EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 61992TJ0006

Leitsätze des Urteils

Verbundene Rechtssachen T-6/92 und T-52/92

Andreas Hans Reinarz

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Beamter — Beschwerende Maßnahme — Erstattung der Kosten der Krankenpflege — Kürzung der Erstattungen“

Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 26. Oktober 1993   II-1052

Leitsätze des Urteils

  1. Beamte – Klage – Beschwerende Maßnahme – Begriff – Informationsschreiben, das Verwaltungsauskünfte enthält – Ausschluß

    (Beamtenstatnt, Artikel 91)

  2. Beamte – Klage – Klage, mit der ohne Vorliegen einer beschwerenden Maßnahme die Rechtmäßigkeit einer Norm zur Prüfung gestellt wird – Unzulässigkeit

    (Beamtenstatut, Artikel 91)

  3. Einwand der Rechtswidrigkeit – Bedeutung – Handlungen, deren Rechtswidrigkeit eingewandt werden kann – Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften

    (EWG-Vertrag, Artikel 184)

  4. Beamte – Soziale Sicherheit – Krankenversicherung – Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften – Erlaß im gegenseitigen Einvernehmen der Organe – Zulässigkeit – Voraussetzungen

    (Beamtenstatut, Artikel 72 Absatz 1)

  5. Beamte – Soziale Sicherheit – Krankenversicherung – Krankheitskosten – Krankenpflegekosten – Erstattungshöchstbeträge – Zulässigkeit – Voraussetzungen

    (Beamtenstatut, Artikel 72 Absatz 1; Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge, Anhang I, Abschnitt X)

  6. Beamte – Soziale Sicherheit – Krankenversicherung – Krankheitskosten – Krankenpflegekosten – Änderung der Regelung mit der Wirkung einer Kürzung der Erstattung – Kein Verstoß gegen die Grundsätze der wohlerworbenen Rechte und des Vertrauensschutzes

    (Beamtenstatut, Artikel 72 Absatz 1; Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge, Anhang I, Abschnitt X)

  7. Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Bedeutung

    (Beamtenstatut, Artikel 24)

  8. Beamte – Klage – Vorherige Verwaltungsbeschwerde – Gleicher Gegenstand und Grund – Vorbringen, das sich in der Beschwerde nur als Verweis auf andere Schriftstücke findet – Zulässigkeit

    (Beamtenstatut, Artikel 90 f.)

  9. Beamte – Gleichbehandlung – Aktive und Ruhestandsbeamte – Gleiche Krankheitskostenerstattung – Keine Diskriminierung

    (Beamtenstatut, Artikel 72 Absatz 1; Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge, Anhang I, Abschnitt X)

  10. Beamte – Soziale Sicherheit – Krankenversicherung – Krankheitskosten – Erstattungssätze und -bedingungen – Beherrschung der Ausgaben und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

    (Beamtenstatut, Artikel 72 Absatz 1; Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge, Anhang I, Abschnitt X)

  1.  Beschwerende Maßnahmen im Sinne des Artikels 91 Absatz 1 Beamtenstatut sind nur solche, die die Rechtsstellung eines Beamten unmittelbar beeinträchtigen können, was bei einfachen Informationsschreiben, die lediglich Verwaltungsauskünfte enthalten, nicht der Fall ist. Um ein solches Schreiben handelt es sich, wenn der Betroffene nur vom Inkrafttreten und dem Inhalt einer neuen Regelung zur Sicherstellung der Krankkeitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften unterrichtet wird.

  2.  Im Rahmen einer Klage nach Artikel 91 Beamtenstatut ist das Gericht nur zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer den Kläger beschwerenden Maßnahme zuständig. Fehlt es an einer besonderen Durchführungsmaßnahme, so kann es sich nicht abstrakt über die Rechtmäßigkeit einer generellen Norm wie der Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften auslassen.

  3.  Artikel 184 des Vertrages ist Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes, der jeder Partei das Recht gewährleistet, zum Zwecke der Nichtigerklärung einer sie unmittelbar und individuell betreffenden Entscheidung die Gültigkeit derjenigen früheren Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane zu bestreiten, welche die Rechtsgrundlage für die angegriffene Entscheidung bilden. Folglich kann dieser Einwand nicht auf Rechtshandlungen beschränkt werden, die in Form der in Artikel 184 allein angesprochenen Verordnung ergangen sind, sondern muß weit ausgelegt werden in dem Sinne, daß er alle Rechtshandlungen allgemeinen Charakters erfaßt.

    Die Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften, die zur Durchführung des Artikels 72 Absatz 1 Beamtenstatut erlassen wurde, regelt die Erstattung der Krankheitskosten und ist eine generelle Norm, da sie auf objektiv umschriebene Sachverhalte Anwendung findet und Rechtswirkungen gegenüber Personengruppen entfaltet, die allgemein und abstrakt festgelegt sind. Folglich kann diese Regelung, obwohl sie nicht in Form einer Verordnung ergangen ist, mit dem Einwand der Rechtswidrigkeit angegriffen werden.

    Die Tragweite des Einwands der Rechtswidrigkeit ist aber auf das zu beschränken, was entscheidungserheblich ist. Die generelle Norm, deren Rechtswidrigkeit geltend gemacht wird, muß daher unmittelbar oder mittelbar auf den Fall anwendbar sein, der Gegenstand der Klage ist, und zwischen der angefochtenen Einzelfallentscheidung und der fraglichen generellen Norm muß ein unmittelbar rechtlicher Zusammenhang bestehen.

  4.  Das Statut enthält nicht alle im Bereich der sozialen Sicherheit der Beamten anwendbaren Normen. Nach Artikel 72 Absatz 1 Beamtenstatut sind die Organe der Gemeinschaft befugt, im gegenseitigen Einvernehmen Bestimmungen zur Ergänzung des Statuts zu erlassen. Diese Ermächtigung entspricht den Grundsätzen des Vertrages. Es handelt sich nämlich nicht um eine Übertragung der Rechtsetzungskompetenz im eigentlichen Sinne des Wortes auf die anderen Organe, da der Erlaß der Regelung das Einvernehmen der Organe, mithin auch das des Rates, der die Befugnisse übertragen hat, voraussetzt.

    Artikel 72 Absatz 1 Beamtenstatut überläßt es der Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften, unter Beachtung der Vorschriften des Statuts und der von diesem verfolgten Zwecke den Geltungsbereich dieser Krankheitsfürsorge näher zu regeln.

  5.  Artikel 72 Beamtenstatut enthält keine eigenen Bestimmungen über die Erstattung von Krankenpflegekosten. Daher muß die Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften einschlägige Bestimmungen enthalten.

    Artikel 72 gibt den Versicherten des Gemeinsamen Krankenversicherungssystems keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten in Höhe von 80, 85 bzw. 100 %. Diese Sätze stellen die Höchstgrenze der Erstattungen dar und legen den Organen nicht die Verpflichtung auf, in allen Fällen Erstattungen zum angegebenen Prozentsatz zu gewähren.

    Die Festsetzung von Erstattungshöchstsätzen in den Durchführungsbestimmungen, die die Finanzierung des Krankenversicherungssystems sicherstellen soll, verstößt so lange nicht gegen Artikel 72 Beamtenstatut, als die Gemeinschaftsorgane bei der Festsetzung dieser Höchstsätze den Grundsatz des sozialen Schutzes beachten, wie er diesem Artikel zugrundeliegt.

  6.  Artikel 72 Absatz 1 Beamtenstatut und die Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften sehen für Krankenpflegekosten keine festen Erstattungssätze, sondern nur Höchstsätze vor. Die Versicherten können daher aus dem Umstand, daß die Anwendung dieses Artikels durch die Gemeinschaftsorgane während eines bestimmten Zeitraums ihnen besonders günstig war, keine wohlerworbenen Rechte herleiten. Da zudem im Gebiet der Krankheitskostenerstattung eine ständige Anpassung der anwendbaren Vorschriften nach Maßgabe der verfügbaren Mittel und der Notwendigkeit der Sicherstellung der Finanzierung erforderlich ist, steht einer Kürzung der Erstattung bestimmter Leistungen für die Zukunft nicht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegen.

  7.  Die Beistandspflicht nach Artikel 24 Beamtenstatut betrifft den Schutz der Beamten durch das Organ gegen das Vorgehen Dritter, nicht aber gegen Handlungen des Organs selbst, für deren Überprüfung andere Bestimmungen des Statuts gelten.

  8.  Die erforderliche Übereinstimmung der in der Beschwerde erhobenen mit den in der Klage geltend gemachten Rügen soll eine einverständliche Beilegung des Streits zwischen dem Beamten und der Verwaltung ermöglichen und fördern. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die Verwaltung von den Beschwerdepunkten oder Wünschen des Betroffenen Kenntnis nehmen kann. Das ist der Fall, wenn die Rüge sich nicht ausdrücklich in der Beschwerde, sondern in früheren Beschwerden findet, auf die sie verweist.

  9.  Eine Diskriminierung liegt vor, wenn unterschiedliche Situationen gleich und gleiche Situationen unterschiedlich behandelt werden.

    Bei der Krankenversicherung sind Ruhestandsbeamte nicht als eigene Versichertengruppe zu betrachten, die allein deshalb, weil sie aus früheren Beamten besteht, in höherem Maße dem Risiko von Krankenpflegekosten ausgesetzt ist. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein allgemeines Lebensrisiko, das sich bei jedem aktiven oder Ruhestandsbeamten verwirklichen kann. Zwar mögen Beamte in fortgeschrittenem Alter höhere Kosten für eine langwierige Krankheit aufzuwenden haben, doch darf man erwarten, daß sie rechtzeitig angemessene finanzielle Vorkehrungen getroffen haben. Angesichts des Artikels 71 Absatz 1 Beamtenstatut, der lediglich Höchsterstattungssätze vorsieht, blieben und bleiben solche Vorkehrungen angezeigt, da eine Herabsetzung des Erstattungssatzes jederzeit möglich ist. Wenn solche Vorkehrungen nicht getroffen wurden, kann dies den Verfassern weder des Statuts noch der Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften als Diskriminierung angelastet werden.

  10.  Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert, daß Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was für die Erreichung des verfolgten Ziels angemessen und erforderlich ist, wobei unter mehreren geeigneten Maßnahmen die am wenigsten belastende zu wählen ist.

    Wird er auf die Bestimmungen über die Erstattungssätze und-bedingungen von Krankheitskosten im Rahmen der Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften angewandt, so kann er angesichts der komplexen Probleme, die die Sicherstellung der Finanzierung des gemeinsamen Systems mit sich bringt und die einen weiten Gestaltungsspielraum der Gemeinschaftsorgane bedingt, nur dann zur Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Kürzung der Erstattungen führen, wenn diese im Grundsatz oder im Ergebnis im Hinblick auf den angestrebten Sparerfolg offensichtlich unangemessen ist.

Top