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Document 62006CJ0210

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Einzelstaatliches Gericht im Sinne von Art. 234 EG – Begriff

    (Art. 234 EG)

    2. Vorabentscheidungsverfahren – Zulässigkeit – Grenzen

    (Art. 234 EG)

    3. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Vorlagepflicht

    (Art. 234 Abs. 3 EG)

    4. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Befugnisse der nationalen Gerichte

    (Art. 234 EG)

    5. Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit

    (Art. 43 EG und 48 EG)

    Leitsätze

    1. Ein Gericht, bei dem eine Berufung gegen die Entscheidung eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts anhängig ist, das einen Antrag auf Änderung einer Angabe in diesem Register abgelehnt hat, ist als Gericht anzusehen, das nach Art. 234 EG zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist, obwohl weder die Entscheidung des Handelsregistergerichts in einem streitigen Verfahren ergeht noch die Prüfung der Berufung durch das vorlegende Gericht in einem solchen erfolgt.

    Handelt ein mit der Führung eines Registers betrautes Gericht als Verwaltungsbehörde, ohne dass es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass es eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt; dagegen ist bei einem Gericht, das mit einer Berufung gegen die Entscheidung eines vorinstanzlichen Gerichts befasst ist, das mit der Führung eines Registers betraut ist und einem solchen Eintragungsantrag nicht stattgeben will, ein Rechtsstreit anhängig, und es übt eine Rechtsprechungstätigkeit aus, weil diese Berufung die Aufhebung eines Rechtsakts zum Gegenstand hat, der ein Recht des Antragstellers verletzen soll. Daher ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall grundsätzlich als Gericht im Sinne von Art. 234 EG anzusehen, das zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist.

    (vgl. Randnrn. 57-59, 63, Tenor 1)

    2. Es spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.

    Diese Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit wird bei einer die Qualifizierung eines Gerichts als Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, betreffenden Vorlagefrage nicht dadurch widerlegt, dass dieses Gericht seine Frage dem Gerichtshof bereits zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Es wäre mit dem Geist der Zusammenarbeit, der den Beziehungen zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof zugrunde liegen soll, und dem Gebot der Verfahrensökonomie unvereinbar, wenn das nationale Gericht zunächst allein die Frage, ob es zu den in Art. 234 Abs. 3 EG genannten Gerichten gehört, zur Vorabentscheidung vorlegen müsste, um dann gegebenenfalls mit einem zweiten Vorabentscheidungsersuchen Fragen zu den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen vorzulegen, auf die es für die Begründetheit der bei ihm anhängigen Klage ankommt.

    Diese Vermutung der Entscheidungserheblichkeit ist auch nicht in einer Situation der Ungewissheit über die hypothetische Natur des Rechtsstreits widerlegt. Eine solche Ungewissheit besteht, wenn es die dem Gerichtshof für eine Entscheidung über die etwaige Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung über die Berufung gegen eine Entscheidung, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten, mit Art. 234 EG zur Verfügung stehenden Informationen nicht erlauben, festzustellen, dass gegen diese Entscheidung keine Berufung eingelegt worden ist oder mehr eingelegt werden kann, so dass die Entscheidung rechtskräftig geworden ist und die Frage zur Unvereinbarkeit in der Tat hypothetisch wäre.

    (vgl. Randnrn. 67, 70, 73, 83-86)

    3. Ein Gericht, dessen in einem Rechtsstreit ergangene Entscheidungen Gegenstand einer Revision sein können, kann auch dann nicht als Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG angesehen werden, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, wenn das Verfahren, in dem über den Rechtsstreit entschieden werden muss, Beschränkungen hinsichtlich der Art der Rechtsmittelgründe vorsieht, die vor diesem Gericht geltend gemacht werden können, nämlich, dass eine Rechtsverletzung gerügt werden muss.

    Solche Beschränkungen führen nämlich ebenso wenig wie die fehlende aufschiebende Wirkung der Revision dazu, dass den Parteien, die vor einem Gericht aufgetreten sind, dessen Entscheidungen mit einer solchen Revision angegriffen werden können, die Möglichkeit genommen wird, ihr Recht, gegen die Entscheidung dieses über den Rechtsstreit befindenden Gerichts ein solches Rechtsmittel einzulegen, wirksam auszuüben. Diese Beschränkungen und die fehlende aufschiebende Wirkung bedeuten daher nicht, dass dieses Gericht als ein Gericht zu betrachten ist, gegen dessen Entscheidungen kein Rechtsmittel eingelegt werden kann.

    (vgl. Randnrn. 77-79, Tenor 2)

    4. Art. 234 Abs. 2 EG ist bei nationalen Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, dahin auszulegen, dass die mit dieser Vertragsbestimmung den nationalen Gerichten eingeräumte Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nicht durch die Anwendung dieser Rechtsvorschriften in Frage gestellt werden darf, nach denen das Rechtsmittelgericht die Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof beschlossen wird, abändern, außer Kraft setzen und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgeben kann, das nationale Verfahren, das ausgesetzt worden war, fortzusetzen.

    Denn Art. 234 EG schließt im Hinblick auf ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zwar nicht aus, dass gegen die Entscheidungen, mit denen dieses Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht, die normalen Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben sind; die Entscheidung über ein solches Rechtsmittel kann jedoch nicht die dem vorlegenden Gericht durch Art. 234 EG eingeräumte Befugnis einschränken, den Gerichtshof anzurufen, wenn es meint, dass eine bei ihm anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, die eine Entscheidung des Gerichtshofs erfordern.

    Darüber hinaus bleibt es einem erstinstanzlichen Gericht in dem Fall, dass es nach Aufhebung eines von ihm erlassenen Urteils durch ein höchstrichterliches Gericht ein zweites Mal mit einer Rechtssache befasst ist, unbenommen, den Gerichtshof nach Art. 234 EG anzurufen, auch wenn eine innerstaatliche Rechtsnorm besteht, die die Gerichte an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten Gerichts bindet.

    Bei Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, wäre die dem erstinstanzlichen Gericht durch Art. 234 EG eingeräumte selbständige Befugnis, den Gerichtshof anzurufen, in Frage gestellt, wenn das Berufungsgericht dadurch, dass es die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, abändert, außer Kraft setzt und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgibt, das ausgesetzte Verfahren fortzusetzen, das vorlegende Gericht daran hindern könnte, von der ihm durch den Vertrag eingeräumten Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs Gebrauch zu machen.

    Nach Art. 234 EG liegt die Beurteilung der Erheblichkeit und der Erforderlichkeit der Vorabentscheidungsfrage nämlich in der alleinigen Verantwortung des Gerichts, das das Vorabentscheidungsersuchen beschließt, vorbehaltlich der eingeschränkten Überprüfung, die der Gerichtshof vornimmt. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die Konsequenzen aus dem Urteil über das Rechtsmittel gegen die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, zu ziehen und gegebenenfalls festzustellen, dass sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten, abzuändern oder zurückzuziehen ist.

    Daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof in dem Fall, dass gegen die Entscheidung des vorlegenden Gerichts, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ein Rechtsmittel eingelegt werden kann, auch im Interesse der Klarheit und der Rechtssicherheit, an die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen worden ist, gebunden ist; diese muss ihre Wirkungen entfalten, solange sie nicht von dem Gericht, das sie erlassen hat, aufgehoben oder geändert worden ist, denn nur dieses Gericht kann eine solche Aufhebung oder Änderung beschließen.

    (vgl. Randnrn. 93-98, Tenor 3)

    5. Die Art. 43 EG und 48 EG sind beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.

    In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, anhand einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt, ist die Frage, ob Art. 43 EG auf eine Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte Niederlassungsfreiheit beruft, nämlich ebenso wie die Frage, ob eine natürliche Person ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich aus diesem Grund auf diese Freiheit berufen kann, gemäß Art. 48 EG eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann. Nur wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG genannten Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, stellt sich die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit im Sinne des Art. 43 EG gegenübersieht.

    Ein Mitgliedstaat kann somit sowohl die Anknüpfung bestimmen, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht gegründet angesehen werden und damit in den Genuss der Niederlassungsfreiheit gelangen zu können, als auch die Anknüpfung, die für den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Diese Befugnis umfasst die Möglichkeit für diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behalten, wenn sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht.

    Darüber hinaus haben die in Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG und Art. 293 EG vorgesehenen legislativen und vertraglichen Arbeiten im Bereich des Gesellschaftsrechts bisher nicht die Unterschiede der nationalen Rechtsvorschriften hinsichtlich des Anknüpfungspunkts bei Gesellschaften betroffen, so dass diese nach wie vor bestehen. Zwar enthalten bestimmte Verordnungen, wie die Verordnung Nr. 2137/85 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung, die Verordnung Nr. 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft und die Verordnung Nr. 1435/2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft, die auf der Grundlage von Art. 308 EG erlassen wurden, tatsächlich eine Regelung, wonach die mit ihnen eingeführten neuen Rechtsformen ihren satzungsmäßigen Sitz und damit auch ihren wahren Sitz, die nämlich in demselben Mitgliedstaat gelegen sein müssen, in einen anderen Mitgliedstaat verlegen können, ohne dass dies zur Auflösung der ursprünglichen juristischen Person und zur Schaffung einer neuen juristischen Person führt; eine solche Verlegung bringt aber dennoch zwangsläufig die Änderung des auf die betreffende Einheit anwendbaren nationalen Rechts mit sich.

    Möchte eine Gesellschaft jedoch nur ihren wahren Sitz von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen und zugleich eine Gesellschaft des inländischen Rechts bleiben, also ohne dass sich das anwendbare nationale Recht änderte, kann eine entsprechende Anwendung dieser Verordnungen in einem solchen Fall jedenfalls nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen.

    (vgl. Randnrn. 109-110, 114-115, 117, 119, Tenor 4)

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