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Document 62008CJ0388
Leitsätze des Urteils
Leitsätze des Urteils
1. Vorabentscheidungsverfahren – Eilvorlageverfahren – Voraussetzungen
(Satzung des Gerichtshofs, Art. 104b)
2. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Grundsatz der Spezialität
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 3, 4 und 27 Abs. 2, 3 Buchst. g und 4)
3. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Grundsatz der Spezialität
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 27 Abs. 2)
4. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Grundsatz der Spezialität
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 27 Abs. 3 Buchst. c und 4)
1. Einem Antrag, ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten dem Eilverfahren zu unterwerfen, kann unter Zugrundelegung der Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass die gegen den Betroffenen verhängte Freiheitsstrafe verkürzt und er früher entlassen würde, wenn die Anklage wegen dieser Straftat fallen gelassen würde, stattgegeben werden.
(vgl. Randnrn. 38-39)
2. Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2000/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten stellt den Grundsatz der Spezialität auf, nach dem eine Person, die übergeben wurde, wegen einer anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt, noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden darf. Das Übergabeersuchen beruht auf den Informationen, die den Stand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls widerspiegeln. Es ist daher möglich, dass im Lauf des Verfahrens die zur Last gelegten Handlungen nicht mehr in jeder Hinsicht den ursprünglich beschriebenen entsprechen. Die ermittelten Tatsachen können zu einer Präzisierung oder gar einer Änderung der Tatbestandsmerkmale führen, die die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls ursprünglich gerechtfertigt haben.
Die in Art. 27 Abs. 2 enthaltenen Wörter „verfolgt“, „verurteilt“ und „einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen“ zeigen, dass der Begriff „andere Handlung“ als diejenige, die der Übergabe zugrunde liegt, im Hinblick auf die verschiedenen Abschnitte des Verfahrens und die einzelnen Verfahrenshandlungen, die die rechtliche Würdigung der Straftat ändern können, zu beurteilen ist. Um im Hinblick auf das Erfordernis der Zustimmung in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g dieses Rahmenbeschlusses zu prüfen, ob eine Verfahrenshandlung zu einer „anderen Handlung“ als der im Europäischen Haftbefehl beschriebenen führt, ist die Beschreibung der Straftat im Europäischen Haftbefehl mit der in dem späteren Verfahrensschriftstück enthaltenen zu vergleichen. Es würde über die Bedeutung des Grundsatzes der Spezialität hinausgehen und das verfolgte Ziel, die im Rahmenbeschluss angesprochene justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu beschleunigen und zu vereinfachen, beeinträchtigen, wollte man für jede Änderung der Beschreibung des Sachverhalts die Zustimmung des Vollstreckungsmitgliedstaats fordern.
Zur Bestimmung, ob die betrachtete Handlung im Sinne des Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine „andere Handlung“ als diejenige ist, die der Übergabe zugrunde liegt, und die Durchführung des in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Zustimmungsverfahrens erforderlich macht, ist zu prüfen, ob die Tatbestandsmerkmale der Straftat nach deren gesetzlicher Umschreibung im Ausstellungsmitgliedstaat diejenigen sind, derentwegen die Person übergeben wurde, und ob sich die Angaben im Europäischen Haftbefehl und diejenigen in dem späteren Verfahrensschriftstück hinreichend entsprechen. Änderungen bei den zeitlichen und örtlichen Umständen sind zulässig, sofern sie sich aus den Tatsachen ergeben, die in dem im Ausstellungsmitgliedstaat bezüglich der im Haftbefehl beschriebenen Verhaltensweisen durchgeführten Verfahren ermittelt wurden, nicht die Art der Straftat verändern und keine Gründe für das Absehen von der Vollstreckung nach den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses zur Folge haben.
(vgl. Randnrn. 43, 53-56, 59, Tenor 1)
3. Eine Änderung der Beschreibung der Straftat, die nur die Art des in Rede stehenden Betäubungsmittels betrifft, ohne dass sich die rechtliche Würdigung der Straftat ändert, ist als solche nicht geeignet, eine im Sinne des Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2000/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten „andere Handlung“ als diejenige, die der Übergabe zugrunde liegt, zu begründen, da es sich nach wie vor um eine Straftat handelt, die mit einer vergleichbar schweren Strafe bedroht ist und unter die Rubrik „illegaler Handel mit Drogen“ des Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses fällt.
(vgl. Randnrn. 62-63, Tenor 2)
4. Die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2000/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vorgesehene Ausnahme, wonach der in Art. 27 Abs. 2 vorgesehene Grundsatz der Spezialität keine Anwendung findet, wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt, ist dahin auszulegen, dass bei einer „anderen Handlung“ als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, nach Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses um Zustimmung ersucht werden und diese Zustimmung eingegangen sein muss, wenn eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme zu vollstrecken ist. Die übergebene Person kann wegen einer solchen Handlung verfolgt und verurteilt werden, bevor diese Zustimmung eingegangen ist, sofern während des diese Handlung betreffenden Ermittlungs- und Strafverfahrens keine freiheitsbeschränkende Maßnahme angewandt wird. Die Ausnahme des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses verbietet es jedoch nicht, die übergebene Person einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu unterwerfen, bevor die Zustimmung eingegangen ist, wenn diese Beschränkung durch andere Anklagepunkte im Europäischen Haftbefehl gerechtfertigt wird.
(vgl. Randnr. 76, Tenor 3)