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Document 61999CJ0199

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Rechtsmittel - Gründe - Verfahrensfehler - Entscheidung, die auf Tatsachen oder Unterlagen gestützt ist, die einer Partei unbekannt sind - Verletzung der Verteidigungsrechte

(EGKS-Satzung des Gerichtshofes, Artikel 51)

2. Verfahren - Dauer des Verfahrens vor dem Gericht - Angemessene Dauer - Beurteilungskriterien

3. Rechtsmittel - Gründe - Fehlerhafte Tatsachenwürdigung - Unzulässigkeit - Zurückweisung

(Artikel 32d § 1 KS; EGKS-Satzung des Gerichtshofes, Artikel 51)

4. Verfahren - Beweisaufnahme - Antrag auf Vorlage eines Schriftstücks - Ermessen des Gerichts

(Verfahrensordnung des Gerichts, Artikel 49 und 65 Buchstabe b)

5. EGKS - Kartelle - Geldbußen - Höhe - Bestimmung - Kriterien - Wettbewerbswidrige Wirkungen der Zuwiderhandlung - Kein ausschlaggebendes Kriterium

(EGKS-Vertrag, Artikel 65 § 5)

6. EGKS - Kartelle - Verabredete Praktiken - Begriff - Kriterien der Koordination und der Zusammenarbeit - Auslegung - Vereinbarung über den Informationsaustausch

(EGKS-Vertrag, Artikel 65 § 1; Artikel 81 Absatz 1 EG)

7. EGKS - Kartelle - Verwaltungsverfahren - Recht auf Akteneinsicht - Zweck - Gewährleistung einer wirksamen Inanspruchnahme der Verteidigungsrechte - Verletzung - Ahndung trotz der Gewährung von Einsicht im Gerichtsverfahren, wenn die Akten Schriftstücke enthalten, die zur Verteidigung des Unternehmens hätten dienlich sein können

(EGKS-Vertrag, Artikel 65 § 1)

8. Handlungen der Organe - Begründungspflicht - Umfang - Entscheidung, mit der wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln Geldbußen verhängt werden - Bloße Erwünschtheit der Mitteilung der Berechnungsmethode für die Geldbuße

(EGKS-Vertrag, Artikel 15 Absatz 1 und 65 § 5)

Leitsätze

1. Der Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte stellt einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar. Gegen diesen Grundsatz würde es verstoßen, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke gegründet würde, von denen die Parteien selbst - oder eine von ihnen - keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten.

( vgl. Randnr. 19 )

2. Der allgemeine Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess und insbesondere auf einen Prozess innerhalb einer angemessenen Frist hat, gilt auch für eine Klage gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der diese gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht Geldbußen verhängt.

Die Angemessenheit der Frist ist anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache und insbesondere anhand der Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, der Komplexität der Rechtssache sowie des Verhaltens des Klägers und der zuständigen Behörden zu beurteilen.

Die Liste dieser Kriterien ist nicht abschließend, und die Beurteilung der Angemessenheit der Frist erfordert keine systematische Prüfung der Umstände des Falles anhand jedes Kriteriums, wenn die Dauer des Verfahrens anhand eines von ihnen gerechtfertigt erscheint. Mittels dieser Kriterien soll geklärt werden, ob die Dauer der Behandlung einer Rechtssache gerechtfertigt war. Die Komplexität der Sache oder vom Kläger herbeigeführte Verzögerungen können daher herangezogen werden, um eine auf den ersten Blick zu lange Dauer zu rechtfertigen. Umgekehrt kann die Verfahrensdauer auch anhand nur eines Kriteriums als unangemessen eingestuft werden; dies gilt insbesondere dann, wenn sie aus dem Verhalten der zuständigen Behörden resultiert. Gegebenenfalls kann die Dauer eines Verfahrensabschnitts ohne weiteres als angemessen eingestuft werden, wenn sie der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer einer derartigen Sache entspricht.

( vgl. Randnrn. 41-43 )

3. Nach den Artikeln 32d § 1 KS und 51 der EGKS-Satzung des Gerichtshofes ist das Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt. Daher ist allein das Gericht für die Feststellung und Beurteilung der relevanten Tatsachen sowie die Beweiswürdigung zuständig, vorbehaltlich einer Verfälschung des Sachverhalts oder der Beweismittel.

( vgl. Randnr. 65 )

4. Es ist Sache des Gemeinschaftsrichters, gemäß den Bestimmungen der Verfahrensordnung über die Beweisaufnahme anhand der Umstände des Rechtsstreits zu entscheiden, ob die Vorlage eines Schriftstücks erforderlich ist. Für das Gericht ergibt sich aus Artikel 49 in Verbindung mit Artikel 65 Buchstabe b seiner Verfahrensordnung, dass die Aufforderung zur Vorlage von Schriftstücken zu den Beweiserhebungen gehört, die das Gericht in jedem Verfahrensstadium anordnen kann, wenn es sie zum Beweis der Echtheit für erforderlich hält.

( vgl. Randnrn. 67, 70 )

5. Auch ohne wettbewerbswidrige Wirkungen kann eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 65 § 1 EGKS-Vertrag festgestellt und gemäß § 5 dieses Artikels eine Geldbuße festgesetzt werden. Die mögliche Auswirkung einer Vereinbarung oder einer verabredeten Praxis auf den normalen Wettbewerb ist daher bei der Beurteilung der angemessenen Höhe der Geldbuße kein ausschlaggebendes Kriterium. Gesichtspunkte, die die Intention und damit den Zweck eines Verhaltens betreffen, können nämlich größere Bedeutung haben als solche, die dessen Wirkungen betreffen, vor allem, wenn es sich dem Wesen nach um schwere Zuwiderhandlungen wie die Preisfestsetzung und die Marktaufteilung handelt.

( vgl. Randnr. 80 )

6. Eine Vereinbarung über den Informationsaustausch verstößt gegen die Wettbewerbsregeln, wenn sie den Grad der Ungewissheit über das fragliche Marktgeschehen verringert oder beseitigt und dadurch zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt.

Die Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit, die Voraussetzungen für eine abgestimmte Verhaltensweise sind, verlangen nämlich nicht die Ausarbeitung eines eigentlichen Plans"; sie sind vielmehr im Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags und des EGKS-Vertrags zu verstehen, wonach jeder Wirtschaftsteilnehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Gemeinsamen Markt betreiben und welche Bedingungen er seiner Kundschaft gewähren will.

Es ist zwar richtig, dass dieses Selbständigkeitspostulat den Wirtschaftsteilnehmern nicht das Recht nimmt, sich dem festgestellten oder erwarteten Verhalten ihrer Wettbewerber auf intelligente Weise anzupassen; es steht jedoch streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen den Wirtschaftsteilnehmern entgegen, die bezweckt oder bewirkt, dass Wettbewerbsbedingungen entstehen, die im Hinblick auf die Art der Waren oder erbrachten Dienstleistungen, die Bedeutung und Zahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Bedingungen dieses Marktes entsprechen.

( vgl. Randnrn. 105-107 )

7. Der Zweck der Akteneinsicht in Wettbewerbssachen besteht insbesondere darin, es den Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte zu ermöglichen, von den in den Akten der Kommission enthaltenen Beweismitteln Kenntnis zu nehmen, damit sie auf deren Grundlage zu den Schlussfolgerungen, zu denen die Kommission in ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte gelangt ist, sachgerecht Stellung nehmen können. Somit soll durch die Einsicht in die Akten der Kommission die wirksame Inanspruchnahme der Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

Die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht im Verfahren vor dem Erlass der Entscheidung kann daher grundsätzlich deren Nichtigerklärung nach sich ziehen, wenn die Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens beeinträchtigt worden sind. In einem solchen Fall wird die eingetretene Verletzung nicht durch den bloßen Umstand geheilt, dass die Akteneinsicht im Gerichtsverfahren im Rahmen einer eventuellen Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung ermöglicht worden ist. Wurde die Einsicht in diesem Stadium gewährt, so braucht das betroffene Unternehmen nicht zu beweisen, dass die Entscheidung der Kommission anders gelautet hätte, wenn es Einsicht in die nicht übermittelten Unterlagen erhalten hätte, sondern lediglich, dass die fraglichen Schriftstücke zu seiner Verteidigung hätten dienlich sein können.

( vgl. Randnrn. 125-128 )

8. Die Pflicht zur Begründung einer Einzelentscheidung hat den Zweck, dem Gerichtshof die Überprüfung der Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu ermöglichen und den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung begründet oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht.

Im Rahmen der Pflicht zur Begründung einer Entscheidung, mit der gegen mehrere Unternehmen wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft Geldbußen verhängt werden, sind Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbußen, so nützlich und wünschenswert sie auch sein mögen, nicht unabdingbar, da die Kommission jedenfalls nicht durch den ausschließlichen und mechanischen Rückgriff auf mathematische Formeln auf ihr Ermessen verzichten darf.

Der Umstand, dass nur die Vorlage dieser Zahlen es ermöglichte, einige Berechnungsfehler aufzudecken, reicht nicht aus, um die Begründung der streitigen Entscheidung als unzureichend anzusehen, da sich der Gemeinschaftsrichter im Rahmen der Kontrolle einer solchen Entscheidung alle Angaben vorlegen lassen kann, die erforderlich sind, um ihm eine eingehende Kontrolle der Berechnungsweise der Geldbuße zu ermöglichen.

( vgl. Randnrn. 145, 149-150 )

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