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Document 61993CJ0430
Leitsätze des Urteils
Leitsätze des Urteils
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Gemeinschaftsrecht ° Unmittelbare Wirkung ° Individualrechte ° Schutz durch die nationalen Gerichte ° Gerichtliche Rechtsbehelfe ° Nationale Verfahrensvorschriften ° Voraussetzungen für die Anwendung ° Prüfung der Frage eines Verstosses gegen das Gemeinschaftsrecht von Amts wegen ° Grenzen ° Grundsatz der Parteiherrschaft im Zivilverfahren
(EWG-Vertrag, Artikel 3 Buchstabe f, 5, 85, 86, 90 und 177)
Ein nationales Gericht hat in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, zwingende gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen wie die Artikel 3 Buchstabe f, 85, 86 und 90 EWG-Vertrag, sofern das nationale Recht eine derartige Anwendung gestattet, auch dann anzuwenden, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat.
Denn die nationalen Gerichte haben aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht aus Artikel 5 des Vertrages den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergibt.
Das Gemeinschaftsrecht gebietet es den nationalen Gerichten jedoch nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstosses gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu prüfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat.
Denn die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten. Jedoch dürfen diese Verfahren nicht ungünstiger gestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren. Eine Vorschrift des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Artikel 177 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, muß insoweit unangewendet bleiben.
Jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermässig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemässe Ablauf des Verfahrens.
In diesem Zusammenhang ist der Grundsatz des nationalen Rechts, daß die Initiative in einem Zivilprozeß den Parteien zusteht und das Gericht nur in Ausnahmefällen, in denen das öffentliche Interesse sein Eingreifen erfordert, von Amts wegen tätig werden darf, Ausdruck der von den meisten Mitgliedstaaten geteilten Auffassungen vom Verhältnis zwischen Staat und Individuum; er schützt die Verteidigungsrechte und gewährleistet den ordnungsgemässen Ablauf des Verfahrens, insbesondere indem er dieses vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahrt.