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Document 62013CJ0540

    Parlament / Rat

    Rechtssache C‑540/13

    Europäisches Parlament

    gegen

    Rat der Europäischen Union

    „Nichtigkeitsklage — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Festlegung des Zeitpunkts, ab dem ein früherer Beschluss gilt — Bestimmung der Rechtsgrundlage — Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltender Rechtsrahmen — Übergangsbestimmungen — Abgeleitete Rechtsgrundlage — Anhörung des Parlaments“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 16. April 2015

    1. Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Ermittlung des Streitgegenstands – Kurze Darstellung der Klagegründe – Eindeutige Formulierung der Anträge des Klägers

      (Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 120 Buchst. c)

    2. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Rechtsgrundlage – Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 – Aufhebung von Art. 34 EU – Keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit des Beschlusses 2013/392

      (Art. 34 EU; Beschlüsse des Rates 2008/633, Art. 18 Abs. 2, und 2013/392)

    3. Handlungen der Organe – Verfahren des Zustandekommens – Vorschriften der Verträge – Zwingender Charakter – Möglichkeit für ein Organ zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen – Fehlen

    4. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Auslegung von Art. 18 Abs. 2 dieses Beschlusses – Auslegung in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des EU-Vertrags, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses den Erlass einer solchen Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 gilt, regelten – Verpflichtung für den Rat, das Parlament vor Erlass einer solchen Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 anzuhören – Aufhebung von Art. 39Abs. 1 EU – Keine Auswirkung

      (Art. 34 Abs. 1 EU; Beschlüsse des Rates 2008/633, Art. 18 Abs. 2, und 2013/392)

    5. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Art. 18 Abs. 2 dieses Beschlusses – Vereinbarkeit mit den nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbaren Verfahrensvorschriften – Übergangsbestimmungen – Auslegung

      (Dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag und dem EAG-Vertrag beigefügtes Protokoll Nr. 36, Art. 9; Beschlüsse des Rates 2008/633, Art. 18 Abs. 2, und 2013/392)

    6. Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Wirkungen – Begrenzung durch den Gerichtshof – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Gefahr der Beeinträchtigung des Zugangs zu dem genannten System und Beeinträchtigung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – Aufrechterhaltung der Wirkungen des für nichtig erklärtes Beschlusses bis zum Inkrafttreten des neuen Rechtsakts, der ihn ersetzen soll

      (Art. 264 Abs. 2 AEUV; Beschlüsse des Rates 2008/633 und 2013/392)

    1.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 9)

    2.  Als Rechtsgrundlage, auf der der Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, erlassen wurde, nimmt dieser Beschluss nicht auf Art. 34 EU Bezug, und seine Bezugsvermerke verweisen ausdrücklich auf den AEU-Vertrag sowie auf Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633.

      In Anbetracht des Wortlauts des Beschlusses 2013/392, der grundsätzlich die Rechtsgrundlage, auf die er gestützt ist, anführen muss, damit die Begründungspflicht erfüllt ist, kann daher nicht angenommen werden, dass dieser Beschluss auf Art. 34 EU beruht.

      Vor allem ist die Annahme, dass Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU die einzig mögliche Rechtsgrundlage für den Erlass einer Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 darstelle, selbst wenn sie zutrifft, in diesem Zusammenhang unerheblich, da die ausdrückliche Entscheidung des Rates, im Beschluss 2013/392 nicht diese Bestimmung, sondern den AEU-Vertrag und Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 zu nennen, eindeutig zum Ausdruck bringt, dass der Beschluss 2013/392 auf die zuletzt genannte Bestimmung als solche gestützt ist.

      Daraus folgt, dass die Aufhebung von Art. 34 EU durch den Vertrag von Lissabon dem Beschluss 2013/392 nicht seine Rechtsgrundlage entzieht.

      (vgl. Rn. 18, 19, 21, 22)

    3.  Da die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane in den Verträgen festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen, können allein die Verträge ein Organ in besonderen Fällen dazu ermächtigen, ein von ihnen geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern. Würde einem Organ die Möglichkeit zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen gegeben, sei es im Sinne einer Verschärfung oder einer Erleichterung der Modalitäten des Erlasses eines Rechtsakts, so liefe dies darauf hinaus, ihm eine Rechtsetzungsbefugnis zu verleihen, die über das im Vertrag vorgesehene Maß hinausginge.

      Dieses Ergebnis ist nicht nur auf abgeleitete Rechtsgrundlagen anzuwenden, die den Erlass von Rechtsetzungsakten ermöglichen, sondern auch auf die in einem Rechtsakt abgeleiteten Rechts vorgesehenen Rechtsgrundlagen, die den Erlass von Durchführungsmaßnahmen dieses Rechtsakts ermöglichen und dabei die in den Verträgen vorgesehenen Modalitäten des Erlasses solcher Maßnahmen verschärfen oder erleichtern.

      Auch wenn nämlich die Verträge vorsehen, dass das Parlament und der Rat bestimmte Regeln für die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission festlegen, binden gleichwohl die in den Verträgen vorgesehenen spezifischen Regeln für den Erlass von Durchführungsmaßnahmen die Organe genauso wie diejenigen für den Erlass von Rechtsetzungsakten, so dass ihnen durch abgeleitete Rechtsakte nicht widersprochen werden darf.

      (vgl. Rn. 32-34)

    4.  Da die Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen ist, ist die Rechtmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, anhand der Bestimmungen zu beurteilen, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses den Erlass einer Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 gilt, regelten, d. h. anhand der Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU und 39 Abs. 1 EU.

      Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der Rat, der je nachdem einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit beschließt, nach Anhörung des Parlaments für Zwecke, die mit anderen als den in Art. 34 Abs. 2 Buchst. a und b EU genannten Zielen des Titels VI des EU-Vertrags in Einklang stehen, Beschlüsse fasst und die zur Durchführung dieser Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen trifft.

      In diesem Zusammenhang ist zwar festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 den Rat nicht dazu verpflichtet, das Parlament vor Erlass der in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahme anzuhören.

      Eine Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts ist jedoch möglichst so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Verträge vereinbar ist.

      Da sich zum einen die Verpflichtung zur Auslegung eines abgeleiteten Rechtsakts im Einklang mit dem Primärrecht aus dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ergibt, wonach eine Bestimmung so weit wie möglich in einer ihre Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise auszulegen ist, und zum anderen die Rechtmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 insbesondere anhand des Art. 39 Abs. 1 EU zu beurteilen ist, ist daher die zuerst genannte Bestimmung im Einklang mit der zuletzt genannten Vorschrift auszulegen.

      Folglich ist Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU dahin auszulegen, dass er dem Rat nur nach Anhörung des Parlaments gestattet, einen Rechtsakt zu erlassen, in dem der Zeitpunkt, ab dem dieser Beschluss gilt, festgelegt werden soll.

      Im Übrigen kann die Aufhebung von Art. 39 Abs. 1 EU nach Erlass des Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 die Verpflichtung zur Auslegung dieser Bestimmung im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU nicht beseitigen.

      (vgl. Rn. 35-40, 57)

    5.  Zur Frage der Vereinbarkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten mit den nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbaren Verfahrensvorschriften enthält das Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen Vorschriften speziell zu den rechtlichen Regelungen, die nach Inkrafttreten dieses Vertrags auf die vor diesem Zeitpunkt auf der Grundlage des EU-Vertrags erlassenen Rechtsakte anwendbar sind.

      So sieht Art. 9 dieses Protokolls vor, dass diese Rechtsakte so lange Rechtswirkung behalten, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden.

      Dieser Artikel ist im Licht des ersten Erwägungsgrundes dieses Protokolls auszulegen, wonach zur Regelung des Übergangs von den institutionellen Bestimmungen der Verträge, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbar waren, zu den Bestimmungen dieses Vertrags Übergangsbestimmungen vorgesehen werden müssen.

      Da der institutionelle Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den Vertrag von Lissabon wesentliche Änderungen erfahren hat, ist Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen daher so zu verstehen, dass er insbesondere sicherstellen soll, dass die im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte trotz der Änderung des institutionellen Rahmens dieser Zusammenarbeit weiterhin wirksam angewendet werden können.

      Folgte man einem Argument, wonach es die Aufhebung der besonderen Verfahren zum Erlass von Maßnahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den Vertrag von Lissabon unmöglich mache, solche Maßnahmen unter den Voraussetzungen der im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen allgemeinen Rechtsakte zu erlassen, solange diese Rechtsakte nicht geändert worden seien, um an den Vertrag von Lissabon angepasst zu werden, würde dies nur dazu führen, die wirksame Anwendung dieser Rechtsakte zu erschweren, wenn nicht gar zu verhindern, und dadurch die Verwirklichung des von den Verfassern der Verträge verfolgten Ziels zu gefährden.

      Im Übrigen würde die vom Parlament vorgeschlagene Auslegung von Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, wonach dieser Artikel lediglich bedeute, dass die Rechtsakte im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht automatisch aufgehoben werden, diesem Artikel jede praktische Wirksamkeit nehmen.

      Daher entfaltet eine Bestimmung eines vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ordnungsgemäß auf der Grundlage des EU-Vertrags ergangenen Rechtsakts, die Modalitäten für den Erlass anderer Maßnahmen vorsieht, weiterhin ihre Rechtswirkungen, solange sie nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert worden ist, und ermöglicht den Erlass dieser Maßnahmen in Anwendung des von ihr definierten Verfahrens.

      Daraus, dass Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 möglicherweise im Vergleich zu dem hierfür durch den AEU-Vertrag vorgesehenen Verfahren verschärfte oder erleichterte Modalitäten für den Erlass einer Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 gilt, vorsieht, folgt somit nicht, dass diese Bestimmung eine rechtswidrige abgeleitete Rechtsgrundlage darstellt, deren Anwendung im Wege der Einrede ausgeschlossen werden müsste.

      (vgl. Rn. 41-48)

    6.  Wenn der Gerichtshof eine Handlung für nichtig erklärt, kann er nach Art. 264 Abs. 2 AEUV, falls er dies für notwendig hält, diejenigen ihrer Wirkungen bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind.

      Würde man in dieser Hinsicht den Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, für nichtig erklären, ohne die Fortgeltung seiner Wirkungen vorzusehen, könnte dies den Zugang zu diesem System beeinträchtigen und somit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erschweren.

      Daher sind die Wirkungen des Beschlusses 2013/392 bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsakts, der ihn ersetzen soll, aufrechtzuerhalten.

      (vgl. Rn. 62-64)

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    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Ermittlung des Streitgegenstands – Kurze Darstellung der Klagegründe – Eindeutige Formulierung der Anträge des Klägers

    (Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 120 Buchst. c)

    2. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Rechtsgrundlage – Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 – Aufhebung von Art. 34 EU – Keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit des Beschlusses 2013/392

    (Art. 34 EU; Beschlüsse des Rates 2008/633, Art. 18 Abs. 2, und 2013/392)

    3. Handlungen der Organe – Verfahren des Zustandekommens – Vorschriften der Verträge – Zwingender Charakter – Möglichkeit für ein Organ zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen – Fehlen

    4. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Auslegung von Art. 18 Abs. 2 dieses Beschlusses – Auslegung in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des EU-Vertrags, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses den Erlass einer solchen Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 gilt, regelten – Verpflichtung für den Rat, das Parlament vor Erlass einer solchen Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 anzuhören – Aufhebung von Art. 39Abs. 1 EU – Keine Auswirkung

    (Art. 34 Abs. 1 EU; Beschlüsse des Rates 2008/633, Art. 18 Abs. 2, und 2013/392)

    5. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Art. 18 Abs. 2 dieses Beschlusses – Vereinbarkeit mit den nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbaren Verfahrensvorschriften – Übergangsbestimmungen – Auslegung

    (Dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag und dem EAG-Vertrag beigefügtes Protokoll Nr. 36, Art. 9; Beschlüsse des Rates 2008/633, Art. 18 Abs. 2, und 2013/392)

    6. Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Wirkungen – Begrenzung durch den Gerichtshof – Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt – Gefahr der Beeinträchtigung des Zugangs zu dem genannten System und Beeinträchtigung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – Aufrechterhaltung der Wirkungen des für nichtig erklärtes Beschlusses bis zum Inkrafttreten des neuen Rechtsakts, der ihn ersetzen soll

    (Art. 264 Abs. 2 AEUV; Beschlüsse des Rates 2008/633 und 2013/392)

    Leitsätze

    1. Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 9)

    2. Als Rechtsgrundlage, auf der der Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, erlassen wurde, nimmt dieser Beschluss nicht auf Art. 34 EU Bezug, und seine Bezugsvermerke verweisen ausdrücklich auf den AEU-Vertrag sowie auf Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633.

    In Anbetracht des Wortlauts des Beschlusses 2013/392, der grundsätzlich die Rechtsgrundlage, auf die er gestützt ist, anführen muss, damit die Begründungspflicht erfüllt ist, kann daher nicht angenommen werden, dass dieser Beschluss auf Art. 34 EU beruht.

    Vor allem ist die Annahme, dass Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU die einzig mögliche Rechtsgrundlage für den Erlass einer Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 darstelle, selbst wenn sie zutrifft, in diesem Zusammenhang unerheblich, da die ausdrückliche Entscheidung des Rates, im Beschluss 2013/392 nicht diese Bestimmung, sondern den AEU-Vertrag und Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 zu nennen, eindeutig zum Ausdruck bringt, dass der Beschluss 2013/392 auf die zuletzt genannte Bestimmung als solche gestützt ist.

    Daraus folgt, dass die Aufhebung von Art. 34 EU durch den Vertrag von Lissabon dem Beschluss 2013/392 nicht seine Rechtsgrundlage entzieht.

    (vgl. Rn. 18, 19, 21, 22)

    3. Da die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane in den Verträgen festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen, können allein die Verträge ein Organ in besonderen Fällen dazu ermächtigen, ein von ihnen geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern. Würde einem Organ die Möglichkeit zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen gegeben, sei es im Sinne einer Verschärfung oder einer Erleichterung der Modalitäten des Erlasses eines Rechtsakts, so liefe dies darauf hinaus, ihm eine Rechtsetzungsbefugnis zu verleihen, die über das im Vertrag vorgesehene Maß hinausginge.

    Dieses Ergebnis ist nicht nur auf abgeleitete Rechtsgrundlagen anzuwenden, die den Erlass von Rechtsetzungsakten ermöglichen, sondern auch auf die in einem Rechtsakt abgeleiteten Rechts vorgesehenen Rechtsgrundlagen, die den Erlass von Durchführungsmaßnahmen dieses Rechtsakts ermöglichen und dabei die in den Verträgen vorgesehenen Modalitäten des Erlasses solcher Maßnahmen verschärfen oder erleichtern.

    Auch wenn nämlich die Verträge vorsehen, dass das Parlament und der Rat bestimmte Regeln für die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission festlegen, binden gleichwohl die in den Verträgen vorgesehenen spezifischen Regeln für den Erlass von Durchführungsmaßnahmen die Organe genauso wie diejenigen für den Erlass von Rechtsetzungsakten, so dass ihnen durch abgeleitete Rechtsakte nicht widersprochen werden darf.

    (vgl. Rn. 32-34)

    4. Da die Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen ist, ist die Rechtmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, anhand der Bestimmungen zu beurteilen, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses den Erlass einer Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 gilt, regelten, d. h. anhand der Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU und 39 Abs. 1 EU.

    Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der Rat, der je nachdem einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit beschließt, nach Anhörung des Parlaments für Zwecke, die mit anderen als den in Art. 34 Abs. 2 Buchst. a und b EU genannten Zielen des Titels VI des EU-Vertrags in Einklang stehen, Beschlüsse fasst und die zur Durchführung dieser Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen trifft.

    In diesem Zusammenhang ist zwar festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 den Rat nicht dazu verpflichtet, das Parlament vor Erlass der in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahme anzuhören.

    Eine Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts ist jedoch möglichst so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Verträge vereinbar ist.

    Da sich zum einen die Verpflichtung zur Auslegung eines abgeleiteten Rechtsakts im Einklang mit dem Primärrecht aus dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ergibt, wonach eine Bestimmung so weit wie möglich in einer ihre Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise auszulegen ist, und zum anderen die Rechtmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 insbesondere anhand des Art. 39 Abs. 1 EU zu beurteilen ist, ist daher die zuerst genannte Bestimmung im Einklang mit der zuletzt genannten Vorschrift auszulegen.

    Folglich ist Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU dahin auszulegen, dass er dem Rat nur nach Anhörung des Parlaments gestattet, einen Rechtsakt zu erlassen, in dem der Zeitpunkt, ab dem dieser Beschluss gilt, festgelegt werden soll.

    Im Übrigen kann die Aufhebung von Art. 39 Abs. 1 EU nach Erlass des Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 die Verpflichtung zur Auslegung dieser Bestimmung im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU nicht beseitigen.

    (vgl. Rn. 35-40, 57)

    5. Zur Frage der Vereinbarkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten mit den nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbaren Verfahrensvorschriften enthält das Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen Vorschriften speziell zu den rechtlichen Regelungen, die nach Inkrafttreten dieses Vertrags auf die vor diesem Zeitpunkt auf der Grundlage des EU-Vertrags erlassenen Rechtsakte anwendbar sind.

    So sieht Art. 9 dieses Protokolls vor, dass diese Rechtsakte so lange Rechtswirkung behalten, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden.

    Dieser Artikel ist im Licht des ersten Erwägungsgrundes dieses Protokolls auszulegen, wonach zur Regelung des Übergangs von den institutionellen Bestimmungen der Verträge, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbar waren, zu den Bestimmungen dieses Vertrags Übergangsbestimmungen vorgesehen werden müssen.

    Da der institutionelle Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den Vertrag von Lissabon wesentliche Änderungen erfahren hat, ist Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen daher so zu verstehen, dass er insbesondere sicherstellen soll, dass die im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte trotz der Änderung des institutionellen Rahmens dieser Zusammenarbeit weiterhin wirksam angewendet werden können.

    Folgte man einem Argument, wonach es die Aufhebung der besonderen Verfahren zum Erlass von Maßnahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den Vertrag von Lissabon unmöglich mache, solche Maßnahmen unter den Voraussetzungen der im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen allgemeinen Rechtsakte zu erlassen, solange diese Rechtsakte nicht geändert worden seien, um an den Vertrag von Lissabon angepasst zu werden, würde dies nur dazu führen, die wirksame Anwendung dieser Rechtsakte zu erschweren, wenn nicht gar zu verhindern, und dadurch die Verwirklichung des von den Verfassern der Verträge verfolgten Ziels zu gefährden.

    Im Übrigen würde die vom Parlament vorgeschlagene Auslegung von Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, wonach dieser Artikel lediglich bedeute, dass die Rechtsakte im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht automatisch aufgehoben werden, diesem Artikel jede praktische Wirksamkeit nehmen.

    Daher entfaltet eine Bestimmung eines vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ordnungsgemäß auf der Grundlage des EU-Vertrags ergangenen Rechtsakts, die Modalitäten für den Erlass anderer Maßnahmen vorsieht, weiterhin ihre Rechtswirkungen, solange sie nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert worden ist, und ermöglicht den Erlass dieser Maßnahmen in Anwendung des von ihr definierten Verfahrens.

    Daraus, dass Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 möglicherweise im Vergleich zu dem hierfür durch den AEU-Vertrag vorgesehenen Verfahren verschärfte oder erleichterte Modalitäten für den Erlass einer Maßnahme wie des Beschlusses 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 gilt, vorsieht, folgt somit nicht, dass diese Bestimmung eine rechtswidrige abgeleitete Rechtsgrundlage darstellt, deren Anwendung im Wege der Einrede ausgeschlossen werden müsste.

    (vgl. Rn. 41-48)

    6. Wenn der Gerichtshof eine Handlung für nichtig erklärt, kann er nach Art. 264 Abs. 2 AEUV, falls er dies für notwendig hält, diejenigen ihrer Wirkungen bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind.

    Würde man in dieser Hinsicht den Beschluss 2013/392 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, für nichtig erklären, ohne die Fortgeltung seiner Wirkungen vorzusehen, könnte dies den Zugang zu diesem System beeinträchtigen und somit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erschweren.

    Daher sind die Wirkungen des Beschlusses 2013/392 bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsakts, der ihn ersetzen soll, aufrechtzuerhalten.

    (vgl. Rn. 62-64)

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