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Document 62013CJ0333

    Dano

    Rechtssache C‑333/13

    Elisabeta Dano

    und

    Florin Dano

    gegen

    Jobcenter Leipzig

    (Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Leipzig)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Freizügigkeit — Unionsbürgerschaft — Gleichbehandlung — Nicht erwerbstätige Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten — Ausschluss dieser Personen von besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Richtlinie 2004/38/EG — Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate — Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 24 — Voraussetzung ausreichender Existenzmittel“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 11. November 2014

    1. Soziale Sicherheit — Wandererwerbstätige — Gleichbehandlung im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 — Geltungsbereich — Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen — Einbeziehung

      (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 3, Art. 4 und Art. 70; Verordnung Nr. 1247/92 des Rates, Erwägungsgründe 3 und 7)

    2. Soziale Sicherheit — Wandererwerbstätige — Richtlinie 2004/38 — Sozialhilfe — Begriff — Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen gemäß Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 — Einbeziehung

      (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 70 Abs. 2; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 24 Abs. 2)

    3. Unionsbürgerschaft — Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten — Richtlinie 2004/38 — Grundsatz der Gleichbehandlung — Pflicht des Aufnahmemitgliedstaats, nicht erwerbstätigen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten einen Anspruch auf Sozialleistungen einzuräumen — Voraussetzungen — Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, der die Voraussetzungen der Richtlinie erfüllt — Voraussetzung, dass der nicht erwerbstätige Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt

      (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 und 70; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, zehnter Erwägungsgrund, Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 24 Abs. 1)

    4. Vorabentscheidungsverfahren — Zuständigkeit des Gerichtshofs — Grenzen — Ersuchen um Auslegung der Charta der Grundrechte der Union — Gegenstand des nationalen Rechtsstreits, der keinen Anknüpfungspunkt zum Unionsrecht aufweist — Unzuständigkeit des Gerichtshofs

      (Art. 6 Abs. 1 EUV; Art. 267 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Abs. 1; Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 70; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates)

    1.  Die Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ihr Art. 4 für die „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 dieser Verordnung gilt.

      Aus dem Wortlaut des Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 geht nämlich zum einen klar hervor, dass diese Verordnung für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen gilt. Zum anderen werden zwar durch Art. 70 Abs. 3 der Verordnung als Ausnahmevorschrift einige ihrer Bestimmungen für nicht auf diese Leistungen anwendbar erklärt, doch gehört Art. 4 nicht zu diesen Bestimmungen. Schließlich ist nach den Erwägungsgründen 3 und 7 der Verordnung Nr. 1247/92 die besondere Regelung, die mit dieser Verordnung in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügt worden ist, durch die Nichtexportierbarkeit besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen als Gegenstück zu einer Gleichbehandlung im Wohnsitzstaat gekennzeichnet.

      (vgl. Rn. 49, 51-55, Tenor 1)

    2.  Die von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung erfassten „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ fallen unter den Begriff der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieser Begriff bezieht sich nämlich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann.

      (vgl. Rn. 63)

    3.  Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht.

      Nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genießt nämlich jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Daraus folgt, dass ein Unionsbürger eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu den genannten Sozialleistungen nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt. Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem in ihrem zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern.

      Daher ist bei nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die sich länger als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, zu prüfen, ob ihr Aufenthalt die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfüllt. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass der nicht erwerbstätige Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen muss. Damit sollen nicht erwerbstätige Unionsbürger daran gehindert werden, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen. Ein Mitgliedstaat muss gemäß dieser Bestimmung die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen. Insoweit ist eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen, ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen.

      Das Gleiche gilt in Bezug auf die Auslegung des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004. Die „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 der Verordnung werden nämlich nach Art. 70 Abs. 4 ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt.

      (vgl. Rn. 68, 69, 74, 76, 78, 80, 83, 84, Tenor 2)

    4.  Art. 70 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung, der den Begriff „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ definiert, hat nicht zum Gegenstand, die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf diese Leistungen festzulegen. Es ist somit Sache des Gesetzgebers jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen. Da sich diese Voraussetzungen somit weder aus der Verordnung Nr. 883/2004 noch aus der Richtlinie 2004/38 oder anderen Sekundärrechtsakten der Union ergeben und die Mitgliedstaaten für die Regelung der Voraussetzungen, unter denen solche Leistungen gewährt werden, zuständig sind, fällt es auch in ihre Zuständigkeit, den Umfang der mit derartigen Leistungen sichergestellten sozialen Absicherung zu definieren.

      Die Mitgliedstaaten führen folglich nicht das Recht der Union durch, wenn sie die Voraussetzungen und den Umfang der Gewährung besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen festlegen.

      Daher ist der Gerichtshof nicht zuständig für die Beantwortung der Frage, ob die Art. 1, 20 und 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen sind, dass sie die Mitgliedstaaten verpflichten, Unionsbürgern beitragsunabhängige Geldleistungen der Grundsicherung zu gewähren, die geeignet sind, einen dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen, oder ob sich die Mitgliedstaaten darauf beschränken dürfen, die zur Rückkehr in den Heimatstaat erforderlichen Mittel bereitzustellen.

      (vgl. Rn. 87-92)

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