknahmesystem gehören.

    Folglich stellt eine solche Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen eine inländische Abgabe im Sinne von Art. 110 AEUV dar, die nach Art. 110 AEUV und nicht nach Art. 34 AEUV zu beurteilen ist.

    (vgl. Rn. 51-55)

  3.  Art. 110 AEUV und die Art. 1 Abs. 1, 7 und 15 der Richtlinie 94/62 über Verpackungen und Verpackungsabfälle sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die eine Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen, aber eine Befreiung für den Fall vorsieht, dass diese Verpackungen zu einem wirksamen Rücknahmesystem gehören.

    Etwaige Schwierigkeiten kleiner Versandhändler, sich einem wirksamen Rücknahmesystem anzuschließen oder ein solches System zu schaffen, belegen jedoch keine Ungleichbehandlung von Getränkeverpackungen aus anderen Mitgliedstaaten und ähnlichen nationalen Waren im Sinne von Art. 110 AEUV. Aus solchen Schwierigkeiten lässt sich nämlich nicht ableiten, dass Getränkeverpackungen aus anderen Mitgliedstaaten weniger für eine Befreiung wegen der Zugehörigkeit zu einem solchen System in Frage kommen und daher höher besteuert werden als ähnliche nationale Waren.

    Da zudem Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 94/62 bestimmt, dass die Systeme für die Rücknahme, Sammlung, Wiederverwendung oder Verwertung von gebrauchten Verpackungen und/oder Verpackungsabfällen auch für Importprodukte gelten müssen, die dabei keine Benachteiligung erfahren dürfen, und dass diese Systeme so beschaffen sein müssen, dass gemäß dem Vertrag keine Handelshemmnisse oder Wettbewerbsverzerrungen entstehen, betrifft er die Funktionsweise solcher Systeme und nicht die einer Regelung über die Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen.

    Schließlich kann eine Regelung, die eine Verbrauchsteuer auf bestimmte Getränkeverpackungen vorsieht, als von einem Mitgliedstaat erlassene Maßnahme angesehen werden, die der Verwirklichung der Ziele der Richtlinie 94/62 im Sinne ihres Art. 15 dienen soll. Da eine solche Regelung nämlich das Verursacherprinzip umsetzt, weil die Verbrauchsteuer von den Wirtschaftsteilnehmern zu entrichten ist, die sich keinem Rücknahmesystem für Getränkeverpackungen anschließen, hält sie die Wirtschaftsteilnehmer dazu an, sich einem Rücknahmesystem für Getränkeverpackungen anzuschließen oder ihr eigenes Rücknahmesystem zu schaffen, um der Entrichtung dieser Verbrauchsteuer zu entgehen.

    (vgl. Rn. 63, 69, 70, 73, 74, 76, Tenor 1)

  4.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 86-92)

  5.  Art. 37 AEUV verlangt nicht die völlige Abschaffung staatlicher Handelsmonopole, sondern schreibt vor, sie derart umzuformen, dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist.

    Art. 37 AEUV verlangt somit, dass die Organisation und die Funktionsweise des Monopols so umgeformt wird, dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist, so dass der Handel mit Waren aus anderen Mitgliedstaaten gegenüber dem mit einheimischen Waren weder rechtlich noch tatsächlich benachteiligt und der Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten nicht verfälscht wird.

    (vgl. Rn. 94, 95)

  6.  Die Art. 34 AEUV und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der ein Verkäufer, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, für die Einfuhr alkoholischer Getränke mit dem Ziel ihres Einzelhandelsverkaufs an im ersten Mitgliedstaat ansässige Verbraucher eine Einzelhandelserlaubnis besitzen muss, wenn er die Getränke selbst befördert oder damit einen Dritten beauftragt, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels, hier des Schutzes der öffentlichen Gesundheit und Ordnung, zu gewährleisten, dieses Ziel nicht durch weniger restriktive Maßnahmen mindestens ebenso wirksam erreicht werden könnte und diese Regelung weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

    (vgl. Rn. 129, Tenor 2)

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