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Document 62013FJ0096

Pipiliagkas / Kommission

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST

DER EUROPÄISCHEN UNION (Dritte Kammer)

15. April 2015

Nikolaos Pipiliagkas

gegen

Europäische Kommission

„Öffentlicher Dienst — Beamte — Versetzung im dienstlichen Interesse — Art. 26 des Statuts — Verteidigungsrechte“

Gegenstand

:

Klage nach Art. 270 AEUV, der gemäß Art. 106a EA auch für den EAG-Vertrag gilt, u. a. auf Aufhebung der Entscheidung der Anstellungsbehörde der Europäischen Kommission, mit der der Kläger im Wege der Versetzung mit Wirkung zum 1. Januar 2013 zur Direktion „Gemeinsame Ressourcen“ der Generaldirektion (GD) „Mobilität und Verkehr“ in Brüssel (Belgien) umgesetzt wurde

Entscheidung

:

Die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 19. Dezember 2012, mit der Herr Pipiliagkas mit Wirkung zum 1. Januar 2013 zur Direktion „Gemeinsame Ressourcen“ der Generaldirektion „Mobilität und Verkehr“ in Brüssel (Belgien) umgesetzt wurde, wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und wird verurteilt, die Kosten von Herrn Pipiliagkas zu tragen.

Leitsätze

  1. Gerichtliches Verfahren – Prozessleitende Maßnahmen – Antrag auf Entfernung bestimmter Dokumente aus der Akte, der von einem Beamten gestellt wird, der geltend macht, sie seien nicht in seine Personalakte aufgenommen worden – Zurückweisung

    (Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 137 § 2; Beamtenstatut, Art. 26)

  2. Beamte – Personalakte – Schriftstücke, die darin enthalten sein müssen – Entscheidung, die das Dienstverhältnis eines Beamten berührt – Begriff – Mitteilungen von Beamten, die das Verhalten eines anderen Beamten bemängeln, der in der Folge umgesetzt worden ist – Einbeziehung

    (Beamtenstatut, Art. 26 Abs. 1 Buchst. a)

  3. Beamte – Entscheidung, die das Dienstverhältnis eines Beamten berührt – Berücksichtigung von nicht in der Personalakte enthaltenen Angaben – Entscheidender Einfluss – Aufhebung – Voraussetzungen

    (Beamtenstatut, Art. 26 Abs. 2 und Art. 90 Abs. 1)

  4. Beamte – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Verpflichtung, den Betroffenen vor Erlass eines ihn beschwerenden Rechtsakts zu hören – Tragweite

  1.  Art. 26 des Statuts verbietet es dem Organ, einem Beamten Schriftstücke, die in seiner Personalakte enthalten sein müssen, darin aber nicht erwähnt werden, entgegenzuhalten oder gegen ihn zu verwerten, so dass eine auf solche Schriftstücke gestützte Entscheidung der Verwaltung aufgehoben werden kann. Dieser Artikel regelt jedoch in keiner Weise die Zulässigkeit der Schriftstücke im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens.

    Die im Rahmen eines solchen Verfahrens mitgeteilten Schriftstücke nicht zu berücksichtigen, hätte außerdem zur Folge, den Unionsrichter daran zu hindern, die vor ihm geltend gemachten Klagegründe, die sich auf diese Schriftstücke stützen, zu prüfen. Insoweit hätte es keinen Sinn, von der Erörterung Schriftstücke, die der Prüfung eines Klagegrundes gedient haben, nach der Erörterung, die ihnen gerade gewidmet war, um über diesen Klagegrund zu entscheiden, auszuschließen. Im Übrigen stünde diese Vorgehensweise im Widerspruch zu Art. 137 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts der Europäischen Union, wonach die Kanzlei des Gerichts für den öffentlichen Dienst im Fall eines Rechtsmittels der Kanzlei des Gerichts der Europäischen Union die erstinstanzlichen Akten übermitteln muss.

    (vgl. Rn. 26 und 27)

    Verweisung auf:

    Gericht erster Instanz: Urteile Rozand-Lambiotte/Kommission, T‑96/95, EU:T:1997:25, Rn. 42, und de Brito Sequeira Carvalho/Kommission und Kommission/de Brito Sequeira Carvalho, T‑40/07 P und T‑62/07 P, EU:T:2009:382, Rn. 99

  2.  Art. 26 Abs. 1 Buchst. a des Statuts verpflichtet die Verwaltung an sich nicht, jedes beliebige Dokument in Bezug auf einen Beamten in die Personalakte aufzunehmen. So wird darin unterschieden zwischen zum einen den „Schriftstücken“, die in der Personalakte nur dann enthalten sein müssen, wenn sie das Dienstverhältnis des Beamten betreffen, und den „Beurteilungen“, die dort nur dann abgelegt werden müssen, wenn sie seine Befähigung, seine Leistung oder seine Führung betreffen, und zum anderen jedem anderen Dokument in Bezug auf den betreffenden Beamten.

    Mit der Bezugnahme auf die oben genannten Beurteilungen in Art. 26 Abs. 1 Buchst. a des Statuts sind formelle Dokumente mit einer offiziellen Konnotation gemeint, die die Befähigung, die Leistung oder die Führung der Beamten zum Gegenstand haben. Nichtsdestoweniger müssen in der Personalakte auch die Schriftstücke enthalten sein, die Tatsachen oder tatsächliche Gesichtspunkte festhalten, die das Verhalten des Beamten betreffen und die sodann für den Erlass einer sein Dienstverhältnis und seine Laufbahn berührenden Entscheidung verwendet werden, wie z. B. eine Stellungnahme in Form einer Notiz, die eine Beurteilung seiner Befähigung und seines Verhaltens enthält, oder bereits vorhandene Schriftstücke, die Angaben zu ihm zur Last gelegten Umständen enthalten, oder alle Dokumente, die das Dienstverhältnis des Beamten und seine Laufbahn berühren können. Jedoch verbietet es Art. 26 des Statuts einem Organ keineswegs, eine Untersuchung einzuleiten und zu diesem Zweck eine Akte anzulegen, und die einzigen Schriftstücke bezüglich dieser Untersuchung, die in die Akte des Beamten aufgenommen werden müssen, sind die etwaigen auf der Grundlage dieser Untersuchungsakte getroffenen Sanktionsentscheidungen.

    Zudem können einfache E-Mails grundsätzlich nicht als Beurteilungen im Sinne von Art. 26 Abs. 1 Buchst. a des Statuts angesehen werden. Ebenso wenig kann eine Notiz, deren Urheber keine Verwaltungsbehörde ist, als eine Beurteilung im Sinne von Art. 26 Abs. 1 Buchst. a des Statuts angesehen werden.

    Ein Schriftstück, das das Dienstverhältnis eines Beamten betrifft und eine entscheidende Auswirkung auf die Entscheidung haben kann, muss dem betroffenen Beamten grundsätzlich mitgeteilt und dann in seiner Personalakte abgeheftet worden sein. Was insbesondere eine Entscheidung über die Umsetzung eines Beamten betrifft, ist es trotz der Tatsache, dass es sich nicht um eine die Befähigung, die Leistung oder das Verhalten des betreffenden Beamten betreffende Beurteilung im Sinne von Art. 26 des Statuts handelt, von vornherein geboten, E‑Mails oder eine von Beamten und Bediensteten unterzeichnete Notiz, mit der das Verhalten des fraglichen Beamten bemängelt wird, mitzuteilen und in der Personalakte abzuheften, da sie einen entscheidenden Einfluss auf die Entscheidung, ihn umzusetzen oder nicht umzusetzen, haben können.

    (vgl. Rn. 42, 43, 46 und 48)

    Verweisung auf:

    Gerichtshof: Urteil Ojha/Kommission, C‑294/95 P, EU:C:1996:434, Rn. 67

    Gericht erster Instanz: Urteile Rozand-Lambiotte/Kommission, EU:T:1997:25, Rn. 42; Apostolidis/Gerichtshof, T‑86/97, EU:T:1998:71, Rn. 36; Ojha/Kommission, T‑77/99, EU:T:2001:71, Rn. 57; Recalde Langarica/Kommission, T‑344/99, EU:T:2001:237, Rn. 60; Cwik/Kommission, T‑155/03, T‑157/03 und T‑331/03, EU:T:2005:447, Rn. 52, und de Brito Sequeira Carvalho/Kommission und Kommission/de Brito Sequeira Carvalho, EU:T:2009:382, Rn. 96

    Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteile Bianchi/ETF, F‑38/06, EU:F:2007:117, Rn. 45 und 48, und Talvela/Kommission, F‑43/06, EU:F:2007:162, Rn. 59 bis 62

  3.  Die bloße Tatsache, dass bestimmte Schriftstücke nicht in die Personalakte eines Beamten aufgenommen worden sind, kann nicht die Aufhebung einer beschwerenden Entscheidung rechtfertigen, wenn sie dem Betroffenen tatsächlich zur Kenntnis gebracht worden sind.

    Aus Art. 26 Abs. 2 des Statuts geht nämlich hervor, dass einem Beamten gegenüber nur solche sein Dienstverhältnis betreffende Schriftstücke nicht verwertet werden dürfen, die ihm vorher nicht mitgeteilt worden sind. Diese Unverwertbarkeit bezieht sich nicht auf Schriftstücke, die dem Beamten zwar zur Kenntnis gebracht, jedoch noch nicht in seine Personalakte aufgenommen worden sind. Falls das Organ solche Schriftstücke nicht in die Personalakte des Beamten aufnimmt, steht es dem Beamten immer noch frei, einen dahin gehenden Antrag gemäß Art. 90 Abs. 1 des Statuts einzureichen und im Fall der Ablehnung seines Antrags eine Verwaltungsbeschwerde einzulegen. Dem Organ darf es jedoch keinesfalls nur deshalb verwehrt sein, im dienstlichen Interesse eine Entscheidung aufgrund von Schriftstücken zu treffen, die dem Beamten vorher mitgeteilt worden sind, weil diese Schriftstücke nicht in seine Personalakte aufgenommen worden sind.

    (vgl. Rn. 49)

    Verweisung auf:

    Gerichtshof: Urteil Ojha/Kommission, EU:C:1996:434, Rn. 68

    Gericht erster Instanz: Urteil Recalde Langarica/Kommission, EU:T:2001:237, Rn. 60

  4.  Die bloße erwiesene Kenntnis des betreffenden Beamten von den tatsächlichen Gesichtspunkten, die die Grundlage einer ihn beschwerenden Entscheidung bilden, kann nicht als hinreichender Nachweis dafür angesehen werden, dass er die Möglichkeit hatte, seine Interessen vor dem Erlass dieser Entscheidung sachgerecht zu verteidigen. Für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Beamten ist es außerdem erforderlich, dass das Organ – mit gleich welchem Mittel – nachweist, dass es den Beamten zuvor tatsächlich in die Lage versetzt hatte, sich darüber klar zu werden, dass die fraglichen tatsächlichen Gesichtspunkte, obwohl sie nicht in die Personalakte aufgenommen worden sind, geeignet waren, eine ihn beschwerende Entscheidung zu rechtfertigen. Zudem folgt aus dem Grundsatz der Verteidigungsrechte, der in dem Recht auf Anhörung einen Ausdruck findet, dass der Betroffene vor Erlass der für ihn nachteiligen Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zur Richtigkeit und Erheblichkeit der Tatsachen und Umstände, auf deren Grundlage diese Entscheidung gegebenenfalls erlassen wird, sachgerecht zu vertreten. Insoweit muss die Verwaltung, falls ein Vorgesetzter eines Beamten diesen zu einem Gespräch einbestellt, dafür sorgen, dass der betreffende Beamte deutlich auf die beabsichtigte Maßnahme und insbesondere den Gegenstand des Gesprächs hingewiesen wird, damit er sachgerecht Stellung nehmen kann, bevor eine für ihn nachteilige Entscheidung erlassen wird.

    Damit eine solche Verletzung des Rechts auf Anhörung zur Aufhebung einer beschwerenden Entscheidung führen kann, ist es allerdings noch erforderlich, zu prüfen, ob das Verfahren ohne diese Unregelmäßigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Im Rahmen dieser Prüfung sind sämtliche Umstände des Falles und insbesondere die Art der Rügen und der Umfang der Verfahrensunregelmäßigkeiten zu berücksichtigen, die im Vergleich zu den Garantien, in dessen Genuss der Beamte kommen konnte, begangen wurden.

    Wenn die beschwerende Entscheidung auf Rügen beruht, die auf subjektive Werturteile gestützt sind, die ihrer Natur nach geändert werden können, hätte der Beamte, wenn er vor der Entscheidungsfindung angehört worden wäre, insoweit seinen Standpunkt vertreten und so vielleicht eine Änderung der ihm gegenüber vorgenommenen Beurteilungen erreichen können.

    (vgl. Rn. 55, 57, 65 und 66)

    Verweisung auf:

    Gericht erster Instanz: Urteil de Brito Sequeira Carvalho/Kommission und Kommission/de Brito Sequeira Carvalho, EU:T:2009:382, Rn. 94

    Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteile Nastvogel/Rat, F‑4/10, EU:F:2011:134, Rn. 94; Possanzini/Frontex, F‑124/11, EU:F:2013:137, Rn. 60; CH/Parlament, F‑129/12, EU:F:2013:203, Rn. 38; Delcroix/EAD, F‑11/13, EU:F:2014:91, Rn. 35 und 42, und Tzikas/ERA, F‑120/13, EU:F:2014:197, Rn. 55

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