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Document 62009CJ0173

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Unionsrecht – Vorrang – Entgegenstehendes nationales Recht – Ipso iure eintretende Unanwendbarkeit der vorhandenen Vorschriften – Verpflichtung, Hinweise eines höheren Gerichts zu befolgen, die nicht dem Unionsrecht entsprechen – Unzulässigkeit

(Art. 267 AEUV)

2. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Krankenversicherung – In einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Sachleistungen

(Art. 49 EG; Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2)

3. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Krankenversicherung – In einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Sachleistungen

(Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Art. 22 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i und 2 Unterabs. 2)

4. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Krankenversicherung – In einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Sachleistungen

(Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Art. 22 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i)

Leitsätze

1. Das Unionsrecht steht dem entgegen, dass ein nationales Gericht, das nach der Zurückverweisung durch ein im Rechtsmittelverfahren angerufenes höheres Gericht in der Sache zu entscheiden hat, entsprechend den nationalen Verfahrensvorschriften an die rechtliche Beurteilung des höheren Gerichts gebunden ist, wenn das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass diese Beurteilung unter Berücksichtigung der Auslegung, um die es den Gerichtshof ersucht hat, nicht dem Unionsrecht entspricht.

Erstens kann das Vorliegen einer nationalen Verfahrensvorschrift, nach der die nicht in letzter Instanz entscheidenden Gerichte durch die Beurteilung der höheren Gerichte gebunden sind, nicht das Recht der nicht in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichte in Frage stellen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn sie Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts haben.

Zweitens bindet ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens.

Im Übrigen ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.

(vgl. Randnrn. 25, 29, 31-32, Tenor 1)

2. Die Art. 49 EG und 22 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 1992/2006, stehen der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die dahin ausgelegt wird, dass sie die Übernahme der Kosten einer ohne vorherige Genehmigung in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Krankenhausbehandlung in allen Fällen ausschließt.

Das Unionsrecht steht einem System der vorherigen Genehmigung zwar nicht grundsätzlich entgegen; gleichwohl müssen zum einen die Voraussetzungen für die Erteilung einer derartigen Genehmigung vor dem Hintergrund des Zwecks, im betreffenden Mitgliedstaat zu gewährleisten, dass ein ausgewogenes Angebot qualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig ausreichend zugänglich ist, die Kosten zu beherrschen und, so weit wie möglich, jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern, gerechtfertigt sein. Zum anderen dürfen diese Bedingungen nicht über das hinausgehen, was zu diesen Zwecken objektiv notwendig ist, und darf das gleiche Ergebnis nicht durch weniger einschneidende Regelungen erreichbar sein. Ferner muss ein solches System auf objektiven, nicht diskriminierenden und vorher bekannten Kriterien beruhen, so dass dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden, die seine missbräuchliche Ausübung verhindern.

Aufgrund einer nationalen Regelung, die die Übernahme der Kosten einer ohne vorherige Genehmigung erbrachten Krankenhausbehandlung in allen Fällen ausschließt, wird dem Sozialversicherten, der aus gesundheitlichen Gründen oder wegen der Dringlichkeit der Krankenhausbehandlung daran gehindert war, diese Genehmigung zu beantragen, oder der die Antwort des zuständigen Trägers nicht abwarten konnte, die Übernahme der Behandlungskosten durch den Träger versagt, selbst wenn die Voraussetzungen für eine solche Kostenübernahme im Übrigen erfüllt sind. Die Übernahme derartiger Behandlungskosten kann jedoch weder die Verwirklichung der Ziele der Krankenhausplanung behindern noch das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit schwerwiegend beschädigen. Sie berührt weder die Erhaltung einer ausgewogenen und für alle zugänglichen Krankenhausversorgung noch eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung und eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland. Daher ist eine solche Regelung nicht durch die genannten zwingenden Gründe gerechtfertigt und lässt sich jedenfalls nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbaren. Sie enthält somit eine ungerechtfertigte Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs.

(vgl. Randnrn. 43-47, 51, Tenor 2)

3. Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 1992/2006, ist im Hinblick auf die medizinische Versorgung, die nicht in dem Mitgliedstaat erbracht werden kann, in dessen Gebiet der Sozialversicherte wohnt, dahin auszulegen, dass eine nach Abs. 1 Buchst. c Ziff. i dieser Vorschrift erforderliche Genehmigung nicht verweigert werden darf,

– wenn die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen in einer Liste enthalten sind, die nicht ausdrücklich und genau die angewandte Behandlungsmethode nennt, sondern Behandlungstypen definiert, die von dem zuständigen Träger übernommen werden, und unter Anwendung der üblichen Auslegungsgrundsätze und nach vertiefter Betrachtung auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien unter Berücksichtigung aller einschlägigen medizinischen Kriterien und verfügbaren wissenschaftlichen Daten erwiesen ist, dass diese Behandlungsmethode Behandlungstypen entspricht, die in dieser Liste genannt werden, und

– wenn eine ebenso wirksame Alternativbehandlung in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Sozialversicherte wohnt, nicht rechtzeitig erbracht werden kann.

Die genannte Vorschrift steht dem entgegen, dass die nationalen Einrichtungen, die über einen Antrag auf vorherige Genehmigung zu entscheiden haben, bei Anwendung dieser Bestimmung vermuten, dass eine Krankenhausbehandlung, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Sozialversicherte wohnt, nicht erbracht werden kann, nicht zu den Leistungen gehört, deren Kostenübernahme in den Rechtsvorschriften dieses Staates vorgesehen ist, und umgekehrt, dass eine Krankenhausbehandlung, die zu diesen Leistungen gehört, in diesem Mitgliedstaat erbracht werden kann.

Im Hinblick auf die erste in Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 genannte Voraussetzung ist es mit dem Unionsrecht grundsätzlich nicht unvereinbar, dass ein Mitgliedstaat eine abschließende Liste der von seinem System der sozialen Sicherheit zu tragenden medizinischen Leistungen erstellt und dieses Recht einen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht zwingen kann, solche Leistungslisten zu erweitern. Allein die nationalen Einrichtungen, die über einen Antrag auf Genehmigung der Behandlung zu befinden haben, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dessen Gebiet der Sozialversicherte wohnt, erbracht wird, haben zu bestimmen, ob diese Behandlung in einer solchen Liste enthalten ist. Da die Mitgliedstaaten jedoch bei Ausübung ihrer Befugnisse das Unionsrecht befolgen müssen, ist darauf zu achten, dass Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 gemäß diesem Recht angewandt wird. Wenn die angewandte Behandlungsmethode den in den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats vorgesehenen Leistungen entspricht, kann die vorherige Genehmigung nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass diese Methode in diesem Mitgliedstaat nicht durchgeführt wird.

Auch wenn im Übrigen im Hinblick auf die zweite in Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 genannte Voraussetzung die Tatsache, dass die in einem anderen Mitgliedstaat vorgesehene Behandlung im Wohnsitzmitgliedstaat des Betroffenen nicht durchgeführt wird, nicht als solche dazu führt, dass diese zweite Voraussetzung erfüllt ist, trifft dies zu, wenn eine ebenso wirksame Behandlung dort nicht rechtzeitig vorgenommen werden kann.

Aus dieser Auslegung folgt schließlich, dass eine Entscheidung über einen Antrag auf eine gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 erforderliche Genehmigung nicht auf eine Vermutung gestützt werden darf, der zufolge, 1. die betreffende Krankenhausbehandlung, wenn sie nicht in dem zuständigen Mitgliedstaat erbracht werden kann, nicht zu den Leistungen gehört, die das nationale Sozialversicherungssystem übernimmt, und umgekehrt, dass diese Behandlung, wenn sie zu den Leistungen gehört, die dieses System übernimmt, in diesem Mitgliedstaat erbracht werden könne.

(vgl. Randnrn. 58, 60-62, 64, 68-69, 73, Tenor 3)

4. Wenn erwiesen ist, dass die Versagung einer nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 1992/2006, erforderlichen Genehmigung nicht begründet war, muss das nationale Gericht, wenn die Krankenhausbehandlung abgeschlossen ist und ihre Kosten von dem Sozialversicherten verauslagt worden sind, den zuständigen Träger nach den nationalen Verfahrensvorschriften verpflichten, dem Versicherten den Betrag zu erstatten, der normalerweise von dem Träger übernommen worden wäre, wenn die Genehmigung ordnungsgemäß erteilt worden wäre.

Die Höhe dieses Betrags wird nach den für den Träger des Mitgliedstaats geltenden Rechtsvorschriften ermittelt, in dessen Gebiet die Krankenhausbehandlung erbracht worden ist. Ist dieser Betrag niedriger als derjenige, der sich aus den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats bei einem dortigen Krankenhausaufenthalt ergeben hätte, ist dem Sozialversicherten zudem zulasten des zuständigen Trägers eine ergänzende Erstattung in Höhe des Unterschieds zwischen diesen beiden Beträgen zu gewähren, jedoch nur bis zur Höhe der tatsächlichen Kosten.

(vgl. Randnrn. 77-78, 81, Tenor 4)

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