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Document 62009CJ0403

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Vorabentscheidungsverfahren – Eilvorlageverfahren – Voraussetzungen

(Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 104b)

2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen – Widerrechtliches Verbringen eines Kindes

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 2 Abs. 11 und 20 Abs. 1)

3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen – Änderung des Sorgerechts für ein Kind

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 20 Abs. 1)

4. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen – Wahrung der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehenen Grundrechte des Kindes

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 24; Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 20)

Leitsätze

1. Ein von einem vorlegenden Gericht gestellter Antrag, gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung das Eilverfahren anzuwenden, der gestützt ist auf

– das Vorliegen einer vollstreckbaren Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats über Schutzmaßnahmen, mit der das Sorgerecht für das Kind auf den Vater übertragen worden ist, einerseits,

– eine Entscheidung des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats über Schutzmaßnahmen, mit der das Sorgerecht für das Kind der Mutter zugesprochen worden ist, andererseits,

– das Erfordernis raschen Handelns, weil eine Aufschiebung der Entscheidung dem Kindeswohl zuwiderliefe und die Beziehungen zwischen dem Kind und seinem Vater irreparabel verschlechtern könne,

– die Vorläufigkeit der erlassenen Schutzmaßnahme in Bezug auf das Sorgerecht, die ein Eingreifen des Gerichtshofs im Eilverfahren erforderlich mache, um den Zustand der Rechtsunsicherheit nicht zu verlängern,

ist begründet.

(vgl. Randnrn. 29-31)

2. Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht den Erlass einer einstweiligen Maßnahme in Bezug auf das elterliche Sorgerecht erlaubt, mit der das Sorgerecht für ein Kind, das sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, auf einen Elternteil übertragen wird, wenn ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das nach der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung über das Sorgerecht in der Hauptsache zuständig ist, bereits eine Entscheidung erlassen hat, mit der das Sorgerecht für das Kind vorläufig auf den anderen Elternteil übertragen wurde, und wenn diese Entscheidung für im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats vollstreckbar erklärt worden ist.

Wenn nämlich eine Änderung von Umständen, die aus einem graduellen Prozess wie der Integration des Kindes in eine neue Umgebung resultiert, ausreichend wäre, um ein in der Hauptsache nicht zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats zum Erlass einer einstweiligen Maßnahme zu ermächtigen, mit der die von dem in der Hauptsache zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassene Maßnahme über die elterliche Verantwortung geändert wird und die für im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats vollstreckbar erklärt worden ist, trüge die etwaige Langsamkeit des Vollstreckungsverfahrens im ersuchten Staat dazu bei, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das erstgenannte Gericht die Vollstreckung der für vollstreckbar erklärten Entscheidung verhindern könnte. Eine solche Auslegung dieser Vorschrift würde die die Verordnung tragenden Grundsätze selbst erschüttern, insbesondere den in dieser Verordnung niedergelegten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von in den Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen.

Die Anerkennung einer dringlichen Lage in dem Fall, dass die Veränderung der Lage des Kindes Ergebnis eines rechtswidrigen Verbringens im Sinne von Art. 2 Abs. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist, läuft auch dem mit dieser Verordnung verfolgten Ziel zuwider, darauf hinzuwirken, dass von rechtswidrigem Verbringen oder Zurückhalten von Kindern zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird. Dürfte nämlich eine Maßnahme, die zu einer Veränderung der elterlichen Verantwortung führt, nach Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassen werden, liefe dies darauf hinaus, durch die Verfestigung einer aus rechtswidrigem Handeln entstandenen tatsächlichen Situation die Position des Elternteils zu stärken, der für das rechtswidrige Verbringen verantwortlich ist.

(vgl. Randnrn. 45, 47-49 und Tenor)

3. Dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 ist zu entnehmen, dass einstweilige Maßnahmen in Bezug auf Personen zu erlassen sind, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das für den Erlass dieser Maßnahmen zuständige Gericht seinen Sitz hat.

Eine einstweilige Maßnahme betreffend die elterliche Verantwortung, die auf eine Änderung des Sorgerechts für ein Kind abzielt, wird nicht nur in Bezug auf das Kind selbst, sondern auch in Bezug auf den Elternteil, dem das Sorgerecht für das Kind neu zugesprochen wird, sowie den anderen Elternteil erlassen, dem durch den Erlass der Maßnahme das Sorgerecht genommen wird.

(vgl. Randnrn. 50-51)

4. Die Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden, und zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Art. 24 der Charta zu gewährleisten. Daher kann Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht dahin ausgelegt werden, dass er dem Elternteil, der das Kind rechtswidrig verbracht hat, als Mittel dafür diente, die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene tatsächliche Situation länger andauern zu lassen oder die Folgen dieses Handelns zu legitimieren.

Eine Maßnahme, die regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen verhindert, kann nur durch ein anderes Interesse des Kindes gerechtfertigt werden, das von solchem Gewicht ist, dass es gegenüber dem dem genannten Grundrecht zugrunde liegenden Interesse des Kindes überwiegt. Eine ausgewogene und vernünftige Beurteilung aller auf dem Spiel stehenden Interessen, die auf objektiven Erwägungen hinsichtlich der Person des Kindes selbst und seiner sozialen Umgebung beruhen muss, ist jedoch grundsätzlich im Rahmen eines Verfahrens vor dem Gericht vorzunehmen, das nach der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist.

(vgl. Randnrn. 53, 57, 59-60)

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