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Document 62012CJ0370

Leitsätze des Urteils

Rechtssache C-370/12

Thomas Pringle

gegen

Government of Ireland u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court)

„Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Beschluss 2011/199/EU — Änderung von Art. 136 AEUV — Gültigkeit — Art. 48 Abs. 6 EUV — Vereinfachtes Änderungsverfahren — ESM-Vertrag — Wirtschafts- und Währungspolitik — Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Plenum) vom 27. November 2012

  1. Vorabentscheidungsverfahren – Gültigkeitsprüfung – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Beschluss des Europäischen Rates, der im Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags ergangen ist – Einbeziehung – Umfang

    (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV und 48 Abs. 6 EUV; Art. 267 AEUV)

  2. Vorabentscheidungsverfahren – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Handlungen mit allgemeiner Geltung – Erfordernis für natürliche oder juristische Personen, eine Einrede der Rechtswidrigkeit zu erheben oder ein Vorabentscheidungsersuchen zur Prüfung der Gültigkeit zu veranlassen – Pflicht der nationalen Gerichte, die nationalen Verfahrensregeln in einer Weise anzuwenden, die die Anfechtung der Rechtmäßigkeit von Unionshandlungen mit allgemeiner Geltung ermöglicht – Grenzen – Frage nach der Gültigkeit eines Beschlusses, der nicht auf der Grundlage von Art. 263 AEUV angefochten wurde, so dass die Klagebefugnis weggefallen ist oder die Fristen für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage abgelaufen sind

    (Art. 263 AEUV und 267 AEUV)

  3. Wirtschafts- und Währungspolitik – Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags – Änderung von Art. 136 AEUV zur Ermöglichung der Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Gültigkeitsprüfung – Änderung, die sich nur auf Bestimmungen des Dritten Teils des AEU-Vertrags erstreckt

    (Art. 4 Abs. 1 EUV, 5 Abs. 2 EUV und 48 Abs. 6 EUV; Art. 2 Abs. 3 AEUV, 5 Abs. 1 AEUV und 136 AEUV; Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates)

  4. Wirtschafts- und Währungspolitik – Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags – Änderung von Art. 136 AEUV zur Ermöglichung der Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Gültigkeitsprüfung – Änderung, die nicht zu einer Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union führt

    (Art. 48 Abs. 6 EUV; Art. 136 AEUV; Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates)

  5. Vorabentscheidungsverfahren – Zulässigkeit – Ersuchen, aus dem die Gründe für die Vorlage an den Gerichtshof nicht hervorgehen – Unzulässigkeit

    (Art. 267 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 23; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 94 Buchst. c)

  6. Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Ausschließliche Zuständigkeit der Union – Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Zulässigkeit

    (Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV, 123 Abs. 1 AEUV und 127 AEUV)

  7. Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Ausschließliche Zuständigkeit der Union – Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Beeinträchtigung der gemeinsamen Regeln im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik der Union – Fehlen

    (Art. 4 Abs. 1 EUV und 5 Abs. 2 EUV; Art. 3 Abs. 2 AEUV und 122 Abs. 2 AEUV)

  8. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Koordinierung der Wirtschaftspolitik – Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Grundlegende Änderung der Unionsrechtsordnung – Fehlen

    (Art. 2 Abs. 3 AEUV, 119 AEUV bis 121 AEUV, 125 AEUV und 126 Abs. 7 und 8 AEUV)

  9. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Befugnis der Union, in Schwierigkeiten befindlichen Mitgliedstaaten finanziellen Beistand zu gewähren – Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Keine Beeinträchtigung dieser Befugnis

    (Art. 122 AEUV)

  10. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Verbot für die Europäische Zentralbank und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten zu gewähren oder Schuldtitel zu erwerben – Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Zulässigkeit

    (Art. 123 AEUV)

  11. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Verbot für die Union oder einen Mitgliedstaat, für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats zu haften oder für sie einzutreten – Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist – Zulässigkeit

    (Art. 125 AEUV)

  12. Wirtschafts- und Währungspolitik – Pflicht zur Einhaltung des Grundsatzes der Einzelermächtigung – Übertragung neuer Funktionen auf die Kommission, die Europäische Zentralbank und den Gerichtshof durch den von den Mitgliedstaaten geschlossenen Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus – Zulässigkeit

    (Art. 13 Abs. 2 EUV und 17 Abs. 1 EUV; Art. 273 AEUV)

  13. Recht der Europäischen Union – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Regeln und Grundsätze des Vertrags und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz – Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

  14. Wirtschafts- und Währungspolitik – Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags – Befugnis der Mitgliedstaaten, den Vertrag zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus, durch den Art. 136 AEUV geändert wird, vor Inkrafttreten des Beschlusses, mit dem diese Bestimmung geändert wird, abzuschließen und zu ratifizieren

    (Art. 48 Abs. 6 EUV; Art. 136 AEUV; Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates, Art. 1)

  1.  Mit dem Vertrag von Lissabon wurde, neben dem gewöhnlichen Verfahren zur Änderung des AEU-Vertrags, das vereinfachte Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV eingeführt, dessen Anwendung von mehreren Voraussetzungen abhängt. Da die Kontrolle der Einhaltung dieser Voraussetzungen erforderlich ist, um festzustellen, ob das vereinfachte Änderungsverfahren angewandt werden kann, obliegt es dem Gerichtshof als dem Organ, das nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichert, die Gültigkeit eines auf Art. 48 Abs. 6 EUV gestützten Beschlusses des Europäischen Rates zu prüfen.

    Dabei hat der Gerichtshof zum einen zu prüfen, ob die in Art. 48 Abs. 6 EUV vorgesehenen Verfahrensregeln befolgt wurden, und zum anderen, ob sich die beschlossenen Änderungen nur auf den Dritten Teil des AEU-Vertrags erstrecken, was bedeutet, dass sie zu keiner Änderung der Bestimmungen eines anderen Teils der Verträge führen, auf denen die Union beruht, und ob sie nicht zu einer Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union führen.

    (vgl. Randnrn. 31, 33-36)

  2.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 39-42)

  3.  Der Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 des AEU-Vertrags hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, erfüllt die in Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 1 und 2 EUV aufgestellte Voraussetzung, wonach sich eine Änderung des AEU-Vertrags mittels des vereinfachten Änderungsverfahrens nur auf Bestimmungen des Dritten Teils des AEU-Vertrags erstrecken darf.

    Erstens ist Art. 1 des Beschlusses 2011/199, mit dem durch die Anfügung eines Abs. 3 an Art. 136 AEUV die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus ins Auge gefasst wird, nicht geeignet, sich auf die ausschließliche Zuständigkeit auszuwirken, die der Union durch Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV im Bereich der Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, zuerkannt wird. Aus den Zielen des in Art. 1 des Beschlusses 2011/199 ins Auge gefassten Stabilitätsmechanismus, den zu ihrer Erreichung vorgesehenen Mitteln und der engen Verbindung zwischen diesem Mechanismus und den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Wirtschaftspolitik sowie dem Regelungsrahmen für die Verstärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung der Union ist nämlich zu schließen, dass die Einrichtung dieses Mechanismus zum Bereich der Wirtschaftspolitik gehört. Zum einen unterscheidet sich das mit diesem Mechanismus verfolgte Ziel der Wahrung der Stabilität des gesamten Euro-Währungsgebiets klar vom Ziel der Gewährleistung der Preisstabilität, dem vorrangigen Ziel der Währungspolitik der Union. Zum anderen heißt es zu dem zur Erreichung des angestrebten Ziels ins Auge gefassten Mittel im Beschluss 2011/199 lediglich, dass der Stabilitätsmechanismus alle erforderlichen Finanzhilfen gewähren wird, ohne dass er weitere Angaben zur Funktionsweise dieses Mechanismus enthält. Die Gewährung einer Finanzhilfe für einen Mitgliedstaat gehört aber offenkundig nicht zur Währungspolitik.

    Zweitens wirkt sich der Beschluss 2011/199 nicht auf die Zuständigkeit der Union im Bereich der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten aus. Da die Art. 2 Abs. 3 und 5 Abs. 1 AEUV die Rolle der Union im Bereich der Wirtschaftspolitik nämlich auf den Erlass von Koordinierungsmaßnahmen beschränken, verleihen ihr die Bestimmungen des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags keine spezielle Zuständigkeit für die Schaffung eines Stabilitätsmechanismus wie des im Beschluss 2011/199 ins Auge gefassten. Folglich sind die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, im Hinblick auf die Art. 4 Abs. 1 EUV und 5 Abs. 2 EUV befugt, untereinander eine Übereinkunft über die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus wie des in Art. 1 des Beschlusses 2011/199 ins Auge gefassten zu treffen. Sie dürfen sich allerdings bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten in diesem Bereich nicht über die Beachtung des Unionsrechts hinwegsetzen. Die strengen Auflagen, denen die Gewährung einer Finanzhilfe durch den Stabilitätsmechanismus nach Abs. 3 von Art. 136 AEUV unterliegt, sollen aber gewährleisten, dass beim Einsatz dieses Mechanismus das Unionsrecht, einschließlich der von der Union im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen, beachtet wird.

    (vgl. Randnrn. 56, 57, 60, 63, 64, 68-70, 72, Tenor 1)

  4.  Durch den Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 des AEU-Vertrags hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, wird der Union keine neue Zuständigkeit übertragen. Diese Änderung des AEU-Vertrags schafft nämlich keine Rechtsgrundlage, die es der Union ermöglicht, eine Handlung vorzunehmen, die vor ihrem Inkrafttreten nicht möglich war. Auch der Umstand, dass der Vertrag zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus auf Unionsorgane, insbesondere die Kommission und die Europäische Zentralbank, zurückgreift, ist im Übrigen nicht geeignet, die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 zu berühren, der nur die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten vorsieht und sich nicht zu einer etwaigen Rolle der Unionsorgane in diesem Rahmen äußert. Folglich erfüllt der Beschluss 2011/199 die in Art. 48 Abs. 6 EUV aufgestellte Voraussetzung, dass eine Änderung des AEU-Vertrags mittels des vereinfachten Änderungsverfahrens nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen darf.

    (vgl. Randnrn. 73-75, Tenor 1)

  5.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 84, 86)

  6.  Die Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV und 127 AEUV stehen weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Die Tätigkeiten des ESM gehören nämlich nicht zur Währungspolitik, auf die sich die genannten Bestimmungen des AEU-Vertrags beziehen, denn der ESM soll nicht die Preisstabilität gewährleisten, sondern den Finanzierungsbedarf seiner Mitglieder, d. h. der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, decken, wenn sie schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder ihnen solche Probleme drohen, sofern dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist. Zu diesem Zweck ist der ESM weder zur Festsetzung der Leitzinssätze für das Euro-Währungsgebiet noch zur Ausgabe von Euro-Münzen oder -Banknoten befugt, denn die von ihm gewährte Finanzhilfe muss in vollem Umfang und unter Beachtung von Art. 123 Abs. 1 AEUV aus eingezahltem Kapital oder durch die Begabe von Finanzinstrumenten finanziert werden, wie Art. 3 des ESM-Vertrags es vorsieht.

    Die etwaigen Auswirkungen der Tätigkeiten des ESM auf die Preisstabilität können an dieser Feststellung nichts ändern. Denn selbst wenn man unterstellt, dass die Tätigkeiten des ESM die Inflationsrate beeinflussen könnten, würde ein solcher Einfluss nur die mittelbare Folge der getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen darstellen.

    (vgl. Randnrn. 95-98, Tenor 2)

  7.  Art. 3 Abs. 2 AEUV, der es den Mitgliedstaaten verbietet, untereinander eine Übereinkunft zu schließen, die gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Zum einen kann nämlich, da die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) von den Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, außerhalb des Rahmens der Union eingerichtet wurde, die Übernahme der Aufgaben dieser Fazilität durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) keine gemeinsamen Regeln der Union beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern.

    Zum anderen kann auch der Umstand, dass der ESM nach dem ersten Erwägungsgrund des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) neben anderen Funktionen die Aufgaben übernehmen wird, die bislang vorübergehend dem auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV eingerichteten Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) übertragen waren, keine gemeinsamen Regeln der Union beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern. Die Einrichtung des ESM hat nämlich nicht die Befugnis der Union beeinträchtigt, einem Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV punktuellen finanziellen Beistand zu leisten, wenn festgestellt wird, dass er aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist. Da weder Art. 122 Abs. 2 AEUV noch eine andere Bestimmung des EU-Vertrags oder des AEU-Vertrags der Union eine spezielle Zuständigkeit für die Einrichtung eines permanenten Stabilitätsmechanismus wie des ESM einräumt, sind im Übrigen die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Art. 4 Abs. 1 EUV und 5 Abs. 2 EUV befugt, in diesem Bereich tätig zu werden.

    (vgl. Randnrn. 101-105, Tenor 2)

  8.  Die Art. 2 Abs. 3 AEUV, 119 AEUV bis 121 AEUV und 126 AEUV stehen weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Die Mitgliedstaaten sind nämlich befugt, untereinander eine Übereinkunft über die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus wie den ESM-Vertrag zu schließen, sofern die von den vertragschließenden Mitgliedstaaten im Rahmen einer solchen Übereinkunft eingegangenen Verpflichtungen mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. In diesem Kontext hat der ESM nicht die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zum Gegenstand, sondern stellt einen Finanzierungsmechanismus dar. Zwar unterliegt nach den Art. 3, 12 Abs. 1 und 13 Abs. 3 Unterabs. 1 des ESM-Vertrags die einem Mitgliedstaat, der Mitglied des ESM ist, gewährte Finanzhilfe strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen, die die Form eines makroökonomischen Anpassungsprogramms haben können, doch stellen die vorgesehenen Auflagen kein Instrument zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten dar, sondern sollen die Vereinbarkeit der Tätigkeiten des ESM insbesondere mit Art. 125 AEUV und den von der Union getroffenen Koordinierungsmaßnahmen gewährleisten.

    Schließlich beeinträchtigt der ESM-Vertrag auch nicht die Zuständigkeit des Rates für die Abgabe von Empfehlungen auf der Grundlage von Art. 126 Abs. 7 und 8 AEUV gegenüber einem Mitgliedstaat, der ein übermäßiges Defizit aufweist.

    (vgl. Randnrn. 109-114, Tenor 2)

  9.  Art. 122 AEUV hat nur einen von der Union und nicht von den Mitgliedstaaten gewährten finanziellen Beistand zum Gegenstand. Die Ausübung der Zuständigkeit, die der Union durch diese Bestimmung des AEU-Vertrags übertragen wird, wird durch die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus nicht beeinträchtigt.

    (vgl. Randnrn. 119-122, Tenor 2)

  10.  Art. 123 AEUV, der es der Europäischen Zentralbank und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten verbietet, Körperschaften und Einrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten zu gewähren oder unmittelbar von ihnen Schuldtitel zu erwerben, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen. Er richtet sich nämlich speziell an die Europäische Zentralbank und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten. Wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem anderen Mitgliedstaat finanziellen Beistand leisten, fällt dies somit nicht unter das genannte Verbot.

    (vgl. Randnrn. 123, 125, 128, Tenor 2)

  11.  Art. 125 AEUV, dem zufolge die Union oder ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats eintritt und nicht für sie haftet, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Zwar verbietet Art. 125 AEUV der Union und den Mitgliedstaaten, finanziellen Beistand zu leisten, der zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben, doch verbietet er es nicht, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem Mitgliedstaat, der für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt, eine Finanzhilfe gewähren, vorausgesetzt, die daran geknüpften Auflagen sind geeignet, ihn zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen.

    Erstens tritt nach dem ESM-Vertrag der ESM nicht als Bürge für die Schulden des Empfängermitgliedstaats auf. Dieser bleibt gegenüber seinen Gläubigern für seine finanziellen Verbindlichkeiten haftbar, denn nach Art. 13 Abs. 6 dieses Vertrags muss jede auf Grundlage seiner Art. 14 bis 16 gewährte Finanzhilfe vom Empfängermitgliedstaat an den ESM zurückgezahlt werden, und nach Art. 20 Abs. 1 wird der zurückzuzahlende Betrag um eine angemessene Marge erhöht. Aus den gleichen Gründen übernimmt der ESM durch den Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds am Primärmarkt, der mit der Gewährung eines Darlehens vergleichbar ist, nicht die Haftung für die Schuld des Empfängermitgliedstaats. Zudem bleibt allein der ausgebende Mitgliedstaat für die Schulden haftbar, die durch den Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds am Sekundärmarkt übernommen werden.

    Zweitens kann nur dann eine Stabilitätshilfe gewährt werden, wenn eine solche Hilfe zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist, und ihre Gewährung unterliegt strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen, die u. a. gewährleisten sollen, dass die Mitgliedstaaten eine solide Haushaltspolitik verfolgen.

    Schließlich bleibt, wenn ein Mitgliedstaat des ESM die aufgrund eines Kapitalabrufs erforderliche Einzahlung nicht vornimmt und an alle übrigen Mitglieder ein erhöhter Kapitalabruf ergeht, der säumige Mitgliedstaat des ESM zur Einzahlung seines Kapitalanteils verpflichtet. Somit stehen die übrigen Mitglieder des ESM nicht für die Schuld des säumigen Mitglieds ein.

    Daher haften ein Mechanismus wie der ESM und die daran teilnehmenden Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängermitgliedstaats einer Stabilitätshilfe und treten auch nicht im Sinne von Art. 125 AEUV für sie ein.

    (vgl. Randnrn. 130, 136-143, 145-147, Tenor 2)

  12.  Art. 13 Abs. 2 EUV, der u. a. bestimmt, dass jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Regelungen und Zielen handelt, die in den Verträgen festgelegt sind, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen, da die Übertragung neuer Funktionen auf die Kommission, die Europäische Zentralbank und den Gerichtshof durch den ESM-Vertrag mit ihren in den Verträgen festgelegten Befugnissen vereinbar ist.

    Die Mitgliedstaaten sind nämlich in Bereichen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, berechtigt, außerhalb des Rahmens der Union die Organe mit Aufgaben wie der Koordinierung einer von den Mitgliedstaaten gemeinsam unternommenen Aktion oder der Verwaltung einer Finanzhilfe zu betrauen, sofern diese Aufgaben die den Organen durch den EU-Vertrag und den AEU-Vertrag übertragenen Befugnisse nicht verfälschen. Bei den Funktionen, mit denen die Kommission und die Europäische Zentralbank im ESM-Vertrag betraut werden, handelt es sich aber um solche Aufgaben.

    Die ihnen im Rahmen des ESM-Vertrags übertragenen Funktionen umfassen keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne. Sie verfälschen auch nicht die Befugnisse der genannten Organe aufgrund der Verträge, da die Kommission nach Art. 17 Abs. 1 EUV die allgemeinen Interessen fördert und die Europäische Zentralbank im Einklang mit Art. 282 Abs. 2 AEUV die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt.

    Die dem Gerichtshof durch Art. 37 Abs. 3 des ESM-Vertrags übertragene Zuständigkeit stützt sich unmittelbar auf Art. 273 AEUV, wonach der Gerichtshof für jede mit dem Gegenstand der Verträge in Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig ist, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird. Zwar macht Art. 273 AEUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs vom Vorliegen eines Schiedsvertrags abhängig, doch hindert angesichts des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels nichts daran, eine solche Vereinbarung vorab in Bezug auf eine ganze Kategorie im Voraus festgelegter Streitigkeiten aufgrund einer Klausel wie Art. 37 Abs. 3 des ESM-Vertrags zu treffen. Zudem kann sich ein Rechtsstreit über die Auslegung oder die Anwendung des ESM-Vertrags auch auf die Auslegung oder die Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts beziehen. Schließlich trifft es zwar zu, dass Art. 273 AEUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs auch davon abhängig macht, dass nur Mitgliedstaaten an der Streitigkeit, mit der er befasst wird, beteiligt sind, doch kann, da dem ESM ausschließlich Mitgliedstaaten angehören, eine Streitigkeit, an der der ESM beteiligt ist, als eine Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 273 AEUV angesehen werden.

    (vgl. Randnrn. 153, 158-165, 171, 172, 174-177, Tenor 2)

  13.  Der durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete allgemeine Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Art. 51 Abs. 2 dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen.

    Die Mitgliedstaaten führen aber nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta das Recht der Union durch, wenn sie einen Stabilitätsmechanismus wie den ESM einrichten, für dessen Einrichtung der EU-Vertrag und der AEU-Vertrag der Union keine spezielle Zuständigkeit einräumen.

    (vgl. Randnrn. 179, 180, Tenor 2)

  14.  Das Recht eines Mitgliedstaats, den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus abzuschließen und zu ratifizieren, hängt nicht vom Inkrafttreten des Beschlusses 2011/199 des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 des AEU-Vertrags hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ab. Die Änderung von Art. 136 AEUV durch Art. 1 des Beschlusses 2011/199 bestätigt nämlich die Existenz einer Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dieser Beschluss verleiht den Mitgliedstaaten somit keine neue Zuständigkeit.

    (vgl. Randnrn. 184, 185, Tenor 3)

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Rechtssache C-370/12

Thomas Pringle

gegen

Government of Ireland u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court)

„Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Beschluss 2011/199/EU — Änderung von Art. 136 AEUV — Gültigkeit — Art. 48 Abs. 6 EUV — Vereinfachtes Änderungsverfahren — ESM-Vertrag — Wirtschafts- und Währungspolitik — Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Plenum) vom 27. November 2012

  1. Vorabentscheidungsverfahren — Gültigkeitsprüfung — Zuständigkeit des Gerichtshofs — Beschluss des Europäischen Rates, der im Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags ergangen ist — Einbeziehung — Umfang

    (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV und 48 Abs. 6 EUV; Art. 267 AEUV)

  2. Vorabentscheidungsverfahren — Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe — Handlungen mit allgemeiner Geltung — Erfordernis für natürliche oder juristische Personen, eine Einrede der Rechtswidrigkeit zu erheben oder ein Vorabentscheidungsersuchen zur Prüfung der Gültigkeit zu veranlassen — Pflicht der nationalen Gerichte, die nationalen Verfahrensregeln in einer Weise anzuwenden, die die Anfechtung der Rechtmäßigkeit von Unionshandlungen mit allgemeiner Geltung ermöglicht — Grenzen — Frage nach der Gültigkeit eines Beschlusses, der nicht auf der Grundlage von Art. 263 AEUV angefochten wurde, so dass die Klagebefugnis weggefallen ist oder die Fristen für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage abgelaufen sind

    (Art. 263 AEUV und 267 AEUV)

  3. Wirtschafts- und Währungspolitik — Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags — Änderung von Art. 136 AEUV zur Ermöglichung der Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Gültigkeitsprüfung — Änderung, die sich nur auf Bestimmungen des Dritten Teils des AEU-Vertrags erstreckt

    (Art. 4 Abs. 1 EUV, 5 Abs. 2 EUV und 48 Abs. 6 EUV; Art. 2 Abs. 3 AEUV, 5 Abs. 1 AEUV und 136 AEUV; Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates)

  4. Wirtschafts- und Währungspolitik — Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags — Änderung von Art. 136 AEUV zur Ermöglichung der Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Gültigkeitsprüfung — Änderung, die nicht zu einer Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union führt

    (Art. 48 Abs. 6 EUV; Art. 136 AEUV; Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates)

  5. Vorabentscheidungsverfahren — Zulässigkeit — Ersuchen, aus dem die Gründe für die Vorlage an den Gerichtshof nicht hervorgehen — Unzulässigkeit

    (Art. 267 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 23; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 94 Buchst. c)

  6. Wirtschafts- und Währungspolitik — Währungspolitik — Ausschließliche Zuständigkeit der Union — Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Zulässigkeit

    (Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV, 123 Abs. 1 AEUV und 127 AEUV)

  7. Wirtschafts- und Währungspolitik — Währungspolitik — Ausschließliche Zuständigkeit der Union — Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Beeinträchtigung der gemeinsamen Regeln im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik der Union — Fehlen

    (Art. 4 Abs. 1 EUV und 5 Abs. 2 EUV; Art. 3 Abs. 2 AEUV und 122 Abs. 2 AEUV)

  8. Wirtschafts- und Währungspolitik — Wirtschaftspolitik — Koordinierung der Wirtschaftspolitik — Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Grundlegende Änderung der Unionsrechtsordnung — Fehlen

    (Art. 2 Abs. 3 AEUV, 119 AEUV bis 121 AEUV, 125 AEUV und 126 Abs. 7 und 8 AEUV)

  9. Wirtschafts- und Währungspolitik — Wirtschaftspolitik — Befugnis der Union, in Schwierigkeiten befindlichen Mitgliedstaaten finanziellen Beistand zu gewähren — Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Keine Beeinträchtigung dieser Befugnis

    (Art. 122 AEUV)

  10. Wirtschafts- und Währungspolitik — Wirtschaftspolitik — Verbot für die Europäische Zentralbank und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten zu gewähren oder Schuldtitel zu erwerben — Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Zulässigkeit

    (Art. 123 AEUV)

  11. Wirtschafts- und Währungspolitik — Wirtschaftspolitik — Verbot für die Union oder einen Mitgliedstaat, für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats zu haften oder für sie einzutreten — Abschluss eines Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — Zulässigkeit

    (Art. 125 AEUV)

  12. Wirtschafts- und Währungspolitik — Pflicht zur Einhaltung des Grundsatzes der Einzelermächtigung — Übertragung neuer Funktionen auf die Kommission, die Europäische Zentralbank und den Gerichtshof durch den von den Mitgliedstaaten geschlossenen Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus — Zulässigkeit

    (Art. 13 Abs. 2 EUV und 17 Abs. 1 EUV; Art. 273 AEUV)

  13. Recht der Europäischen Union — Allgemeine Rechtsgrundsätze — Regeln und Grundsätze des Vertrags und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz — Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

  14. Wirtschafts- und Währungspolitik — Verfahren zur vereinfachten Änderung des AEU-Vertrags — Befugnis der Mitgliedstaaten, den Vertrag zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus, durch den Art. 136 AEUV geändert wird, vor Inkrafttreten des Beschlusses, mit dem diese Bestimmung geändert wird, abzuschließen und zu ratifizieren

    (Art. 48 Abs. 6 EUV; Art. 136 AEUV; Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates, Art. 1)

  1.  Mit dem Vertrag von Lissabon wurde, neben dem gewöhnlichen Verfahren zur Änderung des AEU-Vertrags, das vereinfachte Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV eingeführt, dessen Anwendung von mehreren Voraussetzungen abhängt. Da die Kontrolle der Einhaltung dieser Voraussetzungen erforderlich ist, um festzustellen, ob das vereinfachte Änderungsverfahren angewandt werden kann, obliegt es dem Gerichtshof als dem Organ, das nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichert, die Gültigkeit eines auf Art. 48 Abs. 6 EUV gestützten Beschlusses des Europäischen Rates zu prüfen.

    Dabei hat der Gerichtshof zum einen zu prüfen, ob die in Art. 48 Abs. 6 EUV vorgesehenen Verfahrensregeln befolgt wurden, und zum anderen, ob sich die beschlossenen Änderungen nur auf den Dritten Teil des AEU-Vertrags erstrecken, was bedeutet, dass sie zu keiner Änderung der Bestimmungen eines anderen Teils der Verträge führen, auf denen die Union beruht, und ob sie nicht zu einer Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union führen.

    (vgl. Randnrn. 31, 33-36)

  2.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 39-42)

  3.  Der Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 des AEU-Vertrags hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, erfüllt die in Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 1 und 2 EUV aufgestellte Voraussetzung, wonach sich eine Änderung des AEU-Vertrags mittels des vereinfachten Änderungsverfahrens nur auf Bestimmungen des Dritten Teils des AEU-Vertrags erstrecken darf.

    Erstens ist Art. 1 des Beschlusses 2011/199, mit dem durch die Anfügung eines Abs. 3 an Art. 136 AEUV die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus ins Auge gefasst wird, nicht geeignet, sich auf die ausschließliche Zuständigkeit auszuwirken, die der Union durch Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV im Bereich der Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, zuerkannt wird. Aus den Zielen des in Art. 1 des Beschlusses 2011/199 ins Auge gefassten Stabilitätsmechanismus, den zu ihrer Erreichung vorgesehenen Mitteln und der engen Verbindung zwischen diesem Mechanismus und den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Wirtschaftspolitik sowie dem Regelungsrahmen für die Verstärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung der Union ist nämlich zu schließen, dass die Einrichtung dieses Mechanismus zum Bereich der Wirtschaftspolitik gehört. Zum einen unterscheidet sich das mit diesem Mechanismus verfolgte Ziel der Wahrung der Stabilität des gesamten Euro-Währungsgebiets klar vom Ziel der Gewährleistung der Preisstabilität, dem vorrangigen Ziel der Währungspolitik der Union. Zum anderen heißt es zu dem zur Erreichung des angestrebten Ziels ins Auge gefassten Mittel im Beschluss 2011/199 lediglich, dass der Stabilitätsmechanismus alle erforderlichen Finanzhilfen gewähren wird, ohne dass er weitere Angaben zur Funktionsweise dieses Mechanismus enthält. Die Gewährung einer Finanzhilfe für einen Mitgliedstaat gehört aber offenkundig nicht zur Währungspolitik.

    Zweitens wirkt sich der Beschluss 2011/199 nicht auf die Zuständigkeit der Union im Bereich der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten aus. Da die Art. 2 Abs. 3 und 5 Abs. 1 AEUV die Rolle der Union im Bereich der Wirtschaftspolitik nämlich auf den Erlass von Koordinierungsmaßnahmen beschränken, verleihen ihr die Bestimmungen des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags keine spezielle Zuständigkeit für die Schaffung eines Stabilitätsmechanismus wie des im Beschluss 2011/199 ins Auge gefassten. Folglich sind die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, im Hinblick auf die Art. 4 Abs. 1 EUV und 5 Abs. 2 EUV befugt, untereinander eine Übereinkunft über die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus wie des in Art. 1 des Beschlusses 2011/199 ins Auge gefassten zu treffen. Sie dürfen sich allerdings bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten in diesem Bereich nicht über die Beachtung des Unionsrechts hinwegsetzen. Die strengen Auflagen, denen die Gewährung einer Finanzhilfe durch den Stabilitätsmechanismus nach Abs. 3 von Art. 136 AEUV unterliegt, sollen aber gewährleisten, dass beim Einsatz dieses Mechanismus das Unionsrecht, einschließlich der von der Union im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen, beachtet wird.

    (vgl. Randnrn. 56, 57, 60, 63, 64, 68-70, 72, Tenor 1)

  4.  Durch den Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 des AEU-Vertrags hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, wird der Union keine neue Zuständigkeit übertragen. Diese Änderung des AEU-Vertrags schafft nämlich keine Rechtsgrundlage, die es der Union ermöglicht, eine Handlung vorzunehmen, die vor ihrem Inkrafttreten nicht möglich war. Auch der Umstand, dass der Vertrag zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus auf Unionsorgane, insbesondere die Kommission und die Europäische Zentralbank, zurückgreift, ist im Übrigen nicht geeignet, die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 zu berühren, der nur die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten vorsieht und sich nicht zu einer etwaigen Rolle der Unionsorgane in diesem Rahmen äußert. Folglich erfüllt der Beschluss 2011/199 die in Art. 48 Abs. 6 EUV aufgestellte Voraussetzung, dass eine Änderung des AEU-Vertrags mittels des vereinfachten Änderungsverfahrens nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen darf.

    (vgl. Randnrn. 73-75, Tenor 1)

  5.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 84, 86)

  6.  Die Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV und 127 AEUV stehen weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Die Tätigkeiten des ESM gehören nämlich nicht zur Währungspolitik, auf die sich die genannten Bestimmungen des AEU-Vertrags beziehen, denn der ESM soll nicht die Preisstabilität gewährleisten, sondern den Finanzierungsbedarf seiner Mitglieder, d. h. der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, decken, wenn sie schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder ihnen solche Probleme drohen, sofern dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist. Zu diesem Zweck ist der ESM weder zur Festsetzung der Leitzinssätze für das Euro-Währungsgebiet noch zur Ausgabe von Euro-Münzen oder -Banknoten befugt, denn die von ihm gewährte Finanzhilfe muss in vollem Umfang und unter Beachtung von Art. 123 Abs. 1 AEUV aus eingezahltem Kapital oder durch die Begabe von Finanzinstrumenten finanziert werden, wie Art. 3 des ESM-Vertrags es vorsieht.

    Die etwaigen Auswirkungen der Tätigkeiten des ESM auf die Preisstabilität können an dieser Feststellung nichts ändern. Denn selbst wenn man unterstellt, dass die Tätigkeiten des ESM die Inflationsrate beeinflussen könnten, würde ein solcher Einfluss nur die mittelbare Folge der getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen darstellen.

    (vgl. Randnrn. 95-98, Tenor 2)

  7.  Art. 3 Abs. 2 AEUV, der es den Mitgliedstaaten verbietet, untereinander eine Übereinkunft zu schließen, die gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Zum einen kann nämlich, da die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) von den Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, außerhalb des Rahmens der Union eingerichtet wurde, die Übernahme der Aufgaben dieser Fazilität durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) keine gemeinsamen Regeln der Union beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern.

    Zum anderen kann auch der Umstand, dass der ESM nach dem ersten Erwägungsgrund des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) neben anderen Funktionen die Aufgaben übernehmen wird, die bislang vorübergehend dem auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV eingerichteten Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) übertragen waren, keine gemeinsamen Regeln der Union beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern. Die Einrichtung des ESM hat nämlich nicht die Befugnis der Union beeinträchtigt, einem Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV punktuellen finanziellen Beistand zu leisten, wenn festgestellt wird, dass er aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist. Da weder Art. 122 Abs. 2 AEUV noch eine andere Bestimmung des EU-Vertrags oder des AEU-Vertrags der Union eine spezielle Zuständigkeit für die Einrichtung eines permanenten Stabilitätsmechanismus wie des ESM einräumt, sind im Übrigen die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Art. 4 Abs. 1 EUV und 5 Abs. 2 EUV befugt, in diesem Bereich tätig zu werden.

    (vgl. Randnrn. 101-105, Tenor 2)

  8.  Die Art. 2 Abs. 3 AEUV, 119 AEUV bis 121 AEUV und 126 AEUV stehen weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Die Mitgliedstaaten sind nämlich befugt, untereinander eine Übereinkunft über die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus wie den ESM-Vertrag zu schließen, sofern die von den vertragschließenden Mitgliedstaaten im Rahmen einer solchen Übereinkunft eingegangenen Verpflichtungen mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. In diesem Kontext hat der ESM nicht die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zum Gegenstand, sondern stellt einen Finanzierungsmechanismus dar. Zwar unterliegt nach den Art. 3, 12 Abs. 1 und 13 Abs. 3 Unterabs. 1 des ESM-Vertrags die einem Mitgliedstaat, der Mitglied des ESM ist, gewährte Finanzhilfe strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen, die die Form eines makroökonomischen Anpassungsprogramms haben können, doch stellen die vorgesehenen Auflagen kein Instrument zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten dar, sondern sollen die Vereinbarkeit der Tätigkeiten des ESM insbesondere mit Art. 125 AEUV und den von der Union getroffenen Koordinierungsmaßnahmen gewährleisten.

    Schließlich beeinträchtigt der ESM-Vertrag auch nicht die Zuständigkeit des Rates für die Abgabe von Empfehlungen auf der Grundlage von Art. 126 Abs. 7 und 8 AEUV gegenüber einem Mitgliedstaat, der ein übermäßiges Defizit aufweist.

    (vgl. Randnrn. 109-114, Tenor 2)

  9.  Art. 122 AEUV hat nur einen von der Union und nicht von den Mitgliedstaaten gewährten finanziellen Beistand zum Gegenstand. Die Ausübung der Zuständigkeit, die der Union durch diese Bestimmung des AEU-Vertrags übertragen wird, wird durch die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus nicht beeinträchtigt.

    (vgl. Randnrn. 119-122, Tenor 2)

  10.  Art. 123 AEUV, der es der Europäischen Zentralbank und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten verbietet, Körperschaften und Einrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten zu gewähren oder unmittelbar von ihnen Schuldtitel zu erwerben, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen. Er richtet sich nämlich speziell an die Europäische Zentralbank und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten. Wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem anderen Mitgliedstaat finanziellen Beistand leisten, fällt dies somit nicht unter das genannte Verbot.

    (vgl. Randnrn. 123, 125, 128, Tenor 2)

  11.  Art. 125 AEUV, dem zufolge die Union oder ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats eintritt und nicht für sie haftet, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Zwar verbietet Art. 125 AEUV der Union und den Mitgliedstaaten, finanziellen Beistand zu leisten, der zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben, doch verbietet er es nicht, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem Mitgliedstaat, der für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt, eine Finanzhilfe gewähren, vorausgesetzt, die daran geknüpften Auflagen sind geeignet, ihn zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen.

    Erstens tritt nach dem ESM-Vertrag der ESM nicht als Bürge für die Schulden des Empfängermitgliedstaats auf. Dieser bleibt gegenüber seinen Gläubigern für seine finanziellen Verbindlichkeiten haftbar, denn nach Art. 13 Abs. 6 dieses Vertrags muss jede auf Grundlage seiner Art. 14 bis 16 gewährte Finanzhilfe vom Empfängermitgliedstaat an den ESM zurückgezahlt werden, und nach Art. 20 Abs. 1 wird der zurückzuzahlende Betrag um eine angemessene Marge erhöht. Aus den gleichen Gründen übernimmt der ESM durch den Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds am Primärmarkt, der mit der Gewährung eines Darlehens vergleichbar ist, nicht die Haftung für die Schuld des Empfängermitgliedstaats. Zudem bleibt allein der ausgebende Mitgliedstaat für die Schulden haftbar, die durch den Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds am Sekundärmarkt übernommen werden.

    Zweitens kann nur dann eine Stabilitätshilfe gewährt werden, wenn eine solche Hilfe zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist, und ihre Gewährung unterliegt strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen, die u. a. gewährleisten sollen, dass die Mitgliedstaaten eine solide Haushaltspolitik verfolgen.

    Schließlich bleibt, wenn ein Mitgliedstaat des ESM die aufgrund eines Kapitalabrufs erforderliche Einzahlung nicht vornimmt und an alle übrigen Mitglieder ein erhöhter Kapitalabruf ergeht, der säumige Mitgliedstaat des ESM zur Einzahlung seines Kapitalanteils verpflichtet. Somit stehen die übrigen Mitglieder des ESM nicht für die Schuld des säumigen Mitglieds ein.

    Daher haften ein Mechanismus wie der ESM und die daran teilnehmenden Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängermitgliedstaats einer Stabilitätshilfe und treten auch nicht im Sinne von Art. 125 AEUV für sie ein.

    (vgl. Randnrn. 130, 136-143, 145-147, Tenor 2)

  12.  Art. 13 Abs. 2 EUV, der u. a. bestimmt, dass jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Regelungen und Zielen handelt, die in den Verträgen festgelegt sind, steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen, da die Übertragung neuer Funktionen auf die Kommission, die Europäische Zentralbank und den Gerichtshof durch den ESM-Vertrag mit ihren in den Verträgen festgelegten Befugnissen vereinbar ist.

    Die Mitgliedstaaten sind nämlich in Bereichen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, berechtigt, außerhalb des Rahmens der Union die Organe mit Aufgaben wie der Koordinierung einer von den Mitgliedstaaten gemeinsam unternommenen Aktion oder der Verwaltung einer Finanzhilfe zu betrauen, sofern diese Aufgaben die den Organen durch den EU-Vertrag und den AEU-Vertrag übertragenen Befugnisse nicht verfälschen. Bei den Funktionen, mit denen die Kommission und die Europäische Zentralbank im ESM-Vertrag betraut werden, handelt es sich aber um solche Aufgaben.

    Die ihnen im Rahmen des ESM-Vertrags übertragenen Funktionen umfassen keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne. Sie verfälschen auch nicht die Befugnisse der genannten Organe aufgrund der Verträge, da die Kommission nach Art. 17 Abs. 1 EUV die allgemeinen Interessen fördert und die Europäische Zentralbank im Einklang mit Art. 282 Abs. 2 AEUV die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt.

    Die dem Gerichtshof durch Art. 37 Abs. 3 des ESM-Vertrags übertragene Zuständigkeit stützt sich unmittelbar auf Art. 273 AEUV, wonach der Gerichtshof für jede mit dem Gegenstand der Verträge in Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig ist, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird. Zwar macht Art. 273 AEUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs vom Vorliegen eines Schiedsvertrags abhängig, doch hindert angesichts des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels nichts daran, eine solche Vereinbarung vorab in Bezug auf eine ganze Kategorie im Voraus festgelegter Streitigkeiten aufgrund einer Klausel wie Art. 37 Abs. 3 des ESM-Vertrags zu treffen. Zudem kann sich ein Rechtsstreit über die Auslegung oder die Anwendung des ESM-Vertrags auch auf die Auslegung oder die Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts beziehen. Schließlich trifft es zwar zu, dass Art. 273 AEUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs auch davon abhängig macht, dass nur Mitgliedstaaten an der Streitigkeit, mit der er befasst wird, beteiligt sind, doch kann, da dem ESM ausschließlich Mitgliedstaaten angehören, eine Streitigkeit, an der der ESM beteiligt ist, als eine Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 273 AEUV angesehen werden.

    (vgl. Randnrn. 153, 158-165, 171, 172, 174-177, Tenor 2)

  13.  Der durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete allgemeine Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes steht weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des Vertrags zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.

    Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Art. 51 Abs. 2 dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen.

    Die Mitgliedstaaten führen aber nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta das Recht der Union durch, wenn sie einen Stabilitätsmechanismus wie den ESM einrichten, für dessen Einrichtung der EU-Vertrag und der AEU-Vertrag der Union keine spezielle Zuständigkeit einräumen.

    (vgl. Randnrn. 179, 180, Tenor 2)

  14.  Das Recht eines Mitgliedstaats, den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus abzuschließen und zu ratifizieren, hängt nicht vom Inkrafttreten des Beschlusses 2011/199 des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 des AEU-Vertrags hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ab. Die Änderung von Art. 136 AEUV durch Art. 1 des Beschlusses 2011/199 bestätigt nämlich die Existenz einer Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dieser Beschluss verleiht den Mitgliedstaaten somit keine neue Zuständigkeit.

    (vgl. Randnrn. 184, 185, Tenor 3)

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