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Document 61987CJ0046

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

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    1 . Gemeinschaftsrecht - Grundsätze - Rechte der Verteidigung - Wahrung im Rahmen von Verwaltungsverfahren

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 )

    2 . Gemeinschaftsrecht - Grundsätze - Grundrechte - Recht der natürlichen Personen auf Unverletzlichkeit der Wohnung - Keine Geltung für Unternehmen - Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismässige Eingriffe der öffentlichen Gewalt

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 )

    3 . Wettbewerb - Verwaltungsverfahren - Nachprüfungsbefugnisse der Kommission - Umfang - Zugang zu den Räumlichkeiten der Unternehmen - Grenzen - Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 )

    4 . Wettbewerb - Verwaltungsverfahren - Nachprüfungsbefugnisse der Kommission - Grenzen - Fallgestaltung, bei der die Unterstützung durch die nationalen Behörden erforderlich ist

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 )

    5 . Wettbewerb - Verwaltungsverfahren - Nachprüfungsbefugnisse der Kommission - Unterstützung durch die nationalen Behörden - Festlegung der Verfahrensmodalitäten durch das nationale Recht - Kontrollbefugnis der nationalen Stellen - Grenzen

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 Absatz 6 )

    6 . Handlungen der Organe - Begründungspflicht - Umfang - Entscheidung, mit der eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr . 17 angeordnet wird

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 Absatz 3 )

    7 . Wettbewerb - Verwaltungsverfahren - Entscheidung, mit der eine Nachprüfung angeordnet wird - Erlaß aufgrund einer Ermächtigung - Rechtmässigkeit - Folgen - Festsetzung von Geldbussen bei Nichteinhaltung

    ( Fusionsvertrag, Artikel 17; Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 14 Absatz 3 und Artikel 15 )

    8 . Wettbewerb - Verwaltungsverfahren - Entscheidung, mit der ein Zwangsgeld gegen ein Unternehmen festgesetzt wird - Anhörung des betroffenen Unternehmens und des Beratenden Ausschusses - Vorzeitigkeit gegenüber der endgültigen Festsetzung der Höhe des Zwangsgelds

    ( Verordnung Nr . 17 des Rates, Artikel 15 )

    9 . Handlungen der Organe - Gültigkeitsvermutung - Folgen

    Leitsätze

    1 . Die Wahrung der Rechte der Verteidigung als Grundsatz von fundamentalem Charakter muß nicht nur in Verwaltungsverfahren, die zu Sanktionen führen können, gewährleistet sein, sondern auch in Voruntersuchungsverfahren; insbesondere gilt dies bei Nachprüfungen nach Artikel 14 der Verordnung Nr . 17, die von entscheidender Bedeutung für die Erbringung von Beweisen für rechtswidrige Verhaltensweisen von Unternehmen sein können, die geeignet sind, deren Haftung auszulösen .

    2 . Ein Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung ist in der Gemeinschaftsrechtsordnung als ein dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz zwar für die Privatwohnung natürlicher Personen anzuerkennen, nicht aber für Unternehmen, da die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen gegen behördliche Eingriffe nicht unerhebliche Unterschiede aufweisen . Etwas anderes lässt sich auch nicht aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten .

    Indessen bedürfen in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder - natürlichen oder juristischen - Person einer Rechtsgrundlage und müssen aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein; diese Rechtsordnungen sehen daher, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung, einen Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismässige Eingriffe vor . Das Erfordernis eines solchen Schutzes ist folglich als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen .

    3 . Sowohl aus dem Zweck der Verordnung Nr . 17 als auch aus der Aufzählung der den Bediensteten der Kommission eingeräumten Befugnisse in Artikel 14 dieser Verordnung ergibt sich, daß die Nachprüfungen sehr weit gehen können .

    Dabei kommt dem Recht, alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der Unternehmen zu betreten, insofern besondere Bedeutung zu, als es der Kommission damit ermöglicht werden soll, das Beweismaterial für Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln an den Orten zu sammeln, an denen es sich normalerweise befindet, d . h . in den Geschäftsräumen der Unternehmen .

    Dieses Betretungsrecht wäre nutzlos, wenn sich die Bediensteten der Kommission darauf beschränken müssten, die Vorlage von Unterlagen oder Akten zu verlangen, die sie schon vorher genau bezeichnen können . Es impliziert vielmehr auch die Befugnis, nach anderen Informationsquellen zu suchen, die noch nicht bekannt oder vollständig bezeichnet sind . Ohne eine solche Befugnis wäre es der Kommission unmöglich, die für die Nachprüfung erforderlichen Informationen einzuholen, falls die betroffenen Unternehmen die Mitwirkung verweigern oder eine obstruktive Haltung einnehmen .

    Die Ausübung der weitreichenden Ermittlungsbefugnisse, über die die Kommission verfügt, unterliegt jedoch Bedingungen, die die Beachtung der Rechte der betroffenen Unternehmen gewährleisten sollen . Dabei stellt die Verpflichtung der Kommission zur Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung insofern ein grundlegendes Erfordernis dar, als dadurch nicht nur die Berechtigung des beabsichtigten Eingriffs in den betroffenen Unternehmen aufgezeigt werden soll, sondern auch diese Unternehmen in die Lage versetzt werden sollen, den Umfang ihrer Mitwirkungspflicht zu erkennen und zugleich ihre Verteidigungsrechte zu wahren .

    4 . Bei Nachprüfungen unter Mitwirkung der betroffenen Unternehmen aufgrund einer aus einer Nachprüfungsentscheidung resultierenden Verpflichtung haben die Bediensteten der Kommission unter anderem das Recht, sich die von ihnen angeforderten Unterlagen vorlegen zu lassen, die von ihnen bezeichneten Räume zu betreten und sich den Inhalt der von ihnen angegebenen Möbel zeigen zu lassen . Dagegen können sie sich nicht gewaltsam Zugang zu Räumen oder Möbeln verschaffen oder die Beschäftigten des Unternehmens zwingen, ihnen den Zugang hierzu zu gewähren; sie können auch keine Durchsuchungen ohne Einwilligung der Verantwortlichen des Unternehmens vornehmen .

    Widersetzen sich dagegen die betroffenen Unternehmen der Kommission, können deren Bedienstete auf der Grundlage von Artikel 14 Absatz 6 der Verordnung Nr . 17 ohne Mitwirkung der Unternehmen unter Einschaltung der nationalen Behörden, die ihnen die zur Erfuellung ihrer Aufgabe erforderliche Unterstützung zu gewähren haben, nach allen für die Nachprüfung notwendigen Informationsquellen suchen . Zwar ist diese Unterstützung nur für den Fall vorgeschrieben, daß sich das Unternehmen ausdrücklich widersetzt, jedoch kann sie auch vorsorglich zu dem Zweck angefordert werden, sich über einen etwaigen Widerspruch des Unternehmens hinwegsetzen zu können .

    5 . Aus Artikel 14 Absatz 6 der Verordnung Nr . 17 ergibt sich, daß es Sache des einzelnen Mitgliedstaats ist, die Bedingungen zu regeln, unter denen die nationalen Stellen den Bediensteten der Kommission Unterstützung gewähren . Insoweit haben die Mitgliedstaaten unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts die Wirksamkeit des Vorgehens der Kommission sicherzustellen . Innerhalb der genannten Grenzen bestimmen sich die für die Gewährleistung der Rechte der Unternehmen geeigneten Verfahrensmodalitäten nach nationalem Recht .

    Die Kommission hat die betreffenden nationalen Verfahrensvorschriften zu beachten und ausserdem dafür zu sorgen, daß die nach nationalem Recht zuständige Stelle über alle Mittel verfügt, deren sie bedarf, um die ihr zustehende Kontrollbefugnis ausüben zu können .

    Zwar darf diese Stelle - gleichgültig, ob es sich um ein Gericht handelt oder nicht - nicht die Beurteilung der Notwendigkeit der angeordneten Nachprüfungen durch die Kommission, deren Sach - und Rechtserwägungen lediglich der Rechtmässigkeitskontrolle durch den Gerichtshof unterliegen, durch ihre eigene Beurteilung ersetzen . Jedoch ist die nationale Stelle befugt, nach Feststellung der Echtheit der Nachprüfungsentscheidung zu prüfen, ob die beabsichtigten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich oder, gemessen am Gegenstand der Nachprüfung, unverhältnismässig sind, sowie für die Wahrung der Vorschriften ihres nationalen Rechts bei der Durchführung dieser Maßnahmen zu sorgen .

    6 . Die wesentlichen Teile der Begründung einer Nachprüfungsentscheidung sind in Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr . 17 aufgeführt . Die Verpflichtung der Kommission zur Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung stellt eine grundlegende Garantie für die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen dar . Daher kann der Umfang der Pflicht zur Begründung von Nachprüfungsentscheidungen nicht aufgrund von Erwägungen eingeschränkt sein, die die Wirksamkeit der Untersuchung betreffen . Zwar braucht die Kommission weder dem Adressaten einer Nachprüfungsentscheidung alle ihr vorliegenden Informationen über vermutete Zuwiderhandlungen zu übermitteln, noch muß sie eine strenge rechtliche Qualifizierung dieser Zuwiderhandlungen vornehmen; sie hat aber klar anzugeben, welchen Vermutungen sie nachzugehen beabsichtigt .

    7 . Eine Entscheidung, mit der die Kommission das für Wettbewerbsfragen zuständige Kommissionsmitglied ermächtigt, im Namen und unter der Verantwortung der Kommission Entscheidungen nach Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr . 17 zu erlassen, verletzt nicht den in Artikel 17 des Fusionsvertrags niedergelegten Kollegialitätsgrundsatz . Daher sind die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Entscheidungen als Entscheidungen der Kommission im Sinne von Artikel 15 der Verordnung Nr . 17 anzusehen, bei deren Nichteinhaltung eine Geldbusse festgesetzt werden kann .

    8 . Dem Erlaß einer Entscheidung, mit der gegen ein Unternehmen, das die Duldung einer Nachprüfung nach Artikel 14 der Verordnung Nr . 17 verweigert hat, ein Zwangsgeld in Höhe einer bestimmten Anzahl von Rechnungseinheiten für jeden Tag des Verzugs von einem bestimmten Zeitpunkt an festgesetzt wird, braucht keine Anhörung des betroffenen Unternehmens und des Beratenden Ausschusses für Kartell - und Monopolfragen vorauszugehen . Eine solche Entscheidung ist nämlich nicht vollstreckbar, da in ihr nicht der Gesamtbetrag des Zwangsgelds angegeben ist . Würde man im übrigen verlangen, daß die genannten Anhörungen vor Erlaß einer solchen Entscheidung erfolgen, so würde dies dazu führen, daß der Erlaß der Entscheidung hinausgezögert und damit die Wirksamkeit der Nachprüfungsentscheidung in Frage gestellt würde .

    Jedoch müssen die Anhörung des betroffenen Unternehmens, die ein wesentliches Element des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt, und die Anhörung des Beratenden Ausschusses vor Erlaß der Entscheidung zur endgültigen Festsetzung des Zwangsgelds erfolgen, so daß sowohl das betroffene Unternehmen als auch der Beratende Ausschuß in der Lage sind, sich zu allen Gesichtspunkten, die die Kommission bei der Festsetzung des Zwangsgelds und seiner endgültigen Höhe berücksichtigt hat, in zweckdienlicher Weise zu äussern .

    9 . Alle Rechtssubjekte des Gemeinschaftsrechts sind verpflichtet, die volle Wirksamkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane anzuerkennen, solange diese nicht vom Gerichtshof für ungültig erklärt worden sind, und die Vollziehbarkeit dieser Handlungen zu respektieren, solange der Gerichtshof nicht die Aussetzung ihres Vollzugs angeordnet hat . Verweigert ein Unternehmen jede Art von Mitwirkung am Vollzug einer an sie gerichteten Nachprüfungsentscheidung, so ist dieses Verhalten mit der genannten Verpflichtung unvereinbar und lässt sich nicht mit übergeordneten rechtlichen Interessen rechtfertigen, so daß eine Herabsetzung des wegen dieser Weigerung festgesetzten Zwangsgelds nicht in Betracht kommt .

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