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Document 62021CJ0479

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. November 2021.
SN und SD.
Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court (Irland).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Art. 50 EUV – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Art. 217 AEUV – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich – Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Regelung im Austrittsabkommen, durch die das System des Europäischen Haftbefehls in Bezug auf das Vereinigte Königreich übergangsweise aufrechterhalten wurde – Anwendung der Bestimmungen, die den durch das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich eingeführten Übergabemechanismus regeln, auf einen Europäischen Haftbefehl – Für Irland verbindliche Regelungen.
Rechtssache C-479/21 PPU.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:929

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Art. 50 EUV – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Art. 217 AEUV – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich – Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Regelung im Austrittsabkommen, durch die das System des Europäischen Haftbefehls in Bezug auf das Vereinigte Königreich übergangsweise aufrechterhalten wurde – Anwendung der Bestimmungen, die den durch das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich eingeführten Übergabemechanismus regeln, auf einen Europäischen Haftbefehl – Für Irland verbindliche Regelungen“

In der Rechtssache C‑479/21 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 30. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 3. August 2021, im Rahmen von Verfahren betreffend die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle gegen

SN,

SD,

Beteiligte:

Governor of Cloverhill Prison,

Irland,

Attorney General,

Governor of Mountjoy prison,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, E. Regan, I. Jarukaitis und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, M. Safjan (Berichterstatter), F. Biltgen und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters N. Wahl,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von SN, vertreten durch M. Hanahoe und R. Purcell, Solicitors, S. Guerin und C. Donnelly, SC, sowie M. Lynam und S. Brittain, Barristers,

von SD, vertreten durch C. Mulholland, Solicitor, S. Guerin und C. Donnelly, SC, M. Lynam und S. Brittain, Barristers, sowie E. Walker, BL,

Irlands, vertreten durch P. Gallagher, A. Morrissey und C. McMahon als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray und R. Kennedy, SC, sowie A. Carroll, L. Masterson und H. Godfrey, BL,

des Königreichs Dänemark, vertreten durch L. Teilgård als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch A. Ștefănuc, K. Pleśniak, A. Antoniadis und J. Ciantar als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold, L. Baumgart und H. Krämer als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 9. November 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 EUV, von Art. 217 AEUV, des dem EU- und dem AEU‑Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (im Folgenden: Protokoll [Nr. 21]), des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7, im Folgenden: Austrittsabkommen) sowie des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. 2021, L 149, S. 10, im Folgenden: AHZ).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der in Irland erfolgenden Vollstreckung zweier Europäischer Haftbefehle, die die Justizbehörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland gegen SD zum Zweck der Vollstreckung einer strafrechtlichen Sanktion bzw. gegen SN zum Zweck der Strafverfolgung erlassen haben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verträge

3

Art. 50 EUV lautet:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 [AEUV] ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

(3)   Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

(4)   Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil.

Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b [AEUV].

(5)   Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“

4

Art. 82 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, im Folgenden: RFSR) des Dritten Teils dieses Vertrags gehört, bestimmt in Abs. 1:

„Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den in Absatz 2 und in Artikel 83 genannten Bereichen.

Das Europäische Parlament und der Rat erlassen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen, um

d)

die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern.“

5

Art. 217 AEUV, der zu Titel V („Internationale Übereinkünfte“) des Fünften Teils dieses Vertrags gehört, der seinerseits das auswärtige Handeln der Union betrifft, lautet:

„Die Union kann mit einem oder mehreren Drittländern oder einer oder mehreren internationalen Organisationen Abkommen schließen, die eine Assoziierung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten, gemeinsamem Vorgehen und besonderen Verfahren herstellen.“

Protokoll (Nr. 21)

6

Art. 1 des Protokolls (Nr. 21) lautet:

„Vorbehaltlich des Artikels 3 beteiligen sich das Vereinigte Königreich und Irland nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die nach dem Dritten Teil Titel V des [AEU‑Vertrags] vorgeschlagen werden. Für Beschlüsse des Rates, die einstimmig angenommen werden müssen, ist die Zustimmung der Mitglieder des Rates mit Ausnahme der Vertreter der Regierungen des Vereinigten Königreichs und Irlands erforderlich.

Für die Zwecke dieses Artikels bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit nach Artikel 238 Absatz 3 [AEUV].“

7

Art. 2 dieses Protokolls sieht vor:

„Entsprechend Artikel 1 und vorbehaltlich der Artikel 3, 4 und 6 sind Vorschriften des Dritten Teils Titel V des [AEU‑Vertrags], nach jenem Titel beschlossene Maßnahmen, Vorschriften internationaler Übereinkünfte, die von der Union nach jenem Titel geschlossen werden, sowie Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union, in denen solche Vorschriften oder Maßnahmen ausgelegt werden, für das Vereinigte Königreich oder Irland nicht bindend oder anwendbar; und diese Vorschriften, Maßnahmen oder Entscheidungen berühren in keiner Weise die Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten dieser Staaten; ebenso wenig berühren diese Vorschriften, Maßnahmen oder Entscheidungen in irgendeiner Weise den Besitzstand der Gemeinschaft oder der Union oder sind sie Teil des Unionsrechts, soweit sie auf das Vereinigte Königreich und Irland Anwendung finden.“

8

Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 des Protokolls lautet:

„Das Vereinigte Königreich oder Irland kann dem Präsidenten des Rates innerhalb von drei Monaten nach der Vorlage eines Vorschlags oder einer Initiative nach dem Dritten Teil Titel V des [AEU‑Vertrags] beim Rat schriftlich mitteilen, dass es sich an der Annahme und Anwendung der betreffenden Maßnahme beteiligen möchte, was dem betreffenden Staat daraufhin gestattet ist.“

9

Art. 4a des Protokolls bestimmt:

„(1)   Die Bestimmungen dieses Protokolls gelten für das Vereinigte Königreich und Irland auch für nach dem Dritten Teil Titel V des [AEU‑Vertrags] vorgeschlagene oder erlassene Maßnahmen, mit denen eine bestehende Maßnahme, die für sie bindend ist, geändert wird.

(2)   In Fällen, in denen der Rat auf Vorschlag der Kommission feststellt, dass die Nichtbeteiligung des Vereinigten Königreichs oder Irlands an der geänderten Fassung einer bestehenden Maßnahme die Anwendung dieser Maßnahme für andere Mitgliedstaaten oder die Union unpraktikabel macht, kann er das Vereinigte Königreich bzw. Irland nachdrücklich ersuchen, eine Mitteilung nach Artikel 3 oder Artikel 4 vorzunehmen. Für die Zwecke des Artikels 3 beginnt ab dem Tag, an dem der Rat die Feststellung trifft, eine weitere Frist von zwei Monaten.

…“

10

Art. 6 des Protokolls (Nr. 21) bestimmt:

„In Fällen, in denen nach diesem Protokoll das Vereinigte Königreich oder Irland durch eine vom Rat nach dem Dritten Teil Titel V des [AEU‑Vertrags] beschlossene Maßnahme gebunden ist, gelten hinsichtlich dieser Maßnahme für den betreffenden Staat die einschlägigen Bestimmungen der Verträge.“

Austrittsabkommen

11

Art. 62 („Laufende Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“) des Austrittsabkommens gehört zu dessen Teil Drei, der die „Trennungsbestimmungen“ enthält. Dieser Artikel bestimmt in Abs. 1:

„Im Vereinigten Königreich sowie in den Mitgliedstaaten finden in Situationen, die einen Bezug zum Vereinigten Königreich aufweisen, die nachstehenden Rechtsakte wie folgt Anwendung:

b)

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates [vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1)] findet Anwendung auf Europäische Haftbefehle, wenn die gesuchte Person vor dem Ablauf des Übergangszeitraums für die Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurde, und zwar unabhängig von der Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde darüber, ob die gesuchte Person in Haft zu halten oder vorläufig aus der Haft zu entlassen ist;

…“

12

Art. 126 („Übergangszeitraum“) dieses Abkommens, der zu dessen Teil Vier („Übergang“) gehört, sieht vor:

„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“

13

In Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) des Abkommens, der ebenfalls zu Teil Vier gehört, heißt es:

„(1)   Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich.

(6)   Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, schließen während des Übergangszeitraums alle Bezugnahmen auf Mitgliedstaaten in dem nach Absatz 1 geltenden Unionsrecht, einschließlich der Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich ein.

…“

14

Art. 185 („Inkrafttreten und Geltung“) des Abkommens, der zu dessen Teil Sechs („Institutionelle und Schlussbestimmungen“) gehört, sieht in Abs. 4 vor:

„Teil Zwei und Teil Drei mit Ausnahme der Artikel 19, Artikel 34 Absatz 1, Artikel 44 und Artikel 96 Absatz 1 sowie der Teil Sechs Titel I und die Artikel 169 bis 181 finden ab dem Ende des Übergangszeitraums Anwendung.“

AHZ

15

Der 23. Erwägungsgrund des AHZ lautet:

„In der Erwägung, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union bei der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten und der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, eine Stärkung der Sicherheit des Vereinigten Königreichs und der Union ermöglichen wird“.

16

Art. 1 („Ziel“) dieses Abkommens bestimmt:

„Mit diesem Abkommen wird die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen den Vertragsparteien in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft geschaffen, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt.“

17

Art. 2 („Zusatzabkommen“) des Abkommens sieht vor:

„(1)   Wenn die Union und das Vereinigte Königreich weitere bilaterale Abkommen miteinander schließen, gelten diese Abkommen als Zusatzabkommen zu diesem Abkommen, soweit in diesen Abkommen nichts anderes vereinbart wird. Solche Zusatzabkommen sind ein integraler Bestandteil der durch dieses Abkommen geregelten bilateralen Gesamtbeziehungen und Teil des Gesamtrahmens.

(2)   Absatz 1 gilt auch für

a)

Abkommen zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits und

b)

Abkommen zwischen der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits.“

18

Art. 6 („Begriffsbestimmungen“) des AHZ sieht in Abs. 1 Buchst. g vor, dass der Ausdruck „Übergangszeitraum“ für die Zwecke dieses Abkommens den in Art. 126 des Austrittsabkommens vorgesehenen Zeitraum bezeichnet.

19

Teil Drei („Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten“) des AHZ enthält u. a. einen Titel VII („Übergabe von Personen“), der die Art. 596 bis 632 dieses Abkommens umfasst.

20

Art. 596 („Ziel“) des Abkommens bestimmt:

„Ziel dieses Titels ist es, sicherzustellen, dass das Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits auf dem Mechanismus der Übergabe infolge eines Haftbefehls gemäß den Bestimmungen dieses Titels basiert.“

21

Art. 632 („Anwendung auf bestehende [E]uropäische Haftbefehle“) des Abkommens sieht vor:

„Dieser Titel gilt in Bezug auf Europäische Haftbefehle, die gemäß dem Rahmenbeschluss [2002/584] von einem Staat vor Ablauf des Übergangszeitraums ausgestellt wurden, wenn die gesuchte Person nicht vor Ablauf des Übergangszeitraums zum Zwecke der Vollstreckung festgenommen wurde.“

Irisches Recht

22

Der Rahmenbeschluss 2002/584 wurde mit dem European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) in irisches Recht umgesetzt. Dessen Section 3 ermächtigt den Außenminister, für die Zwecke dieses Gesetzes durch Verordnung einen maßgeblichen Mitgliedstaat zu bezeichnen, der diesem Rahmenbeschluss in seinem nationalen Recht Geltung verschafft hat. Mit dem European Arrest Warrant Act 2003 (Designated Member States) Order 2004 (Verordnung von 2004 zum Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl [Bezeichnete Mitgliedstaaten]) wurde das Vereinigte Königreich für die Zwecke von Section 3 des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl bezeichnet.

23

Nach dem European Arrest Warrant (Application to Third Countries amendment) and Extradition (Amendment) Act 2012 (Gesetz von 2012 über den Europäischen Haftbefehl [Änderung bezüglich der Anwendung auf Drittländer] und die Auslieferung [Änderung]) kann der Außenminister anordnen, dass das Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl auf ein Drittland angewandt wird, sofern, wie es in Section 2(3) heißt, zwischen diesem Drittland und der Union ein Abkommen in Kraft ist, das die Übergabe von Personen regelt, die zum Zweck der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung gesucht werden.

24

Um in Bezug auf Europäische Haftbefehle, die von einer Justizbehörde des Vereinigten Königreichs ausgestellt worden sind, zum einen die Bestimmungen des Austrittsabkommens über die Fortgeltung des Rahmenbeschlusses 2002/584 während des Übergangszeitraums und zum anderen die Regelung im AHZ umzusetzen, wonach der durch Teil Drei Titel VII des AHZ eingeführte Übergabemechanismus auf bestimmte vor Ablauf des Übergangszeitraums ausgestellte Europäische Haftbefehle anzuwenden ist, hat Irland sukzessive folgende Rechtsakte erlassen:

den European Arrest Warrant Act 2003 (Designated Member State) (Amendment) Order 2020 (Verordnung von 2020 zur Änderung des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl [Bezeichnete Mitgliedstaaten]) und den Withdrawal of the United Kingdom from the European Union (Consequential Provisions) Act 2019 (Gesetz von 2019 über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union [Folgeregelungen]) in Bezug auf Europäische Haftbefehle, die vor dem Ablauf des Übergangszeitraums ausgestellt wurden und Personen betreffen, die vor dem Ablauf dieses Zeitraums festgenommen wurden,

den European Arrest Warrant (Application to Third Countries) (United Kingdom) Order 2020 (Verordnung von 2020 über den Europäischen Haftbefehl [Anwendung auf Drittländer] [Vereinigtes Königreich]) in Bezug auf Europäische Haftbefehle, die vor dem Ablauf des Übergangszeitraums ausgestellt wurden und Personen betreffen, die beim Ablauf dieses Zeitraums noch nicht festgenommen worden waren.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

25

Am 9. September 2020 wurde SD aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, den die Justizbehörden des Vereinigten Königreichs am 20. März 2020 zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von acht Jahren ausgestellt hatten, in Irland festgenommen. SN wurde seinerseits am 25. Februar 2021 aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, den diese Behörden am 5. Oktober 2020 zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellt hatten, in Irland festgenommen. Die Betroffenen wurden in Irland bis zur Entscheidung über ihre Übergabe an die Behörden des Vereinigten Königreichs in Untersuchungshaft genommen und befinden sich gegenwärtig in Haft.

26

Am 16. Februar 2021 bzw. am 5. März 2021 beantragten SD und SN jeweils beim High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) die Durchführung einer Untersuchung. Mit diesen Anträgen stellten sie im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung in Abrede und machten geltend, dass Irland das System des Europäischen Haftbefehls im Verhältnis zum Vereinigten Königreich nicht mehr anwenden dürfe. Der High Court stellte fest, dass die Inhaftierung der Betroffenen rechtmäßig sei, und lehnte die Anordnung ihrer Freilassung ab. Daraufhin legten die Betroffenen beim vorlegenden Gericht zwei separate Rechtsmittel ein.

27

Das vorlegende Gericht führt aus, das Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl, mit dem der Rahmenbeschluss 2002/584 in irisches Recht umgesetzt werde, sei auf ein Drittland anwendbar, sofern zwischen diesem Drittland und der Union ein Abkommen in Kraft sei, das die Übergabe von Personen regele, die zum Zweck der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung gesucht würden. Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieses Gesetzes sei jedoch, dass das betreffende Abkommen für Irland bindend sei.

28

Falls die Bestimmungen des Austrittsabkommens und des AHZ über die Regelung des Europäischen Haftbefehls für Irland nicht bindend sein sollten, wären daher die nationalen Maßnahmen, die die Fortgeltung dieser Regelung im Verhältnis zum Vereinigten Königreich vorsähen, ungültig, so dass die weitere Inhaftierung der Betroffenen rechtswidrig wäre. Die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung hänge folglich davon ab, ob das Austrittsabkommen und das AHZ Irland rechtsgültig bänden, was aber möglicherweise nicht der Fall sei, da sie dem RFSR zuzuordnende Maßnahmen enthielten, die nach dem Protokoll (Nr. 21) womöglich nicht für Irland gälten.

29

SN und SD vertreten die Auffassung, weder Art. 50 EUV noch Art. 217 AEUV, d. h. die Rechtsgrundlage des Austrittsabkommens bzw. des AHZ, könnten als Stütze dafür dienen, in diese Abkommen Maßnahmen einzubeziehen, die dem RFSR unterfielen. Für jedes dieser Abkommen hätte zusätzlich auf Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. d AEUV zurückgegriffen werden müssen, wobei die Hinzufügung dieser Bestimmung zur Rechtsgrundlage der genannten Abkommen die Anwendbarkeit des Protokolls (Nr. 21) auslöse.

30

Das vorlegende Gericht weist allerdings darauf hin, dass Irland der Annahme des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu einem Zeitpunkt zugestimmt habe, zu dem das Vereinigte Königreich noch fest in das mit diesem Rahmenbeschluss geschaffene System integriert gewesen sei. Somit begründeten die Bestimmungen des Austrittsabkommens und des AHZ keine neuen Verpflichtungen für Irland, sondern sähen die Fortgeltung bereits bestehender Verpflichtungen vor. Zudem seien diese beiden Abkommen für das Vereinigte Königreich und die Union völkerrechtlich verbindlich.

31

Vor diesem Hintergrund hat der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Unter Berücksichtigung des Umstands, dass Irland in Bezug auf den RFSR seine Hoheitsbefugnisse mit der Maßgabe behalten hat, dass Irland zu einem Opt-in bei Maßnahmen berechtigt ist, die von der Union in diesem Bereich gemäß Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags beschlossen worden sind,

unter Berücksichtigung des Umstands, dass Art. 50 EUV als materielle Rechtsgrundlage des Austrittsabkommens (und des Beschlusses über seinen Abschluss) genannt ist,

unter Berücksichtigung des Umstands, dass Art. 217 AEUV als materielle Rechtsgrundlage des AHZ (und des Beschlusses über seinen Abschluss) genannt ist, und

unter Berücksichtigung des Umstands, dass folglich ein Opt-in Irlands weder als erforderlich noch als zulässig angesehen wurde, so dass kein solches Opt-in ausgeübt wurde:

1.

Können die Vorschriften des Austrittsabkommens, die eine Fortführung der Regelung über den Europäischen Haftbefehl in Bezug auf das Vereinigte Königreich während des in diesem Abkommen vorgesehenen Übergangszeitraums vorsehen, unter Berücksichtigung ihrer erheblichen, den RFSR betreffenden Inhalte als für Irland bindend angesehen werden?

2.

Können die Vorschriften des AHZ, die eine Fortführung der Regelung über den Europäischen Haftbefehl in Bezug auf das Vereinigte Königreich nach Ablauf des maßgeblichen Übergangszeitraums vorsehen, unter Berücksichtigung ihrer erheblichen, den RFSR betreffenden Inhalte als für Irland bindend angesehen werden?

Zum Eilverfahren

32

Das vorlegende Gericht hat die Anwendung des in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahrens und, hilfsweise, die Anwendung des in Art. 105 der Verfahrensordnung vorgesehenen beschleunigten Verfahrens beantragt. Es hat seinen Antrag insbesondere darauf gestützt, dass SN und SD derzeit bis zur Entscheidung über ihre jeweilige Übergabe an die Behörden des Vereinigten Königreichs inhaftiert seien.

33

Erstens ist festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen die Frage betrifft, ob Europäische Haftbefehle, die gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584 ausgestellt wurden, der zu den von Titel V („Der [RFSR]“) des Dritten Teils des AEU‑Vertrags erfassten Bereichen gehört, von Irland vollstreckt werden müssen. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

34

Zweitens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass der vom fraglichen Verfahren betroffenen Person derzeit ihre Freiheit entzogen ist und dass ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsverfahrens abhängt (Urteile vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. Oktober 2021, Openbaar Ministerie [Recht auf Anhörung durch die vollstreckende Justizbehörde], C‑428/21 PPU und C‑429/21 PPU, EU:C:2021:876, Rn. 32).

35

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich SN und SD derzeit in Haft befinden. Außerdem hängt in Anbetracht der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Erläuterungen des vorlegenden Gerichts ihre weitere Inhaftierung in Irland von der Entscheidung ab, die der Gerichtshof in dieser Rechtssache zu erlassen hat. Je nachdem, wie die Antwort des Gerichtshofs ausfällt, könnten SN und SD nämlich entweder freigelassen oder den Behörden des Vereinigten Königreichs übergeben werden.

36

Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin am 17. August 2021 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Eilvorabentscheidungsverfahren zu behandeln, stattzugeben.

37

Überdies ist beschlossen worden, die vorliegende Rechtssache erneut dem Gerichtshof zu unterbreiten, damit sie an die Große Kammer verwiesen wird.

Zu den Vorlagefragen

38

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob zum einen die Bestimmungen des Austrittsabkommens, die die Fortgeltung der Regelung des Europäischen Haftbefehls im Verhältnis zum Vereinigten Königreich während des Übergangszeitraums vorsehen, und zum anderen die Bestimmung des AHZ, wonach die durch Teil Drei Titel VII dieses Abkommens eingeführte Regelung der Übergabeverfahren auf Europäische Haftbefehle anzuwenden ist, die vor dem Ablauf des Übergangszeitraums ausgestellt wurden und Personen betreffen, die vor dem Ende dieses Zeitraums noch nicht in Vollstreckung solcher Haftbefehle festgenommen worden waren, für Irland bindend sind.

39

Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht nicht genau angibt, nach welchen Bestimmungen dieser Abkommen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle zu vollstrecken sind. In einem solchen Fall ist der Gerichtshof jedoch nicht daran gehindert, dem vorlegenden Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2017, X und X, C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 39, sowie vom 17. Juni 2021, Simonsen & Weel, C‑23/20, EU:C:2021:490, Rn. 81).

40

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die Vorlagefragen zum einen Art. 62 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 185 Abs. 4 des Austrittsabkommens und zum anderen Art. 632 des AHZ betreffen.

41

Art. 62 Abs. 1 Buchst. b und Art. 185 Abs. 4 des Austrittsabkommens sehen nämlich vor, dass die Pflicht zur Vollstreckung von gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584 ausgestellten Europäischen Haftbefehlen nach dem Ende des Übergangszeitraums fortbesteht, wenn die gesuchte Person vor dem Ende dieses Zeitraums, das durch Art. 126 des Abkommens auf den 31. Dezember 2020 festgelegt wird, festgenommen wurde.

42

Art. 632 des AHZ unterwirft seinerseits die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die vor dem Ende des Übergangszeitraums gemäß diesem Rahmenbeschluss ausgestellt wurden, der in Teil Drei Titel VII dieses Abkommens vorgesehenen Übergaberegelung, wenn die gesuchte Person nicht vor dem Ende dieses Zeitraums zum Zweck der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls festgenommen wurde.

43

Somit ist speziell in Bezug auf Art. 62 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 185 Abs. 4 des Austrittsabkommens sowie auf Art. 632 des AHZ zu prüfen, ob die Einbeziehung dieser Bestimmungen in das erste bzw. das zweite dieser Abkommen die Anwendbarkeit des Protokolls (Nr. 21) hätte auslösen müssen, was bedeuten würde, dass diese Bestimmungen grundsätzlich nicht für Irland gelten, auch wenn dieser Mitgliedstaat die durch das Protokoll (Nr. 21) gewährte Möglichkeit behielte, sich an Maßnahmen zu beteiligen, die unter Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags fallen.

44

Unter diesen Umständen und in Anbetracht der Erläuterungen des vorlegenden Gerichts in seinem Vorabentscheidungsersuchen ist festzustellen, dass dieses Gericht den Gerichtshof mit seinen Fragen ersucht, zu klären, ob Art. 50 EUV, Art. 217 AEUV und das Protokoll (Nr. 21) dahin auszulegen sind, dass Art. 62 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 185 Abs. 4 des Austrittsabkommens sowie Art. 632 des AHZ für Irland bindend sind.

45

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Protokoll (Nr. 21) vorsieht, dass sich Irland nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat beteiligt, die nach Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags vorgeschlagen werden, und dass nach jenem Titel beschlossene Maßnahmen sowie Vorschriften internationaler Übereinkünfte, die von der Union nach jenem Titel geschlossen werden, für Irland nicht bindend oder anwendbar sind, es sei denn, Irland beschließt, sich an der Annahme solcher Maßnahmen zu beteiligen oder sie nachträglich zu akzeptieren.

46

Das Austrittsabkommen und das AHZ wurden jedoch nicht auf der Grundlage jenes Titels, sondern auf der Grundlage von Art. 50 Abs. 2 EUV bzw. Art. 217 AEUV geschlossen. Daher ist zu prüfen, ob diese Rechtsgrundlagen für sich genommen zum einen als Stütze dafür geeignet waren, in das Austrittsabkommen Bestimmungen aufzunehmen, wonach der Rahmenbeschluss 2002/584 auf vom Vereinigten Königreich ausgestellte Europäische Haftbefehle weiterhin anwendbar ist, und zum anderen als Stütze dafür, in das AHZ eine Bestimmung aufzunehmen, wonach die durch Teil Drei Titel VII des letztgenannten Abkommens eingeführte Übergaberegelung auf Europäische Haftbefehle anzuwenden ist, die vor dem Ablauf des Übergangszeitraums ausgestellt wurden und Personen betreffen, die vor dem Ende dieses Zeitraums noch nicht in Vollstreckung solcher Haftbefehle festgenommen worden waren, oder ob, wie SD und SN geltend machen, Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. d AEUV ebenfalls als materielle Rechtsgrundlage für den Abschluss dieser Abkommen hätte genannt werden müssen, womit die Anwendung des Protokolls (Nr. 21) ausgelöst worden wäre.

47

Welche Protokolle gegebenenfalls anwendbar sind, bestimmt sich nämlich nach der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts, deren Eignung anhand objektiver Umstände wie der Zielsetzung und des Inhalts des Rechtsakts zu beurteilen ist, und nicht umgekehrt (Urteil vom 22. Oktober 2013, Kommission/Rat,C‑137/12, EU:C:2013:675, Rn. 74).

48

Was erstens Art. 50 EUV betrifft, der als Rechtsgrundlage für das Austrittsabkommen herangezogen wurde, so geht aus seinen Abs. 2 und 3 hervor, dass dieses Abkommen ein Austrittsverfahren vorsieht, das Folgendes umfasst: erstens die Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat, zweitens die Aushandlung und den Abschluss eines Abkommens über die Einzelheiten des Austritts, wobei den künftigen Beziehungen zwischen dem betreffenden Staat und der Union Rechnung getragen wird, und drittens den eigentlichen Austritt aus der Union zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat, es sei denn, dieser beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, die Frist zu verlängern (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a.,C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Folglich wird mit Art. 50 EUV ein doppeltes Ziel verfolgt; zum einen wird darin das souveräne Recht eines Mitgliedstaats verankert, aus der Union auszutreten, und zum anderen wird ein Verfahren geschaffen, das es ermöglichen soll, dass ein solcher Austritt geordnet abläuft (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a.,C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 56).

50

Gerade um das letztgenannte Ziel effektiv erreichen zu können, überträgt Art. 50 Abs. 2 EUV allein der Union die Zuständigkeit für die Aushandlung und den Abschluss eines Abkommens über die Einzelheiten des Austritts, wobei dieses Abkommen dazu bestimmt ist, in allen unter die Verträge fallenden Bereichen sämtliche Fragen zu regeln, die mit der Trennung zwischen der Union und dem aus ihr austretenden Staat zusammenhängen.

51

Gemäß ebendieser Zuständigkeit konnte die Union das Austrittsabkommen, das im Verhältnis zum Vereinigten Königreich u. a. die weitere Anwendung eines wesentlichen Teils des Besitzstands der Union vorsieht, aushandeln und schließen, und zwar, wie sich aus Ziff. 4 der vom Europäischen Rat bei seiner außerordentlichen Tagung vom 29. April 2017 im Anschluss an die Mitteilung des Vereinigten Königreichs gemäß Art. 50 EUV angenommenen Leitlinien ergibt, mit dem Ziel, die Unsicherheiten zu verringern und so weit wie möglich die Störungen zu begrenzen, die dadurch entstehen, dass die Verträge ab dem Tag des Austritts nicht mehr auf den austretenden Staat anwendbar sind.

52

Insbesondere sieht Art. 127 des Austrittsabkommens vor, dass, sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, das Unionsrecht – zu dem der Rahmenbeschluss 2002/584 gehört – während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich gilt. Ferner ergibt sich aus Art. 185 Abs. 4 des Abkommens, dass dieser Rahmenbeschluss in den Beziehungen zum Vereinigten Königreich in den in Art. 62 Abs. 1 Buchst. b des Abkommens genannten Fällen Anwendung findet.

53

Im Übrigen kann sich, wie die Generalanwältin in den Nrn. 52 und 53 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, das in Art. 218 AEUV vorgesehene Verfahren für den Abschluss internationaler Übereinkünfte als mit dem Verfahren nach Art. 50 Abs. 2 und 4 EUV unvereinbar erweisen, z. B. weil der Rat nach Art. 218 AEUV die Übereinkunft einstimmig schließt und nicht, wie dies beim Abschluss eines Austrittsabkommens der Fall ist, mit qualifizierter Mehrheit und zudem ohne Beteiligung des Vertreters des austretenden Mitgliedstaats.

54

Da das Austrittsabkommen sämtliche in Rn. 50 des vorliegenden Urteils genannten Bereiche und Fragen abhandeln soll und zu Art. 50 Abs. 2 EUV keine Rechtsgrundlagen hinzugefügt werden können, die Verfahren vorsehen, die mit dem Verfahren nach Art. 50 Abs. 2 und 4 EUV unvereinbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Kommission/Rat [Abkommen mit Armenien], C‑180/20, EU:C:2021:658, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist zu folgern, dass allein Art. 50 EUV als eigenständige und von jeder anderen in den Verträgen vorgesehenen Rechtsgrundlage unabhängige Rechtsgrundlage garantieren kann, dass im Austrittsabkommen alle von den Verträgen erfassten Bereiche kohärent behandelt werden, womit sichergestellt werden kann, dass der Austritt geordnet abläuft.

55

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 62 Abs. 1 Buchst. b des Austrittsabkommens Maßnahmen betrifft, die im Hoheitsgebiet Irlands verbindlich waren, bevor dieses Abkommen in Kraft trat. Fügte man Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. d AEUV zur materiellen Rechtsgrundlage hinzu, um das Austrittsabkommen zu stützen, könnte dies jedoch zu Unsicherheiten führen, da Irland, das sich dafür entschieden hatte, an das System des Europäischen Haftbefehls auch gegenüber dem Vereinigten Königreich gebunden zu sein, aufgrund der aus dieser Hinzufügung folgenden Anwendbarkeit des Protokolls (Nr. 21) so behandelt würde, als hätte es sich niemals an diesem System beteiligt. Eine solche Situation wäre schwerlich mit dem in Rn. 51 des vorliegenden Urteils dargelegten Ziel vereinbar, im Hinblick auf einen geordneten Austritt die Unsicherheiten zu verringern und die Störungen zu begrenzen.

56

Da somit allein Art. 50 Abs. 2 EUV als Rechtsgrundlage für den Abschluss des Austrittsabkommens geeignet war, konnten die Bestimmungen des Protokolls (Nr. 21) in diesem Zusammenhang nicht zur Anwendung gelangen.

57

Was zweitens Art. 217 AEUV betrifft, der als Rechtsgrundlage für das AHZ herangezogen wurde, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass er der Union die Zuständigkeit verleiht, die Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten in allen vom AEU‑Vertrag erfassten Bereichen sicherzustellen (Urteil vom 18. Dezember 2014, Vereinigtes Königreich/Rat, C‑81/13, EU:C:2014:2449, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Somit können Abkommen, die nach dieser Bestimmung geschlossen werden, Regelungen zu allen Bereichen enthalten, für die die Union zuständig ist. Angesichts der Tatsache, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. j AEUV in Bezug auf Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags über eine geteilte Zuständigkeit verfügt, können Maßnahmen, die in diesen Zuständigkeitsbereich fallen, in ein auf Art. 217 AEUV gestütztes Assoziierungsabkommen wie das AHZ aufgenommen werden.

59

Da der durch Teil Drei Titel VII des AHZ eingeführte Übergabemechanismus, der für die von Art. 632 dieses Abkommens erfassten Europäischen Haftbefehle gilt, fraglos in diesen Zuständigkeitsbereich fällt, ist zu prüfen, ob die Aufnahme eines solchen Mechanismus in ein Assoziierungsabkommen darüber hinaus die Hinzufügung einer speziellen Rechtsgrundlage wie Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. d AEUV erfordert.

60

Insoweit hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass der Rat auf der Grundlage von Art. 217 AEUV einen Rechtsakt im Rahmen eines Assoziierungsabkommens nur erlassen kann, sofern dieser Rechtsakt Bezug zu einem spezifischen Zuständigkeitsbereich der Union hat und auch auf die Rechtsgrundlage gestützt wird, die diesem Bereich entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Vereinigtes Königreich/Rat, C‑81/13, EU:C:2014:2449, Rn. 62).

61

Dieses Erfordernis ist jedoch in einer Rechtssache formuliert worden, in der es nicht um den Abschluss eines Assoziierungsabkommens, sondern um den Erlass eines Beschlusses über den Standpunkt ging, der im Namen der Union in einem durch ein solches Abkommen eingesetzten Gremium zu vertreten war. Wie die Generalanwältin in Nr. 70 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, war es in diesem besonderen Kontext, nämlich dem eines Beschlusses, der nach Art. 218 Abs. 8 und 9 AEUV mit qualifizierter Mehrheit ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments erlassen wurde, erforderlich, eine spezielle Rechtsgrundlage hinzuzufügen, um zu gewährleisten, dass etwaige strengere Verfahrensanforderungen, die für den betreffenden Bereich gelten, nicht umgangen werden.

62

Demgegenüber betrifft der Abschluss eines Abkommens wie des AHZ nicht etwa einen einzelnen spezifischen Handlungsbereich, sondern im Hinblick auf das Ziel, eine Assoziierung zwischen der Union und einem Drittstaat herzustellen, vielmehr ein breites Spektrum von Zuständigkeitsbereichen der Union. Der Abschluss eines solchen Abkommens erfordert nach Art. 218 Abs. 6 Unterabs. 2 Buchst. a Ziff. i und Abs. 8 Unterabs. 2 Satz 1 AEUV in jedem Fall einen einstimmigen Beschluss und die Zustimmung des Europäischen Parlaments, so dass hierbei keinerlei Gefahr besteht, dass strengere Verfahrensanforderungen umgangen werden.

63

Zu ergänzen ist, dass die Notwendigkeit, diejenigen Bestimmungen eines Assoziierungsabkommens, die in den von Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags erfassten Zuständigkeitsbereich der Union fallen, mit einer spezifischen, diesen Titel betreffenden Rechtsgrundlage zu verknüpfen, auch nicht der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnommen werden kann, wonach Rechtsakte, mit denen mehrere Zielsetzungen verfolgt werden oder die mehrere Komponenten umfassen, die untrennbar miteinander verbunden sind, ohne dass die eine gegenüber der anderen nebensächlich ist, ausnahmsweise auf die entsprechenden verschiedenen Rechtsgrundlagen zu stützen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Kommission/Rat [Abkommen mit Armenien], C‑180/20, EU:C:2021:658, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Insoweit hat der Gerichtshof in Bezug auf Abkommen über die Entwicklungszusammenarbeit entschieden, dass die Anforderung, dass ein solches Abkommen immer dann, wenn es einen spezifischen Bereich berührt, zusätzlich auf eine andere Vorschrift als seine allgemeine Rechtsgrundlage gestützt werden muss, in der Praxis einer Aushöhlung der in dieser Rechtsgrundlage vorgesehenen Zuständigkeit und des darin geregelten Verfahrens gleichkäme (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Kommission/Rat [Abkommen mit Armenien], C‑180/20, EU:C:2021:658, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Diese Erwägungen gelten entsprechend auch für Assoziierungsabkommen, deren Ziele insofern weit gefasst sind, als die zu ihrer Verfolgung erforderlichen Maßnahmen ein breites Spektrum von Zuständigkeitsbereichen der Union betreffen.

66

Genau dies ist beim AHZ der Fall, da es, wie der Rat in seinen Erklärungen ausgeführt hat, hinreichend weit gefasst werden musste, um zwischen den Parteien des Abkommens ein angemessenes Gleichgewicht der Rechte und Pflichten herzustellen und die Einheit der 27 Mitgliedstaaten zu wahren.

67

In Anbetracht des weiten Regelungsbereichs des AHZ, des Kontexts seiner Annahme und der eindeutigen Äußerungen sämtlicher Organe und Mitgliedstaaten, die bei den Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union durchgehend involviert waren, trägt folglich die Tatsache, dass in dieses Abkommen neben Regeln und Maßnahmen, die zahlreichen anderen Bereichen des Unionsrechts zuzuordnen sind, auch Bestimmungen aufgenommen wurden, die unter Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags fallen, zur Erfüllung des allgemeinen Ziels dieses Abkommens bei, das darin besteht, die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen den Vertragsparteien in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt.

68

Der mit dem AHZ eingeführte Übergabemechanismus dient der Verfolgung ebendieses Ziels; insoweit haben die Vertragsparteien im 23. Erwägungsgrund des AHZ ausgeführt, dass ihre Zusammenarbeit u. a. bei der Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten und der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen eine Stärkung der Sicherheit des Vereinigten Königreichs und der Union ermöglichen werde. Demnach kann nicht davon ausgegangen werden, dass das AHZ im Sinne der in Rn. 63 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung mehrere Zielsetzungen verfolgt oder mehrere Komponenten umfasst.

69

Folglich konnten die für die Übergabe von Personen auf der Grundlage eines Haftbefehls geltenden Regeln, die im AHZ – insbesondere in dessen Art. 632, der die Anwendung dieser Regeln auf bestehende Europäische Haftbefehle betrifft – enthalten sind, allein auf der Grundlage von Art. 217 AEUV in dieses Abkommen aufgenommen werden, ohne dass die Bestimmungen des Protokolls (Nr. 21) darauf anwendbar wären.

70

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 EUV, Art. 217 AEUV und das Protokoll (Nr. 21) dahin auszulegen sind, dass Art. 62 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 185 Abs. 4 des Austrittsabkommens und Art. 632 des AHZ für Irland bindend sind.

Kosten

71

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 50 EUV, Art. 217 AEUV und das dem EU- und dem AEU‑Vertrag beigefügte Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind dahin auszulegen, dass Art. 62 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 185 Abs. 4 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft sowie Art. 632 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits für Irland bindend sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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