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Document 62006CJ0445

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Landwirtschaft – Angleichung der gesundheitsrechtlichen Vorschriften – Innergemeinschaftlicher Handel mit Frischfleisch – Veterinärrechtliche Kontrollen – Richtlinien 64/433 und 89/662 – Fehler bei der Umsetzung und Anwendung – Pflicht des Mitgliedstaats zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens

(Art. 28 EG; Richtlinie 64/433 des Rates in der durch die Richtlinie 91/497 geänderten Fassung und Richtlinie 89/662 des Rates)

2. Gemeinschaftsrecht – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch einen Mitgliedstaat – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens

3. Gemeinschaftsrecht – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch einen Mitgliedstaat – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens

(Art. 226 EG)

4. Gemeinschaftsrecht – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verstoß eines Mitgliedstaats gegen die Verpflichtung zur Umsetzung einer Richtlinie – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens

5. Gemeinschaftsrecht – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch einen Mitgliedstaat – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens

(Art. 226 EG und 234 EG)

Leitsätze

1. Der Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, folgt aus dem Wesen der mit dem EG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung. Die Geschädigten haben einen Entschädigungsanspruch, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: die gemeinschaftsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt die Verleihung von Rechten an die Geschädigten, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.

Was die erste Voraussetzung angeht, hat Art. 28 EG in dem Sinne unmittelbare Wirkung, dass er dem Einzelnen Rechte verleiht, die er unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend machen kann, und die Verletzung dieser Bestimmung kann zu einer Entschädigung führen.

Das Recht aus Art. 28 EG wird durch die Richtlinien 64/433 über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das Inverkehrbringen von frischem Fleisch in der durch die Richtlinie 91/497 geänderten Fassung und 89/662 zur Regelung der veterinärrechtlichen Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt präzisiert und konkretisiert. Der freie Warenverkehr ist nämlich eines der Ziele dieser Richtlinien, die darauf gerichtet sind, den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr durch die Beseitigung der derzeitigen Unterschiede zwischen den Gesundheitsvorschriften der Mitgliedstaaten für frisches Fleisch zu fördern. Insbesondere das an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, Einfuhren von frischem Fleisch zu verhindern, außer wenn die Ware die Bedingungen der Gemeinschaftsrichtlinien nicht erfüllt, oder unter ganz besonderen Umständen wie z. B. während einer Epidemie, verleiht dem Einzelnen das Recht, frisches Fleisch, das den Anforderungen der Gemeinschaft entspricht, in einem anderen Mitgliedstaat zu vermarkten.

Daher können sich Einzelne, die durch Fehler bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinien 64/433 und 89/662 geschädigt wurden, für die Auslösung der Staatshaftung wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht auf das Recht auf freien Warenverkehr berufen.

(vgl. Randnrn. 19-20, 22-24, 26, Tenor 1)

2. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den vollen Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Daher hat der Staat die Folgen des dem Einzelnen durch den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten Voraussetzungen, insbesondere Fristerfordernisse, die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität einhalten müssen.

Was den Effektivitätsgrundsatz angeht, ist die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine nationale Verjährungsfrist von drei Jahren angemessen.

Jedoch muss eine Verjährungsfrist im Voraus festgelegt werden, um ihren Zweck, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen. Eine durch erhebliche Rechtsunsicherheit geprägte Situation kann einen Verstoß gegen den Grundsatz der Effektivität darstellen, da der Ersatz von Schäden, die Einzelnen durch einem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, außerordentlich erschwert werden könnte, wenn diese nicht in der Lage wären, die anwendbare Verjährungsfrist mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Ereignisse im Hinblick auf den Grundsatz der Effektivität zu prüfen, ob die analoge Anwendung der in einer nationalen Regelung vorgesehenen Frist auf Ersatzansprüche für Schäden, die auf einen Verstoß des betreffenden Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht zurückzuführen sind, für den Einzelnen hinreichend vorhersehbar war.

Was die Vereinbarkeit der analogen Anwendung einer solchen Frist mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit betrifft, ist es ebenfalls Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für den Ersatz von Schäden, die Einzelnen durch den Verstoß des betreffenden Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, wegen einer solchen analogen Anwendung nicht möglicherweise ungünstiger waren als diejenigen für den Ersatz vergleichbarer Schäden innerstaatlicher Natur.

(vgl. Randnrn. 31-35)

3. Das Gemeinschaftsrecht verlangt nicht, dass die in der nationalen Regelung vorgesehene Verjährung des Staatshaftungsanspruchs wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht während eines von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 226 EG anhängig gemachten Vertragsverletzungsverfahrens unterbrochen oder gehemmt wird.

Dem Einzelnen wird die Ausübung der ihm durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht dadurch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert, dass die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage nicht die Verjährung unterbricht oder hemmt, da er Schadensersatz nach den dafür im nationalen Recht vorgesehenen Verfahrensmodalitäten geltend machen kann, ohne ein den Verstoß des Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht feststellendes Urteil abwarten zu müssen.

Zudem ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Verfahrens nach Art. 226 EG im Vergleich zu nationalen Verfahrensregelungen bei einer nationalen Regelung, die keine Unterbrechung oder Hemmung der Verjährung vorsieht, wenn die Kommission ein solches Verfahren anhängig gemacht hat, der Grundsatz der Gleichwertigkeit gewahrt.

(vgl. Randnrn. 39, 42, 45-46, Tenor 2)

4. Das Gemeinschaftsrecht verwehrt nicht, die Verjährungsfrist für einen Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie zu dem Zeitpunkt in Lauf zu setzen, in dem die ersten Schadensfolgen der fehlerhaften Umsetzung eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind, selbst wenn dieser Zeitpunkt vor der ordnungsgemäßen Umsetzung dieser Richtlinie liegt.

Dass die Verjährungsfrist des nationalen Rechts in diesem Zeitpunkt zu laufen beginnt, kann nämlich die Ausübung der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

(vgl. Randnrn. 49, 56, Tenor 3)

5. Das Gemeinschaftsrecht steht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der ein Einzelner keinen Ersatz für einen Schaden verlangen kann, bei dem er es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, ihn durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden, vorausgesetzt, dass der Gebrauch dieses Rechtsmittels dem Geschädigten zumutbar ist; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies anhand aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das nationale Gericht nach Art. 234 EG ein Vorabentscheidungsersuchen stellt, oder eine beim Gerichtshof anhängige Vertragsverletzungsklage lassen für sich genommen nicht den Schluss zu, dass der Gebrauch eines Rechtsmittels unzumutbar ist.

Erstens können nämlich die im Anschluss an ein Vorabentscheidungsersuchen erhaltenen Hinweise dem nationalen Gericht die Anwendung des Gemeinschaftsrechts erleichtern, so dass der Rückgriff auf dieses Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten keineswegs dazu beiträgt, dem Einzelnen die Ausübung der ihm durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren. Daher wäre es nicht sinnvoll, von einem Rechtsmittel allein deshalb keinen Gebrauch zu machen, weil dieses möglicherweise Anlass zu einem Vorabentscheidungsersuchen gibt.

Das Verfahren nach Art. 226 EG ist zweitens völlig unabhängig von den nationalen Verfahren und ersetzt diese nicht. Eine Vertragsverletzungsklage stellt nämlich eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Allgemeininteresse dar. Auch wenn das Ergebnis einer solchen Klage Individualinteressen dienen kann, bleibt es für den Einzelnen gleichwohl zumutbar, den Schaden mit Hilfe aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel, also auch durch die Inanspruchnahme der verfügbaren Rechtsschutzmöglichkeiten, abzuwenden.

(vgl. Randnrn. 65, 67, 69, Tenor 4)

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