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Document 62014CJ0160

Ferreira da Silva e Brito u.a.

Rechtssache C‑160/14

João Filipe Ferreira da Silva e Brito u. a.

gegen

Estado português

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht von den Varas Cíveis de Lisboa)

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen — Begriff des Betriebsübergangs — Pflicht, ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu stellen — Behaupteter Verstoß gegen das Unionsrecht durch ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können — Nationale Rechtsvorschriften, die den Anspruch auf Ersatz des Schadens, der durch einen solchen Verstoß entstanden ist, davon abhängig machen, dass die Entscheidung, die den Schaden verursacht hat, zuvor aufgehoben wurde“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. September 2015

  1. Sozialpolitik — Rechtsangleichung — Übergang von Unternehmen — Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer — Richtlinie 2001/23 — Anwendungsbereich — Übergang — Begriff — Kriterien

    (Richtlinie 2001/23 des Rates, Art. 1 Abs. 1)

  2. Sozialpolitik — Rechtsangleichung — Übergang von Unternehmen — Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer — Richtlinie 2001/23 — Anwendungsbereich — Betriebsübergang — Begriff — Auflösung eines Unternehmens durch seinen Mehrheitsaktionär, dann Eintritt des Mehrheitsaktionärs an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft — Einbeziehung — Voraussetzungen — Keine Beibehaltung der eigenständigen Organisationsstruktur der aufgelösten Gesellschaft — Keine Auswirkung

    (Richtlinie 2001/23 des Rates, Art. 1 Abs. 1)

  3. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen — Anrufung des Gerichtshofs — Auslegungsfragen — Vorlagepflicht — Umfang — Schwierigkeiten bei der Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne der Richtlinie 2001/23, die zum Erlass gegensätzlicher Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen auf Unionsebene führen — Einbeziehung

    (Art. 267 Abs. 3 AEUV; Richtlinie 2001/23 des Rates, Art. 1 Abs. 1)

  4. Recht der Europäischen Union — Dem Einzelnen verliehene Rechte — Verletzung durch einen Mitgliedstaat — Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens — Voraussetzungen — Nationale Regelung, die den Schadensersatzanspruch auf die vorherige Aufhebung der schädigenden Entscheidung stützt, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist — Unzulässigkeit

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 24-27)

  2.  Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Betriebsübergang“ einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein auf dem Charterflugmarkt tätiges Unternehmen durch seinen Mehrheitsaktionär, der ebenfalls ein im Luftverkehrssektor tätiges Luftfahrtunternehmen ist, aufgelöst wird und im Anschluss daran der Mehrheitsaktionär an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft tritt und in die Mietverträge über Flugzeuge und die bestehenden Charterflugverträge eintritt sowie zuvor vom aufgelösten Unternehmen ausgeübte Tätigkeiten wahrnimmt, einige der bis dahin an dieses Unternehmen abgestellten Arbeitnehmer reintegriert und für Tätigkeiten einsetzt, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, und kleinere Ausrüstungsgegenstände dieses Unternehmens übernimmt.

    Für die Anwendung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 ist nicht relevant, dass die Einheit, von der Material und ein Teil des Personals übernommen wurden, ohne Beibehaltung ihrer eigenständigen Organisationsstruktur in die Struktur von TAP eingegliedert wurde, da eine Verbindung zwischen dem auf TAP übergegangenen Material und Personal einerseits und der Fortführung der zuvor von der aufgelösten Gesellschaft ausgeübten Tätigkeiten andererseits besteht. Nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren stellt nämlich das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität des übertragenen Unternehmens dar. So erlaubt es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.

    (vgl. Rn. 32-35 und Tenor 1)

  3.  Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, unter Umständen, die sowohl durch gegensätzliche Entscheidungen der Vorinstanzen in Bezug auf die Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen als auch durch immer wieder auftretende Schwierigkeiten bei seiner Auslegung in den verschiedenen Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, verpflichtet ist, den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Begriffs zu ersuchen.

    Auch wenn das Verfahren nach Art. 267 AEUV ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen, so ist doch ein einzelstaatliches Gericht, sofern gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts stellt, es sei denn, es hat festgestellt, dass die aufgeworfene Frage nicht relevant ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits vom Gerichtshof ausgelegt wurde oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt. Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist danach unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen.

    (vgl. Rn. 37-39, 45 und Tenor 2)

  4.  Das Unionsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten Grundsätze im Bereich der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, begangen hat, sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils dieses Gerichts verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist.

    In Anbetracht der entscheidenden Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, wäre die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen dann keine Entschädigung erlangen könnte, wenn seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verletzt werden, der einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist. Sind die Voraussetzungen für die Haftung des Staates erfüllt, was festzustellen Sache der nationalen Gerichte ist, hat der Staat die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Rechts zu beheben, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen weder weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), noch so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Nationale Rechtsvorschriften, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist, können die Erlangung von Schadensersatz wegen Verletzung des in Rede stehenden Unionsrechts aber übermäßig erschweren.

    Ein beträchtliches Hindernis – wie dasjenige, das sich aus der nationalen Regelung ergibt – für die wirksame Anwendung des Unionsrechts und insbesondere eines so tragenden Grundsatzes wie dem der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Unionsrecht, der dem System der Verträge innewohnt, auf denen die Union beruht, kann darüber hinaus weder durch den Grundsatz der Rechtskraft noch durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt sein.

    (vgl. Rn. 47, 50, 51, 58-60 und Tenor 3)

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Rechtssache C‑160/14

João Filipe Ferreira da Silva e Brito u. a.

gegen

Estado português

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht von den Varas Cíveis de Lisboa)

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen — Begriff des Betriebsübergangs — Pflicht, ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu stellen — Behaupteter Verstoß gegen das Unionsrecht durch ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können — Nationale Rechtsvorschriften, die den Anspruch auf Ersatz des Schadens, der durch einen solchen Verstoß entstanden ist, davon abhängig machen, dass die Entscheidung, die den Schaden verursacht hat, zuvor aufgehoben wurde“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. September 2015

  1. Sozialpolitik – Rechtsangleichung – Übergang von Unternehmen – Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer – Richtlinie 2001/23 – Anwendungsbereich – Übergang – Begriff – Kriterien

    (Richtlinie 2001/23 des Rates, Art. 1 Abs. 1)

  2. Sozialpolitik – Rechtsangleichung – Übergang von Unternehmen – Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer – Richtlinie 2001/23 – Anwendungsbereich – Betriebsübergang – Begriff – Auflösung eines Unternehmens durch seinen Mehrheitsaktionär, dann Eintritt des Mehrheitsaktionärs an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft – Einbeziehung – Voraussetzungen – Keine Beibehaltung der eigenständigen Organisationsstruktur der aufgelösten Gesellschaft – Keine Auswirkung

    (Richtlinie 2001/23 des Rates, Art. 1 Abs. 1)

  3. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Anrufung des Gerichtshofs – Auslegungsfragen – Vorlagepflicht – Umfang – Schwierigkeiten bei der Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne der Richtlinie 2001/23, die zum Erlass gegensätzlicher Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen auf Unionsebene führen – Einbeziehung

    (Art. 267 Abs. 3 AEUV; Richtlinie 2001/23 des Rates, Art. 1 Abs. 1)

  4. Recht der Europäischen Union – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch einen Mitgliedstaat – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens – Voraussetzungen – Nationale Regelung, die den Schadensersatzanspruch auf die vorherige Aufhebung der schädigenden Entscheidung stützt, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist – Unzulässigkeit

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 24-27)

  2.  Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Betriebsübergang“ einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein auf dem Charterflugmarkt tätiges Unternehmen durch seinen Mehrheitsaktionär, der ebenfalls ein im Luftverkehrssektor tätiges Luftfahrtunternehmen ist, aufgelöst wird und im Anschluss daran der Mehrheitsaktionär an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft tritt und in die Mietverträge über Flugzeuge und die bestehenden Charterflugverträge eintritt sowie zuvor vom aufgelösten Unternehmen ausgeübte Tätigkeiten wahrnimmt, einige der bis dahin an dieses Unternehmen abgestellten Arbeitnehmer reintegriert und für Tätigkeiten einsetzt, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, und kleinere Ausrüstungsgegenstände dieses Unternehmens übernimmt.

    Für die Anwendung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 ist nicht relevant, dass die Einheit, von der Material und ein Teil des Personals übernommen wurden, ohne Beibehaltung ihrer eigenständigen Organisationsstruktur in die Struktur von TAP eingegliedert wurde, da eine Verbindung zwischen dem auf TAP übergegangenen Material und Personal einerseits und der Fortführung der zuvor von der aufgelösten Gesellschaft ausgeübten Tätigkeiten andererseits besteht. Nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren stellt nämlich das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität des übertragenen Unternehmens dar. So erlaubt es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.

    (vgl. Rn. 32-35 und Tenor 1)

  3.  Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, unter Umständen, die sowohl durch gegensätzliche Entscheidungen der Vorinstanzen in Bezug auf die Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen als auch durch immer wieder auftretende Schwierigkeiten bei seiner Auslegung in den verschiedenen Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, verpflichtet ist, den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Begriffs zu ersuchen.

    Auch wenn das Verfahren nach Art. 267 AEUV ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen, so ist doch ein einzelstaatliches Gericht, sofern gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts stellt, es sei denn, es hat festgestellt, dass die aufgeworfene Frage nicht relevant ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits vom Gerichtshof ausgelegt wurde oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt. Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist danach unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen.

    (vgl. Rn. 37-39, 45 und Tenor 2)

  4.  Das Unionsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten Grundsätze im Bereich der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, begangen hat, sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils dieses Gerichts verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist.

    In Anbetracht der entscheidenden Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, wäre die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen dann keine Entschädigung erlangen könnte, wenn seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verletzt werden, der einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist. Sind die Voraussetzungen für die Haftung des Staates erfüllt, was festzustellen Sache der nationalen Gerichte ist, hat der Staat die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Rechts zu beheben, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen weder weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), noch so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Nationale Rechtsvorschriften, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist, können die Erlangung von Schadensersatz wegen Verletzung des in Rede stehenden Unionsrechts aber übermäßig erschweren.

    Ein beträchtliches Hindernis – wie dasjenige, das sich aus der nationalen Regelung ergibt – für die wirksame Anwendung des Unionsrechts und insbesondere eines so tragenden Grundsatzes wie dem der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Unionsrecht, der dem System der Verträge innewohnt, auf denen die Union beruht, kann darüber hinaus weder durch den Grundsatz der Rechtskraft noch durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt sein.

    (vgl. Rn. 47, 50, 51, 58-60 und Tenor 3)

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