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Document 62010CJ0017
Leitsätze des Urteils
Leitsätze des Urteils
Rechtssache C-17/10
Toshiba Corporation u. a.
gegen
Úřad pro ochranu hospodářské soutěže
(Vorabentscheidungsersuchen des Krajský soud v Brně)
„Wettbewerb — Kartell im Gebiet eines Mitgliedstaats, das vor dem Beitritt dieses Staates zur Europäischen Union begonnen hat — International operierendes Kartell, das sich im Gebiet der Union und des Europäischen Wirtschaftsraums auswirkt — Art. 81 EG und 53 des EWR-Abkommens — Verfolgung und Ahndung der Zuwiderhandlung für die Zeit vor und nach dem Beitrittstermin — Geldbußen — Abgrenzung der Zuständigkeiten der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden — Verhängung von Geldbußen durch die Kommission und die nationale Wettbewerbsbehörde — Grundsatz ne bis in idem — Verordnung (EG) Nr. 1/2003 — Art. 3 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 6 — Folgen des Beitritts eines neuen Mitgliedstaats zur Union“
Leitsätze des Urteils
Handlungen der Organe – Zeitliche Geltung – Rückwirkung einer materiell-rechtlichen Vorschrift – Voraussetzungen – Rückwirkung von Art. 81 EG und Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 – Fehlen
(Art. 81 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1)
Wettbewerb – Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden – Einleitung eines Verfahrens gegen ein Kartell durch die Kommission – Verlust der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörde dafür, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen, die das Kartell im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats in Zeiträumen vor seinem Beitritt zur Europäischen Union gehabt hat, in Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts zu ahnden – Fehlen
(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 6)
Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird und Geldbußen gegen Unternehmen verhängt werden, die sich an einem Kartell beteiligt haben – Spätere Entscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats, mit der gegen diese Unternehmen Geldbußen verhängt werden, um die Auswirkungen zu ahnden, die das Kartell im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats vor seinem Beitritt zur Europäischen Union gehabt hat – Keine Identität zwischen den Auswirkungen des Kartells, die mit den beiden genannten Entscheidungen geahndet werden – Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem – Fehlen
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Art. 81 EG und 82 EG niedergelegten Wettbewerbsregeln enthält, ebenso wie Art. 81 EG, inhaltliche Vorgaben für die Beurteilung von Unternehmensvereinbarungen durch die Wettbewerbsbehörden, bei denen es sich somit um materiell-rechtliche Vorschriften des Unionsrechts handelt. Solche materiell-rechtlichen Vorschriften können grundsätzlich nicht rückwirkend angewandt werden, unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für die Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt nämlich, dass jeder Sachverhalt normalerweise, soweit nicht ausdrücklich etwas Gegenteiliges bestimmt ist, anhand der seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften beurteilt wird. Die materiellen Vorschriften des Unionsrechts sind im Interesse der Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau klar hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Zielsetzung noch aus dem Aufbau des Art. 81 EG, des Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 und der Beitrittsakte ergibt sich indessen ein klarer Hinweis auf eine rückwirkende Anwendbarkeit dieser beiden Bestimmungen.
Art. 81 EG und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sind demzufolge dahin auszulegen, dass sie im Rahmen eines nach dem 1. Mai 2004 eingeleiteten Verfahrens nicht auf ein Kartell anwendbar sind, das sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, der der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten ist, in Zeiträumen vor diesem Datum ausgewirkt hat.
(vgl. Randnrn. 49-52, 67, Tenor 1)
Der Umstand, dass die Europäische Kommission gegen ein Kartell ein Verfahren nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Art. 81 EG und 82 EG niedergelegten Wettbewerbsregeln einleitet, nimmt der Wettbewerbsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats nicht nach Art. 11 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung ihre Zuständigkeit dafür, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen des Kartells im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Zeiträumen vor seinem Beitritt zur Europäischen Union in Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts zu ahnden.
(vgl. Randnr. 92, Tenor 2)
Der Grundsatz ne bis in idem ist in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten. Die Anwendung dieses Grundsatzes hängt von der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts ab. Dieser Grundsatz verbietet es demnach, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird.
Daraus folgt, dass der Grundsatz ne bis in idem es der nationalen Wettbewerbsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats nicht verwehrt, gegen an einem Kartell beteiligte Unternehmen Geldbußen zu verhängen, um die Auswirkungen des Kartells im Hoheitsgebiet dieses Staates vor seinem Beitritt zur Europäischen Union zu ahnden, wenn diese Auswirkungen mit den Geldbußen, die den Mitgliedern des Kartells mit einer vor der Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde erlassenen Entscheidung der Europäischen Kommission auferlegt wurden, nicht geahndet werden sollten.
(vgl. Randnrn. 94, 97, 103, Tenor 2)
Rechtssache C-17/10
Toshiba Corporation u. a.
gegen
Úřad pro ochranu hospodářské soutěže
(Vorabentscheidungsersuchen des Krajský soud v Brně)
„Wettbewerb — Kartell im Gebiet eines Mitgliedstaats, das vor dem Beitritt dieses Staates zur Europäischen Union begonnen hat — International operierendes Kartell, das sich im Gebiet der Union und des Europäischen Wirtschaftsraums auswirkt — Art. 81 EG und 53 des EWR-Abkommens — Verfolgung und Ahndung der Zuwiderhandlung für die Zeit vor und nach dem Beitrittstermin — Geldbußen — Abgrenzung der Zuständigkeiten der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden — Verhängung von Geldbußen durch die Kommission und die nationale Wettbewerbsbehörde — Grundsatz ne bis in idem — Verordnung (EG) Nr. 1/2003 — Art. 3 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 6 — Folgen des Beitritts eines neuen Mitgliedstaats zur Union“
Leitsätze des Urteils
Handlungen der Organe — Zeitliche Geltung — Rückwirkung einer materiell-rechtlichen Vorschrift — Voraussetzungen — Rückwirkung von Art. 81 EG und Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 — Fehlen
(Art. 81 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1)
Wettbewerb — Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden — Einleitung eines Verfahrens gegen ein Kartell durch die Kommission — Verlust der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörde dafür, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen, die das Kartell im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats in Zeiträumen vor seinem Beitritt zur Europäischen Union gehabt hat, in Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts zu ahnden — Fehlen
(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 6)
Wettbewerb — Verwaltungsverfahren — Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird und Geldbußen gegen Unternehmen verhängt werden, die sich an einem Kartell beteiligt haben — Spätere Entscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats, mit der gegen diese Unternehmen Geldbußen verhängt werden, um die Auswirkungen zu ahnden, die das Kartell im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats vor seinem Beitritt zur Europäischen Union gehabt hat — Keine Identität zwischen den Auswirkungen des Kartells, die mit den beiden genannten Entscheidungen geahndet werden — Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem — Fehlen
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Art. 81 EG und 82 EG niedergelegten Wettbewerbsregeln enthält, ebenso wie Art. 81 EG, inhaltliche Vorgaben für die Beurteilung von Unternehmensvereinbarungen durch die Wettbewerbsbehörden, bei denen es sich somit um materiell-rechtliche Vorschriften des Unionsrechts handelt. Solche materiell-rechtlichen Vorschriften können grundsätzlich nicht rückwirkend angewandt werden, unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für die Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt nämlich, dass jeder Sachverhalt normalerweise, soweit nicht ausdrücklich etwas Gegenteiliges bestimmt ist, anhand der seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften beurteilt wird. Die materiellen Vorschriften des Unionsrechts sind im Interesse der Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau klar hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Zielsetzung noch aus dem Aufbau des Art. 81 EG, des Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 und der Beitrittsakte ergibt sich indessen ein klarer Hinweis auf eine rückwirkende Anwendbarkeit dieser beiden Bestimmungen.
Art. 81 EG und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sind demzufolge dahin auszulegen, dass sie im Rahmen eines nach dem 1. Mai 2004 eingeleiteten Verfahrens nicht auf ein Kartell anwendbar sind, das sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, der der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten ist, in Zeiträumen vor diesem Datum ausgewirkt hat.
(vgl. Randnrn. 49-52, 67, Tenor 1)
Der Umstand, dass die Europäische Kommission gegen ein Kartell ein Verfahren nach Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Art. 81 EG und 82 EG niedergelegten Wettbewerbsregeln einleitet, nimmt der Wettbewerbsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats nicht nach Art. 11 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung ihre Zuständigkeit dafür, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen des Kartells im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Zeiträumen vor seinem Beitritt zur Europäischen Union in Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts zu ahnden.
(vgl. Randnr. 92, Tenor 2)
Der Grundsatz ne bis in idem ist in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten. Die Anwendung dieses Grundsatzes hängt von der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts ab. Dieser Grundsatz verbietet es demnach, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird.
Daraus folgt, dass der Grundsatz ne bis in idem es der nationalen Wettbewerbsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats nicht verwehrt, gegen an einem Kartell beteiligte Unternehmen Geldbußen zu verhängen, um die Auswirkungen des Kartells im Hoheitsgebiet dieses Staates vor seinem Beitritt zur Europäischen Union zu ahnden, wenn diese Auswirkungen mit den Geldbußen, die den Mitgliedern des Kartells mit einer vor der Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde erlassenen Entscheidung der Europäischen Kommission auferlegt wurden, nicht geahndet werden sollten.
(vgl. Randnrn. 94, 97, 103, Tenor 2)