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Document 62008CJ0303
Judgment of the Court (First Chamber) of 22 December 2010.#Land Baden-Württemberg v Metin Bozkurt.#Reference for a preliminary ruling: Bundesverwaltungsgericht - Germany.#EEC-Turkey Association Agreement - Family reunification - Article 7, first paragraph, of Decision No 1/80 of the Association Council - Spouse of a Turkish worker who has cohabited with her for more than five years - Continuing existence of the right of residence after divorce - Conviction of the person concerned for violence towards his ex-wife - Abuse of rights.#Case C-303/08.
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 22. Dezember 2010.
Land Baden-Württemberg gegen Metin Bozkurt.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesverwaltungsgericht - Deutschland.
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Familienzusammenführung - Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates - Ehegatte einer türkischen Arbeitnehmerin, der mit dieser fünf Jahre lang zusammen gelebt hat - Fortbestehen des Aufenthaltsrechts nach der Scheidung - Verurteilung des Betroffenen wegen Gewaltdelikten gegen seine damalige Ehegattin - Rechtsmissbrauch.
Rechtssache C-303/08.
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 22. Dezember 2010.
Land Baden-Württemberg gegen Metin Bozkurt.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesverwaltungsgericht - Deutschland.
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Familienzusammenführung - Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates - Ehegatte einer türkischen Arbeitnehmerin, der mit dieser fünf Jahre lang zusammen gelebt hat - Fortbestehen des Aufenthaltsrechts nach der Scheidung - Verurteilung des Betroffenen wegen Gewaltdelikten gegen seine damalige Ehegattin - Rechtsmissbrauch.
Rechtssache C-303/08.
Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-13445
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:800
Rechtssache C‑303/08
Land Baden-Württemberg
gegen
Metin Bozkurt
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts)
„Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Familienzusammenführung – Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – Ehegatte einer türkischen Arbeitnehmerin, der mit dieser fünf Jahre lang zusammengelebt hat – Fortbestehen des Aufenthaltsrechts nach der Scheidung – Verurteilung des Betroffenen wegen Gewaltdelikten gegen seine damalige Ehegattin – Rechtsmissbrauch“
Leitsätze des Urteils
1. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Durch das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei geschaffener Assoziationsrat – Beschluss Nr. 1/80 – Familienzusammenführung
(Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei, Art. 59; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei, Art. 7 Abs. 1)
2. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Durch das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei geschaffener Assoziationsrat – Beschluss Nr. 1/80 – Familienzusammenführung
(Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei, Art. 7 Abs. 1 und 14 Abs. 1)
1. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese nicht aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.
Rechte, die ein türkischer Staatsangehöriger nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworben hat, sind nämlich vom Fortbestehen der Voraussetzungen für ihre Entstehung unabhängig, so dass der Familienangehörige, der bereits Rechte nach diesem Beschluss innehat, seine Stellung im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise festigen und sich dort dauerhaft integrieren kann, indem er ein von der Person, von der er diese Rechte ableitete, unabhängiges Leben führt.
Diese Auslegung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist nicht mit den Anforderungen des Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei unvereinbar, da angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung die Situation eines Familienangehörigen eines türkischen Wanderarbeitnehmers nicht mit der eines Familienangehörigen eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen ist.
(vgl. Randnrn. 40, 45-46, Tenor 1)
2. Die Berufung eines türkischen Staatsangehörigen auf ein nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei rechtmäßig erworbenes Recht ist nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn der Betroffene, nachdem er dieses Recht von seiner früheren Ehefrau abgeleitet hat, gegen diese eine schwere Straftat begangen hat, für die er strafrechtlich verurteilt wurde.
Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern dessen persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das der Fall ist. Dieses hat außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Grundrechte des Betroffenen zu wahren. Insbesondere kann eine auf Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gestützte Ausweisung nur dann beschlossen werden, wenn das individuelle Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet.
(vgl. Randnrn. 60-61, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
22. Dezember 2010(*)
„Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Familienzusammenführung – Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – Ehegatte einer türkischen Arbeitnehmerin, der mit dieser fünf Jahre lang zusammen gelebt hat – Fortbestehen des Aufenthaltsrechts nach der Scheidung – Verurteilung des Betroffenen wegen Gewaltdelikten gegen seine damalige Ehegattin – Rechtsmissbrauch“
In der Rechtssache C‑303/08
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. April 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2008, in dem Verfahren
Land Baden-Württemberg
gegen
Metin Bozkurt,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter J.‑J. Kasel (Berichterstatter), A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch M. Schenk als Bevollmächtigten,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
– der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg und R. Holdgaard als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. Juli 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Land Baden-Württemberg (im Folgenden: Land) und dem türkischen Staatsangehörigen Bozkurt in einem Verfahren über dessen Ausweisung aus Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
3 Art. 59 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls lautet:
„In den von diesem Protokoll erfassten Bereichen darf der Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.“
4 Abschnitt 1 des Kapitels II („Soziale Bestimmungen“) des Beschlusses Nr. 1/80 trägt die Überschrift „Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“. Er umfasst die Art. 6 bis 16 des Beschlusses.
5 Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
– nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
– nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
– nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn‑ oder Gehaltsverhältnis.“
6 Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
– haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
– haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn‑ oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.
Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“
7 Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Herr Bozkurt wurde 1959 in der Türkei geboren. Er ist im April 1992 in das Bundesgebiet eingereist.
9 Im September 1993 heiratete er eine türkische Staatsangehörige, die in Deutschland einer regulären unselbständigen Erwerbstätigkeit nachging und daher eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaß. Die Ehegattin erwarb 1999 die deutsche Staatsangehörigkeit.
10 Nach der Eheschließung erhielt Herr Bozkurt im Oktober 1993 eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die im Oktober 1998 unbefristet verlängert wurde, nachdem er das Erfordernis eines fünfjährigen Aufenthalts nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllte.
11 Seit Juni 2000 lebt er von seiner Ehegattin getrennt. Im November 2003 wurde die Ehe geschieden.
12 Während seines Aufenthalts in Deutschland ging Herr Bozkurt einer Beschäftigung bei verschiedenen Arbeitgebern nach. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts konnten die genauen Zeiten der Beschäftigung jedoch nicht festgestellt werden, da der Kläger trotz entsprechender Aufforderung des Beklagten hierzu keine konkreten Angaben gemacht und auch keine Belege vorgelegt hat.
13 Ab Anfang 2000 war Herr Bozkurt für etwa 18 Monate krankgeschrieben und unterzog sich während dieser Zeit einer Operation wegen eines Tumors im Kopf.
14 Zum Ende dieser Krankschreibung wurde ihm von seinem Arbeitgeber gekündigt. Seitdem ist er beschäftigungslos und bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Teil II (SGB II). Er war zunächst in einer städtischen Obdachlosenunterkunft untergebracht und wohnt seit November 2005 in einer Kleinwohnung, die ihm sein Bruder vermietet.
15 Nach Verurteilungen in den Jahren 1996 und 2000 wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung wurde Herr Bozkurt der Vergewaltigung und Körperverletzung seiner früheren Ehegattin während eines Türkei-Aufenthalts im Juli 2002 schuldig gesprochen. Nachdem er in zweiter Instanz teilweise obsiegt hatte, wurde das Strafmaß am 17. Januar 2005 auf zwei Jahre Freiheitsstrafe festgesetzt, deren Vollstreckung vollständig zur Bewährung ausgesetzt wurde, und Herr Bozkurt wurde aus der Untersuchungshaft entlassen.
16 Mit Bescheid vom 26. Juli 2005 wies das Land Herrn Bozkurt unter Anordnung des Sofortvollzugs aus (im Folgenden: Ausweisungsverfügung) und verwies zur Begründung auf seine letzte Verurteilung, die seine Gewaltbereitschaft bestätige. Herr Bozkurt habe keine Rechtsposition nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80, weil er seit Verlust des letzten Arbeitsplatzes nicht in angemessener Frist eine neue Arbeit gefunden habe und sich auch nicht ernsthaft darum bemühe.
17 Das Verwaltungsgericht stellte auf Antrag des Klägers zunächst die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Ausweisungsverfügung wieder her und hob dann mit Urteil vom 5. Juli 2006 die Ausweisungsverfügung auf.
18 Die hiergegen eingelegte Berufung des Landes wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 14. März 2007 zurück. Herr Bozkurt könne sich nämlich aufgrund seiner in Deutschland zurückgelegten Wohnzeiten auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 berufen. Folglich sei die Ausweisungsverfügung rechtswidrig, weil sie nicht den für Unionsbürger geltenden Voraussetzungen entspreche, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei türkischen Staatsangehörigen, die Inhaber eines aus dem Beschluss Nr. 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts seien, zu beachten seien. Herr Bozkurt habe die von ihm erworbene Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 auch nicht dadurch verloren, dass er nach 2000 arbeitslos gewesen sei, wegen Krankheit wohl auch endgültig aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden und etwa neun Monate inhaftiert gewesen sei, da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Aufenthaltsrecht vom Fortbestehen der Voraussetzungen für seinen Erwerb unabhängig sei.
19 Das Land legte daraufhin Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein. Zum einen habe Herr Bozkurt aufgrund seines Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt sein Aufenthaltsrecht in Deutschland verloren, und zum anderen könne er sich nicht wirksam auf Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen, weil er die Person, von der er seine Rechtsstellung ableite, massiv in ihrer körperlichen Unversehrtheit verletzt habe.
20 Das Bundesverwaltungsgericht teilt die vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 14. März 2007 vertretene Rechtsauffassung. Um über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden, müsse jedoch geklärt werden, ob sich Herr Bozkurt zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung auf den Schutz des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 habe berufen können.
21 Der Gerichtshof habe noch nicht darüber entschieden, ob das Aufenthaltsrecht, das ein türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin ordnungsgemäß erworben habe, durch die nach dem Erwerb erfolgte Scheidung der Ehe erlösche.
22 Weiter stelle sich die Frage, ob sich angesichts der besonderen tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens ein türkischer Arbeitnehmer wie Herr Bozkurt mit Erfolg auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen könne, ohne dass darin ein Rechtsmissbrauch gesehen werden könne. Insbesondere sei zu klären, ob der Inhaber einer rechtmäßig erworbenen Rechtsposition diese verlieren könne, wenn er sich nachträglich gegenüber der Person, von der er seine Rechtsstellung abgeleitet habe, als unwürdig erwiesen habe.
23 Da die Entscheidung des Rechtsstreits nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts von der Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 abhängt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Bleibt das gemäß Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 als Familienangehöriger erworbene Beschäftigungs‑ und Aufenthaltsrecht des Ehegatten eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers auch nach Scheidung der Ehe erhalten?
Im Fall der Bejahung der Frage 1:
2. Liegt eine missbräuchliche Berufung auf das aus Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 von der früheren Ehefrau abgeleitete Aufenthaltsrecht vor, wenn der türkische Staatsangehörige diese nach Erwerb der Rechtsstellung vergewaltigt und verletzt hat und die Tat mit einer zweijährigen Freiheitsstrafe geahndet worden ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
24 Wie aus den Akten hervorgeht, erfüllte der betreffende türkische Staatsangehörige vor der Scheidung seiner Ehe sämtliche Voraussetzungen für den rechtmäßigen Genuss der Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80.
25 Die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage ist daher so zu verstehen, dass dieses im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.
26 Zur Beantwortung dieser Frage ist als Erstes daran zu erinnern, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, der Erwerb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Rechte von zwei kumulativen Voraussetzungen abhängt: Zum einen muss die betreffende Person Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein, und zum anderen muss sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass sowohl Herr Bozkurt als auch seine Ehegattin diese Voraussetzungen erfüllten.
27 Als Zweites werden die Rechte, die dem türkischen Staatsangehörigen, der die in der vorstehenden Randnummer angeführten Voraussetzungen erfüllt, durch die genannte Vorschrift verliehen werden, nach dem System, das die Vertragsparteien in dieser Vorschrift geschaffen haben, schrittweise ausgeweitet, je nachdem, wie lange der Betreffende mit dem türkischen Arbeitnehmer, der im Aufnahmemitgliedstaat bereits seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat, tatsächlich zusammen gewohnt hat.
28 So erhält der betreffende türkische Staatsangehörige nach drei Jahren eines solchen ordnungsgemäßen Wohnsitzes das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben; dieses Recht steht lediglich unter dem Vorbehalt des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzuräumenden Vorrangs (Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80).
29 Nach zwei weiteren Jahren des ordnungsgemäßen Wohnsitzes im Aufnahmemitgliedstaat hat dieser türkische Staatsangehörige freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80). Im Fall von Herr Bozkurt ist dieses Kriterium unstreitig erfüllt.
30 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass anders als bei Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses, in dem auf die Dauer der ordnungsgemäßen Beschäftigung abgestellt wird, bei Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 somit der ordnungsgemäße Wohnsitz bei dem türkischen Wanderarbeitnehmer das maßgebliche Kriterium ist. Nach einer gewissen Zeit eines solchen Wohnsitzes erhält der Betroffene das Recht auf Ausübung einer Tätigkeit, ohne dass Art. 7 Abs. 1 insoweit für den Erwerb eines durch den Beschluss Nr. 1/80 gewährleisteten Rechts eine Auflage oder eine Bedingung vorsieht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 7. Juli 2005, Aydinli, C‑373/03, Slg. 2005, I‑6181, Randnrn. 29 und 31, vom 18. Juli 2007, Derin, C‑325/05, Slg. 2007, I‑6495, Randnr. 56, und vom 25. September 2008, Er, C‑453/07, Slg. 2008, I‑7299, Randnrn. 31 bis 34). Die Beschäftigungssituation eines türkischen Staatsangehörigen wie des im Ausgangsverfahren betroffenen ist daher völlig irrelevant.
31 Als Drittes ist hervorzuheben, dass, wie der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden hat, zum einen der genannte Art. 7 Abs. 1 unmittelbare Wirkung hat und zum anderen Wohnzeiten wie die darin vorgesehenen die Anerkennung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzen, da ihnen sonst jede Wirkung genommen würde (vgl. u. a. Urteile Er, Randnrn. 25 und 26, sowie vom 18. Dezember 2008, Altun, C‑337/07, Slg. 2008, I‑10323, Randnrn. 20 und 21).
32 Als Viertes ist hervorzuheben, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient.
33 Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen (vgl. u. a. Urteile vom 17. April 1997, Kadiman, C‑351/95, Slg. 1997, I‑2133, Randnrn. 35 und 36, vom 22. Juni 2000, Eyüp, C‑65/98, Slg. 2000, I‑4747, Randnr. 26, sowie vom 11. November 2004, Cetinkaya, C‑467/02, Slg. 2004, I‑10895, Randnr. 25).
34 Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, um dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufzubauen (vgl. u. a. Urteile Eyüp, Randnr. 26, Cetinkaya, Randnr. 25, Aydinli, Randnr. 23, und Derin, Randnrn. 50 und 71).
35 Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass der Familienangehörige zwar grundsätzlich vorbehaltlich berechtigter Gründe tatsächlich mit dem Wanderarbeitnehmer zusammenwohnen muss, solange er nicht selbst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt hat – d. h. bis zum Ablauf des Dreijahreszeitraums –, dass dies aber nicht mehr der Fall ist, sobald der Betroffene dieses Recht nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworben hat, und erst recht nicht, wenn er nach fünf Jahren ein uneingeschränktes Recht auf Beschäftigung innehat (vgl. Urteil Derin, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Sind nämlich die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, verleiht diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und entsprechend ein Recht, sich dort weiter aufzuhalten.
37 Diese Rechte gehen zwar auf die Stellung zurück, die der türkische Arbeitnehmer, von dem dessen Familienangehöriger ein Aufenthaltsrecht ableitete, im Aufnahmemitgliedstaat in der Vergangenheit innehatte.
38 Der Familienangehörige eines solchen Arbeitnehmers ist jedoch, wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht geltend gemacht hat, sobald er selbst ein individuelles Recht aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat, in ausreichendem Maß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert, um seine Stellung als von der Stellung seines Familienangehörigen, der ihm den Zugang zu diesem Staat ermöglicht hatte, trennbar und damit als dieser gegenüber selbständig ansehen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteile Derin, Randnrn. 50 und 71, sowie Altun, Randnrn. 59 und 63).
39 Diese Auslegung ergibt sich auch aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80 insgesamt betrachtet, zu dem wiederholt entschieden wurde, dass er die Situation der türkischen Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat verbessern soll, indem die allmähliche Integration der türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen einer der Bestimmungen dieses Beschlusses erfüllen und damit in den Genuss der darin vorgesehenen Rechte kommen, im Aufnahmemitgliedstaat gefördert wird (vgl. u. a. Urteile vom 16. März 2000, Ergat, C‑329/97, Slg. 2000, I‑1487, Randnrn. 43 und 44, Derin, Randnr. 53, sowie Altun, Randnrn. 28 und 29).
40 Unter diesem Blickwinkel hat der Gerichtshof entschieden, dass Rechte wie die von Herr Bozkurt nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenen vom Fortbestehen der Voraussetzungen für ihre Entstehung unabhängig sind (vgl. Urteile Ergat, Randnr. 40, Cetinkaya, Randnr. 31, Aydinli, Randnr. 26, Derin, Randnr. 53 und Altun, Randnr. 36), so dass der Familienangehörige, der bereits Rechte nach diesem Beschluss innehat, seine Stellung im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise festigen und sich dort dauerhaft integrieren kann, indem er ein von der Person, von der er diese Rechte ableitete, unabhängiges Leben führt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Ergat, Randnrn. 43 und 44).
41 Bei der in vorstehender Randnummer dargelegten Auslegung handelt es sich lediglich um den Ausdruck des allgemeineren Grundsatzes der Wahrung wohlerworbener Rechte, der im Urteil vom 16. Dezember 1992, Kus (C‑237/91, Slg. 1992, I‑6781, Randnrn. 21 und 22), aufgestellt wurde und wonach die Rechte aus einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80, sobald sich der türkische Staatsangehörige wirksam auf sie berufen kann, nicht mehr vom Fortbestehen der zu ihrer Entstehung führenden Umstände abhängen, da dieser Beschluss keine solche Voraussetzung vorsieht. In der mit dem Urteil Kus abgeschlossenen Rechtssache war der fragliche Umstand eine Ehe, aufgrund deren der betroffene türkische Staatsangehörige in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats hatte einreisen dürfen und die dann zu einem Zeitpunkt geschieden wurde, zu dem der Betroffene bereits Rechte erworben hatte, in diesem Fall aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80. Mit Randnr. 22 des Urteils vom 5. Oktober 1994, Eroglu, C‑355/93, Slg. 1994, I‑5113, wurde dieser Grundsatz im Rahmen von Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 für anwendbar erklärt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Ergat, Randnr. 40, Aydinli, Randnr. 26, Derin, Randnr. 50, sowie Altun, Randnrn. 42 und 43).
42 Was als Fünftes die Umstände angeht, die zum Verlust der Rechte führen, die den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, welche die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen, durch diesen Absatz gewährt werden, kann es nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung nur zwei Arten von Beschränkungen dieser Rechte geben: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. u. a. Urteile Er, Randnr. 30, und Altun, Randnr. 62).
43 Der abschließende Charakter der in der vorstehenden Randnummer genannten Beschränkungen ist vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bestätigt worden (vgl. u. a. Urteile Cetinkaya, Randnr. 38, Derin, Randnr. 54, Er, Randnr. 30, sowie Altun, Randnr. 62).
44 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Scheidung der Ehe, sofern sie nach dem ordnungsgemäßen Erwerb der Rechte des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 durch den betreffenden Familienangehörigen erfolgt, für das Fortbestehen dieser Rechte zu seinen Gunsten auch dann unerheblich ist, wenn er sie ursprünglich nur von seinem früheren Ehegatten ableiten konnte.
45 Schließlich ist die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Auslegung nicht mit den Anforderungen des Art. 59 des am 23. November 1970 unterzeichneten Zusatzprotokolls unvereinbar. Wie nämlich die Generalanwältin in den Nrn. 50 bis 52 ihrer Schlussanträge mit einer Begründung, die der des Gerichtshofs in den Randnrn. 62 bis 67 des Urteils Derin und Randnr. 21 des Urteils vom 4. Oktober 2007, Polat (C‑349/06, Slg. 2007, I‑8167), entspricht, ausgeführt hat, ist angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung die Situation eines Familienangehörigen eines türkischen Wanderarbeitnehmers nicht mit der eines Familienangehörigen eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2010, Bekleyen, C‑462/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 35 bis 38 und 43).
46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese nicht aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.
Zur zweiten Frage
47 Nach ständiger Rechtsprechung ist die wahrheitswidrige oder missbräuchliche Berufung auf die Normen des Unionsrechts nicht gestattet, und die nationalen Gerichte können im Einzelfall das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Umstände berücksichtigen, um ihnen gegebenenfalls den Vorteil aus den geltend gemachten Bestimmungen des Unionsrechts zu versagen (vgl. u. a. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C‑212/97, Slg. 1999, I‑1459, Randnr. 25, vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, Slg. 2006, I‑1609, Randnr. 68, sowie vom 20. September 2007, Tum und Dari, C‑16/05, Slg. 2007, I‑7415, Randnr. 64).
48 Demgemäß hat der Gerichtshof ausgeschlossen, dass Beschäftigungszeiten, die ein türkischer Staatsangehöriger allein aufgrund einer Täuschung, die zu einer Verurteilung geführt hat, zurückgelegt hat, als im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ordnungsgemäß angesehen werden können, da der Betroffene die Voraussetzungen dieser Bestimmung in Wirklichkeit nicht erfüllte und ihm daher aus ihr von Rechts wegen kein Recht zustand (vgl. Urteile vom 5. Juni 1997, Kol, C‑285/95,Slg. 1997, I‑3069, Randnrn. 26 und 27, sowie vom 11. Mai 2000, Savas, C‑37/98, Slg. 2000, I‑2927, Randnr. 61).
49 Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger unberechtigterweise eine Besserstellung nach einer der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 verschafft.
50 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus den dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Unterlagen hervor, dass die nationalen Gerichte, die in der vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Rechtssache Sachentscheidungen gefällt haben, ausdrücklich festgestellt haben, dass Herrn Bozkurt die Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig zusteht. Im Übrigen ist vor dem Gerichtshof nichts vorgetragen worden, was die Annahme zuließe, dass es sich im Ausgangsverfahren um eine fiktive Ehe gehandelt hätte, die allein zu dem Zweck geschlossen worden wäre, missbräuchlich eine Besserstellung nach dem Recht der Assoziation EWG–Türkei zu erlangen.
51 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Herr Bozkurt im Ausgangsverfahren lediglich von seinen ihm durch den Beschluss Nr. 1/80 ausdrücklich verliehenen Rechten Gebrauch macht und er sämtliche Voraussetzungen für deren Erwerb erfüllt hat.
52 Darin, dass ein solcher türkischer Staatsangehöriger seine Rechte nach dem Beschluss Nr. 1/80, die er in der Vergangenheit ordnungsgemäß erworben hat, voll ausschöpft, kann für sich allein kein Rechtsmissbrauch gesehen werden.
53 Das vorlegende Gericht zweifelt jedoch, ohne allerdings eine Frage nach der Auslegung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu stellen, ob unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens die Berufung von Herr Bozkurt auf die nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworbene Rechtsstellung nicht gegen die öffentliche Ordnung verstößt angesichts der von ihm nach diesem Erwerb gegen die Person, von der er diese Stellung ableiten konnte, begangenen schweren Straftat.
54 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 der angemessene Rechtsrahmen für die Beurteilung ist, inwieweit einem wegen Straftaten verurteilten türkischen Staatsangehörigen durch Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaats die Rechte, die ihm unmittelbar aus diesem Beschluss erwachsen, genommen werden können (vgl. u. a. Urteil Derin, Randnr. 74).
55 Bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung ist darauf abzustellen, wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten der Union sind, ausgelegt wird (vgl. u. a. Urteil Polat, Randnr. 30).
56 Der Gerichtshof hat stets hervorgehoben, dass diese Ausnahme eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit darstellt, die eng auszulegen ist und deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. u. a. Urteil Polat, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt der Rückgriff einer nationalen Behörde auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil Polat, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Ferner darf bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden (Urteil Polat, Randnrn. 31 und 35).
59 Eine strafrechtliche Verurteilung darf daher nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (Urteil Polat, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Somit obliegt es den betreffenden nationalen Stellen, in jedem Einzelfall das persönliche Verhalten des Straftäters sowie die gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, zu prüfen und außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Grundrechte des Betroffenen zu wahren. Insbesondere kann eine auf Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gestützte Ausweisung nur dann beschlossen werden, wenn das individuelle Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet (vgl. Urteil Derin, Randnr. 74).
61 Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage wie folgt zu antworten:
– Die Berufung eines türkischen Staatsangehörigen wie des Klägers des Ausgangsverfahrens auf ein nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenes Recht ist nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn der Betroffene, nachdem er dieses Recht von seiner früheren Ehefrau abgeleitet hat, gegen diese eine schwere Straftat begangen hat, für die er strafrechtlich verurteilt wurde;
– Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern dessen persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist.
Kosten
62 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese nicht aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.
2. Die Berufung eines türkischen Staatsangehörigen wie des Klägers des Ausgangsverfahrens auf ein nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenes Recht ist nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn der Betroffene, nachdem er dieses Recht von seiner früheren Ehefrau abgeleitet hat, gegen diese eine schwere Straftat begangen hat, für die er strafrechtlich verurteilt wurde.
Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern dessen persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.