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Document 31972D0403

    72/403/EWG: Entscheidung der Kommission vom 23. November 1972 über ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/26.894 - Pittsburgh Corning Europe - Formica Belgium - Hertel, IV/26.876 und 26.892) (Nur der französische und niederländische Text sind verbindlich)

    ABl. L 272 vom 5.12.1972, p. 35–39 (DE, FR, IT, NL)

    Legal status of the document In force

    ELI: http://data.europa.eu/eli/dec/1972/403/oj

    31972D0403

    72/403/EWG: Entscheidung der Kommission vom 23. November 1972 über ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/26.894 - Pittsburgh Corning Europe - Formica Belgium - Hertel, IV/26.876 und 26.892) (Nur der französische und niederländische Text sind verbindlich)

    Amtsblatt Nr. L 272 vom 05/12/1972 S. 0035 - 0039


    ENTSCHEIDUNG DER KOMMISSION vom 23. November 1972 über ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/26.894 - Pittsburgh Corning Europe - Formica Belgium - Hertel, IV/26.876 und 26.892) (Nur der französische und der niederländische Text sind verbindlich) (72/403/EWG)

    DIE KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN -

    gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auf Artikel 85,

    gestützt auf die Verordnung Nr. 17 vom 6. Februar 1962 (1), insbesondere auf die Artikel 2, 3, 4 und 15,

    gestützt auf den Antrag auf Erteilung eines Negativattests in Verbindung mit einem Antrag auf Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3, die am 6. Januar 1971 zugunsten der Gesellschaften Pittsburgh Corning Europe (P.C.E.) und Formica Belgium (Formica) (IV/26.876) und am 23. Februar 1971 zugunsten der Gesellschaften Pittsburgh Corning Europe (P.C.E.) und Hertel en Co. Amsterdam (Hertel) (IV/26.892) eingereicht worden sind.

    nach Anhörung der Bevollmächtigten von P.C.E., Formica und Hertel gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 und den Bestimmungen der Verordnung Nr. 99/63/EWG (2),

    im Hinblick auf die vom Beratenden Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen am 25. Juli 1972 gemäß Artikel 10 der Verordnung Nr. 17 abgegebene Stellungnahme,

    in Erwägung nachstehender Gründe:

    I

    Den Dienststellen der Kommission sind Anhaltspunkte dafür bekanntgeworden, daß P.C.E., die nur in Belgien einen Isolierstoff, nämlich Schaumglas, herstellt, diskriminierende Preise je nach dem Bestimmungsland dieses Erzeugnisses innerhalb des Gemeinsamen Marktes anwandte. Sie haben daraufhin von Amts wegen nach Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 die Untersuchung der Sache aufgenommen. Auf Grund dieser Untersuchung konnte folgender Sachverhalt ermittelt werden.

    Mehrere Jahre lang, insbesondere 1970, 1971 und 1972, verkaufte P.C.E. ihr Schaumglas in der Bundesrepublik Deutschland über ihre deutsche Tochtergesellschaft, die Deutsche Pittsburgh Corning (D.P.C.), die als Vertragshändler fungierte, zu Preisen, die erheblich - bis zu 40 % - höher waren als die ihrer anderen Vertragshändler in den übrigen Ländern des Gemeinsamen Marktes, insbesondere Formica in Belgien und Hertel in den Niederlanden.

    Um zu vermeiden, daß dieser starke Preisunterschied auf derselben Handelsstufe zu Käufen in Belgien und in den Niederlanden führte, die indes für die BRD bestimmt waren, was einen bedeutenden Rückgang der Verkaufspreise oder des Verkaufsvolumens der D.P.C. in Deutschland zur Folge hätte haben können, versuchte P.C.E., den endgültigen Bestimmungsort (1)ABl. Nr. 13 vom 21.2.1962, S. 204/62. (2)ABl. Nr. 127 vom 20.8.1963, S. 2268/63.

    der bei Formica und Hertel eingegangenen Aufträge zu kontrollieren, indem sie sich bei jedem Auftrag mitteilen ließ, in welchem Land die Ware bei Bauarbeiten Verwendung finden sollte.

    Parallelausfuhren aus Italien nach Deutschland brauchte P.C.E. anscheinend nicht zu befürchten, wahrscheinlich wegen der grösseren Entfernung dieses Landes und der verhältnismässig hohen Transportkosten.

    Frankreich dürfte insofern eine Zwischenstellung eingenommen haben, als sich P.C.E. damit begnügen konnte, auf die von ihrem Vertragshändler Saint-Gobain angewandten oder die ihm eingeräumten Preise einzuwirken, wie dies 1970 geschah, "um Probleme, die bei der Ausfuhr nach Deutschland entstehen könnten, zu vermeiden" (interner Vermerk von P.C.E. vom 28. Juli 1970).

    Trotz dieser Maßnahmen wurden mehrere Tausend Kubikmeter P.C.E.-Schaumglas aus Belgien und den Niederlanden parallel in die BRD eingeführt. Die D.P.C. schätzte diese Paralleleinfuhren 1970 auf rund 10 000 m3 bei einem Gesamtabsatz von Schaumglas in der BRD von etwa 93 000 m3 in diesem Jahr.

    So konnte eine auf Isolierarbeiten spezialisierte deutsche Gesellschaft über ihre belgische Tochtergesellschaft am 10. August 1970 einen Auftrag über 950 m3 bei Formica plazieren, indem sie vorgab, daß die Ware für ein aussereuropäisches Land bestimmt sei, während sie in Wirklichkeit an die deutsche Gesellschaft versandt wurde.

    Um diese Paralleleinfuhren zu unterbinden, änderte P.C.E. ihr Preissystem. Sie veranlasste Formica und Hertel, ab 1. Oktober 1970 einen neuen Verkaufstarif anzuwenden, in dem der - stark erhöhte - "Normalpreis" so berechnet war, daß jegliche Parallelausfuhr aus Belgien und den Niederlanden in die BRD wegen der Transportkosten und der von der D.P.C. angewandten Preise verhindert wurde, während eine Ermässigung von 20 % vorgesehen war, wenn die Ware nachweislich bei Bauarbeiten in Belgien oder in den Niederlanden verwendet werden sollte.

    Als die Untersuchung dieser Angelegenheit durch die Kommissionsdienststellen bereits weit vorangeschritten war, reichte P.C.E. am 6. Januar und 23. Februar 1971 gemäß Artikel 2 und 4 der Verordnung Nr. 17 einen Antrag auf Erteilung eines Negativattests und hilfweise einen Antrag auf Freistellung bezueglich der oben beschriebenen Verhaltensweisen ein.

    Die betreffenden Gesellschaften haben im Verlauf der Anhörung am 21. März 1972 mitgeteilt, daß die Anwendung eines Tarifs, der eine Diskriminierung je nach Bestimmungsort der Ware mit sich bringt, ab 1. Juni 1972 aufgegeben würde. Dies wurde später von den Gesellschaften bestätigt.

    II

    Unter den vorstehend beschriebenen Umständen ist es unvorstellbar, daß Formica und Hertel diese neuen Tarife aus eigenem Antrieb und unabhängig eingeführt haben. Wenn dies im übrigen so wäre, bliebe es mangels des geringsten Anzeichens einer Absprache zwischen Formica und Hertel unerklärlich, weshalb der gleiche Mechanismus zur Unterbindung der Parallelausfuhren aus Belgien und den Niederlanden, der gleiche Satz für die Preisdiskriminierung und der gleiche Zeitpunkt für das Inkrafttreten der beiden neuen Tarife gewählt wurden. Ausserdem zeigten weder Formica noch Hertel irgendein Interesse an der Anwendung eines diskriminierenden Tarifs, und es ist schwerlich vorstellbar, daß ein derartiges Interesse bestanden oder worin es bestanden haben könnte. Hertel hat im Gegenteil klar dargelegt, insbesondere in ihrer Antwort auf die Mitteilung der von der Kommission in Betracht gezogenen Beschwerdepunkte, daß sie dem Verlangen von P.C.E. Folge leisten musste. P.C.E. machte keine gegenteiligen Ausführungen und nahm sogar davon Abstand, sich zu dem Vorwurf der mit Hertel abgestimmten Verhaltensweise zu äussern. Unter diesen Umständen ist es ganz unwahrscheinlich, daß Formica im Gegensatz zu Hertel hinsichtlich der Niederlande den neuen diskriminierenden Tarif für Belgien gewünscht hätte. So gab auch P.C.E., nachdem sie noch bei der von den Dienststellen der Kommission in ihren Diensträumen am 16. November 1970 vorgenommenen Nachprüfung behauptet hatte, sie habe sich "keineswegs, nicht einmal in Belgien, bei der Preisfestsetzung oder Aufstellung der Tarife eingeschaltet", diese Einlassung rasch auf, um geltend zu machen, ihre Tarife seien für Formica verbindlich, weil diese Gesellschaft ihr Vertreter sei. Aus den Erklärungen, die Formica und Hertel bei den Nachprüfungen am 3. November 1970 und 15. Februar 1971 in ihren Diensträumen gegenüber den Kommissionsdienststellen abgegeben haben, aus den bei dieser Gelegenheit erhaltenen Unterlagen, z.B. Sitzungsprotokollen bzw. ausgetauschten und berichtigten Entwürfen über den neuen Tarif, und aus den eigenen Angaben von P.C.E. in den vorgenannten Anmeldungen geht ferner eindeutig hervor, daß dem Inkrafttreten der neuen Tairfe zahlreiche Erörterungen und Briefwechsel zwischen P.C.E. und Formica einerseits sowie P.C.E. und Hertel andererseits vorausgingen. Es steht also fest, daß P.C.E. das von Formica und Hertel seit dem 1. Oktober 1970 angewandte neue Preissystem gewollt und ausgearbeitet hat.

    Formica und Hertel haben ihrerseits in die Anwendung dieses Preissystems eingewilligt.

    Was zunächst die diesbezueglichen Beziehungen zwischen P.C.E. und Hertel betrifft, so hat Hertel geltend gemacht, sie habe geglaubt, aus Furcht vor der Kündigung ihres Vertragshändlervertrags dem Verlangen von P.C.E. stattgeben zu müssen. Diese Befürchtung - wie begründet sie auch gewesen sein mag - kann jedoch weder die tatsächlich erteilte stillschweigende Zustimmung noch die Mitwirkung Hertels - sei es auch nur in Form der Ausarbeitung des Entwurfs für einen neuen Tarif und seine Übermittlung an P.C.E., damit diese ihre Zustimmung erteilt - ihrer rechtlichen Bedeutung berauben. Würde man übrigens der Argumentation von Hertel folgen, bedeutete dies - um nur dieses Beispiel zu nennen - insbesondere den Verzicht auf die Anwendung von Artikel 85 auf nahezu sämtliche Verkaufsbedingungen, die den Vertragshändlern im Gemeinsamen Markt von den Herstellern auferlegt werden. Mithin muß festgestellt werden, daß Hertel einen im gemeinsamen Einvernehmen mit P.C.E. aufgestellten diskriminierenden Tarif angewendet hat, der der deutschen Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft erlauben sollte, weiterhin ein hohes Preisniveau anzuwenden. Dieses Verhalten erfuellt somit den Tatbestand einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise zwischen P.C.E. und Hertel im Sinne von Artikel 85 Absatz 1.

    Was die Beziehungen zwischen P.C.E. und Formica bezueglich des neuen Preissystems betrifft, so haben beide Gesellschaften geltend gemacht, daß Formica nach dem von ihnen am 1. Januar 1969 geschlossenen Vertragshändlervertrag während einer Übergangszeit als Vertreter von P.C.E. fungiert habe. Deshalb sei es mit Rücksicht auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vertreter und Vertretenem gerechtfertigt, auf die in diesen Zeitraum fallende Einführung des neuen Preissystems die Bekanntmachung der Kommission vom 24. Dezember 1962 über Alleinvertriebsverträge mit Handelsvertretern (ABl. Nr. 139 vom 24.12.1962) anzuwenden.

    Wenn die Kommission bestrebt war, den Unternehmen in dieser Bekanntmachung einige Anhaltspunkte ihrer Situation im Hinblick auf Artikel 85 zu geben, so hat sie damit keineswegs die Absicht zum Ausdruck gebracht, sich an den äusseren Anschein zu halten und darauf zu verzichten, den wirklichen Charakter der Rechtshandlungen, der Beziehungen zwischen Unternehmen und der wirtschaftlichen Verhältnisse klarzulegen. Sie hat vielmehr darauf hingewiesen, daß sie "die Beurteilung, nicht auf die Bezeichnung" abstellt und daß vorausgesetzt wird, "daß der als Handelsvertreter bezeichnete Vertragspartner auch funktionsgemäß Handelsvertreter ist".

    Der zwischen P.C.E. und Formica geschlossene Vertrag vom 1. Januar 1969 ist ein langfristiger Vertriebsvertrag, der den diesbezueglichen Gepflogenheiten voll und ganz entspricht und in dem alle durch diesen Vertragstyp gewöhnlich aufgeworfenen Fragen sorgfältig bis in jedes Detail geregelt sind. In dem so entworfenen und abgefassten Vertrag ist kurz auf eine Übergangszeit hingewiesen, in der Formica die Stellung eines Handelsvertreters innehaben sollte ; diese Übergangszeit sollte nicht zu einem im voraus festgesetzten Zeitpunkt, sondern am Tag des Inkrafttretens der Mehrwertsteuer in Belgien ablaufen.

    Es ist unvorstellbar, daß sich Formica in diesem Zusammenhang nur kurze Zeit - es sei denn nach dem äusseren Anschein - wie ein echter Handelsvertreter gegenüber P.C.E. verhielt, während bereits feststand, daß sie in Kürze offen als Vertragshändler auftreten würde. Ebenso unvorstellbar ist es, daß P.C.E. unter diesen Umständen versucht haben sollte, Formica als echten Vertreter zu behandeln. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß P.C.E. den Absatz ihres Schaumglases in allen EWG-Ländern über Vertragshändler und nicht über Handelsvertreter organisiert hat und daß sie - wie sich aus den von P.C.E. am 15. Dezember 1965 vorgenommenen Anmeldungen Nr. IV/Ex-10.036 und 12.038 ergibt - auch in Belgien zunächst die Gesellschaften Technisol und Revisma als Vertragshändler und nicht als Handelsvertreter bestellt hatte, bevor sie Formica den Vertrieb übertrug. Hieraus ergibt sich eindeutig, daß P.C.E. den Vertrieb im Gemeinsamen Markt nicht über Handelsvertreter abwickelt. Hätte P.C.E. aussergewöhnliche Gründe gehabt, um tatsächlich auf die Form der Handelsvertretung zurückzugreifen, beispielsweise um Formica während einer Beobachtungs- oder Ausbildungszeit für die Werbung von Kunden genaue Anweisung geben zu können, so wäre der Übergang vom Vertreter zum Eigenhändler gewiß nicht an die Entwicklung des Steuersystems gebunden gewesen. Mithin dürfte Formica die Stellung als Vertreter nur vorübergehend zuerkannt worden sein, um eine zusätzliche Besteuerung zu vermeiden, die sich bei der vor der Einführung der Mehrwertsteuer in Belgien geltenden Steuerregelung auf Grund des Wiederverkaufs der Erzeugnisse von P.C.E. durch Formica als Vertragshändler ergeben hätte. Die formellen Konsequenzen dieser Vertragsbestimmung wurden von den Vertragsparteien zwar insofern gezogen, als die Rechnungen von P.C.E. oder auf ihrem Namen ausgestellt und Formica in der betreffenden Zeit Provisionen gezahlt wurden. Diese Umstände lassen - unabhängig davon, welche Rolle sie bei der Beurteilung der Lage nach nationalem Recht spielen könnten - die Beurteilung nach dem Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Frage unberührt, ob Formica sich in dieser Zeit tatsächlich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu P.C.E. befunden hat, ohne das die vorgenannte Bekanntmachung nicht anwendbar wäre.

    Formica, die unmittelbar oder mittelbar zu bedeutenden Gesellschaften wie The De La Rü Co. Ltd. und American Cyanamid Co., gehört, ist in dieser Hinsicht gegenüber P.C.E. stark und unabhängig genug, um sich durchaus dem Verlangen von P.C.E. zu widersetzen, so offenkundig gegen die Vertragsbestimmungen verstossende diskriminierende Preise anzuwenden.

    Formica erzielte in der Zeit der scheinbaren Vertretung ihren Umsatz hauptsächlich durch den Verkauf ihrer eigenen Erzeugnisse sowie als Vertragshändler anderer Gesellschaften für andere Erzeugnisse. In keinem anderen Fall trat sie - und sei es auch nur formell - als Handelsvertreter auf. Es ist also eindeutig, daß Formica auf dem Markt in Wirklichkeit gleichzeitig die Stellung eines Herstellers und die eines Händlers einnimmt und einnahm, so daß die Vorraussetzungen der genannten Bekanntmachung nicht erfuellt sind, da man unter den oben beschriebenen Voraussetzungen keineswegs davon ausgehen kann, daß Formica eine "Hilfsfunktion" - wie es im Wortlaut dieser Bekanntmachung heisst - ausgeuebt hat oder die eigene Absatzorganisation der P.C.E. eingegliedert worden ist ; nur eine solche Eingliederung würde nach der vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in den verbundenen Rechtssachen 56 und 58/64 (Grundig-Consten) sowie in der Rechtssache 32/65 (Klage der italienischen Regierung gegen den Rat und die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) vertretenen Auffassung die Anwendung von Artikel 85 ausschließen.

    Es ist Aufgabe der Kommission, zu beurteilen, ob ein Sachverhalt tatsächlich demjenigen entspricht, den sie im Auge hatte, als sie bekanntgab, "den Unternehmen Hinweise auf Überlegungen zu geben, von denen sie sich bei der Auslegung des Artikels 85 Absatz 1 leiten lassen wird". Die Kommission hat sich nämlich unbeschadet einer gründlichen Prüfung der Einzelfälle in der genannten Bekanntmachung lediglich auf die Verträge bezogen, die mit den eigentlichen Handelsvertretern im engeren Sinn geschlossen worden sind. Im vorliegenden Fall dürfte es aus den vorstehend dargelegten Gründen auf der Hand liegen, daß die in der Bekanntmachung vom 24. Dezember 1962 genannten Erwägungen nicht die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 auf die durch P.C.E. und Formica am 1. Oktober 1970 eingeführte Preisdiskriminierung auszuschließen vermag.

    Seit dem 1. Januar 1971 trat Fromica auf Grund des Vertrages vom 1. Januar 1969 formell als Vertragshändler von P.C.E. auf. Es besagt wenig, daß dieser noch immer geltende Vertrag durch einen Vertrag vom 1. Januar 1971 ersetzt wurde, den Formica aber nach eigenen Angaben erst am 18. Januar 1971 erhalten und am 20. Januar 1971 unterzeichnet zurückgesandt hat. Der Vertrieb ergab sich nämlich aus dem Vertrag vom 1. Januar 1969 und wurde in keiner Weise durch diesen "neuen" Vertrag eingeführt, der darauf nur erneut hinwies und nur so zu erklären sein dürfte, daß der Eindruck einer echten Änderung der Verhältnisse erweckt werden sollte, da er ausser der völlig überfluessigen Streichung jeglicher Hinweise auf die damals bereits abgelaufene Übergangszeit sich von dem vorhergehenden Vertrag lediglich hinsichtlich der Ausschließlichkeit unterscheidet, wofür ein einfaches Schreiben genügt hätte. Trotz der Argumentation von P.C.E., Formica habe sich darauf beschränkt, die bis dahin geltenden Preise weiter anzuwenden, und trotz der Darlegung von Formica, P.C.E. habe zu diesem Zeitpunkt keinerlei Forderung gestellt, kann nicht angenommen werden, Formica hätte gewissermassen aus Achtlosigkeit oder Gleichgültigkeit selbständig weiterhin die betreffenden diskriminierenden Preise angewandt, denn dies hatte, wie bereits erwähnt, für Formica lediglich zur Folge, daß sie keine Ausfuhren tätigen konnte, was nur P.C.E. und ihrer Tochtergesellschaft D.P.C. zugute kam. Es steht daher fest, daß Formica seit dem 1. Januar 1971 die mit P.C.E. bereits bestehende abgestimmte Verhaltensweise bezueglich der Preise weiterhin praktiziert hat.

    Folglich beruht die Anwendung prohibitiver diskriminierender Preise je nach dem Bestimmungsland durch Formica und Hertel ab 1. Oktober 1970 und über den 1. Januar 1971 hinaus auf einer abgestimmten Verhaltensweise zwischen P.C.E. und jeder dieser beiden Gesellschaften.

    Diese abgestimmte Verhaltensweise bezweckte und bewirkte wegen der Unmöglichkeit, das Schaumglas, das von Formica oder Hertel zu deren "Normalpreisen" gekauft worden wäre, in der BRD zu Preisen weiterzuverkaufen, die im Verhältnis zu den von D.P.C. angewandten Preisen wettbewerbsfähig waren, naturgemäß eine Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes, indem sie billigere Paralleleinfuhren aus Belgien und den Niederlanden in die BRD verhinderte. Angesichts der Bedeutung der betreffenden Gesellschaften, angesichts des Umfangs der verhinderten Paralleleinfuhren, die unter Berücksichtigung der vorgenannten Angaben von D.P.C. auf mehr als 10 % des Schaumglasabsatzes in der BRD geschätzt werden können, und insbesondere angesichts des offenkundigen Charakters dieser Einschränkung musste sie als besonders spürbar angesehen werden, und zwar unabhängig davon, welchen Marktanteil etwaige vergleichbare Erzeugnisse hatten. Schließlich hat die abgestimmte Verhaltensweise den Handelsstrom zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar in einer Weise beeinflusst, die für die Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen Marktes nachteilig sein kann. Demzufolge sind die Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 erfuellt : die Erteilung eines Negativattests ist damit ausgeschlossen.

    Im Hinblick auf Artikel 85 Absatz 3 hat P.C.E. zur Rechtfertigung des in Deutschland zugunsten ihrer Tochtergesellschaft D.P.C. bestehenden Gebietsschutzes folgendes geltend gemacht : Die Grösse des deutschen Gebiets zwinge die D.P.C., ein kostspieliges Verkaufsnetz zu unterhalten und vielfältige Kosten zu tragen. Die D.P.C. verkaufe nur ihr Schaumglas und könne im Unterschied zu Formica und Hertel ihre Kosten nicht auf andere Erzeugnisse verteilen. Schließlich sei in Deutschland eine kostspielige technische Kundenbetreuung erforderlich, auf die bei der belgischen und holländischen Kundschaft verzichtet werden könne. Diese Gesichtspunkte würden nach Ansicht von P.C.E. insgesamt dazu führen, daß der Selbstkostenpreis der D.P.C. weit höher als derjenige von Formica und Hertel sei, so daß die Gewinnspanne der D.P.C. sehr gering sei und die Einführung von P.C.E.-Schaumglas in der BRD zu niedrigeren als den von der D.P.C. angewandten Preisen dieser Gesellschaft einen schweren Schaden zufügen würde.

    Diese Argumente rechtfertigen jedoch nicht die Freistellung einer mit den Zielen des EWG-Vertrags derart in Widerspruch stehenden abgestimmten Verhaltensweise, die darin besteht, innerhalb des Gemeinsamen Marktes einen nationalen Markt abzuschirmen, um ihn ungehinderter für sich zu nutzen.

    Insbesondere erfuellt die Isolierung des deutschen Marktes nicht die erste Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 3, da es unmöglich ist, eine Verbesserung der Warenverteilung in einer Maßnahme zu erkennen, die vielmehr bezweckt und bewirkt, die Verbraucher in der BRD daran zu hindern, ihren Bedarf zu günstigeren Preisen in einem anderen Teil des Gemeinsamen Marktes zu decken, wenn sie auf die technische Kundenbetreuung der D.P.C. verzichten wollen. Eine Verbesserung der Warenerzeugung ist nicht ersichtlich, und es lässt sich weder ein technischer noch ein wirtschaftlicher Fortschritt darin erkennen, daß eine finanzielle Belastung für eine kostspielige technische Kundenbetreuung auf die Verbraucher abgewälzt wird, die diese nicht wollen. Auf jeden Fall vermag die Kommission nicht einzusehen, daß die Aufrechterhaltung weit höherer Preise in der BRD als in Belgien und in den Niederlanden unerläßlich ist, damit die D.P.C. in Deutschland einen zufriedenstellenden Kundendienst gewährleisten kann. Demzufolge ist der Antrag auf Anwendung des Artikels 85 Absatz 3 zurückzuweisen.

    Die vorstehend festgestellte in einer Preisdiskriminierung bestehende abgestimmte Verhaltensweise stellt eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 dar. Diese vorsätzlich oder fahrlässig begangene Zuwiderhandlung ist von dem Tag des Inkrafttretens der diskriminierenden Preise, d.h. vom 1. Oktober 1970 bis zum 1. Juni 1972 - dem Zeitpunkt, von dem an die Anwendung diskriminierender Preise eingestellt worden ist -, praktiziert worden, denn die Einreichung des Negativattests und der Anmeldung vom 6. Januar und 23. Februar 1971 hat die zu diesem Zeitpunkt bestehende Zuwiderhandlung nicht beenden können.

    Diese abgestimmte Verhaltensweise, die auf Veranlassung von P.C.E. zustande gekommen ist und ausschließlich den Interessen von P.C.E. oder ihrer Tochtergesellschaft D.P.C. dient, stellt eine - in erster Linie der P.C.E. zur Last zu legende - schwere Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 dar, da die Unvereinbarkeit dieser abgestimmten Verhaltensweise mit dieser Bestimmung offensichtlich und ihre Auswirkung auf den Markt, wie oben bereits unterstrichen wurde, erheblich ist. Gegen die P.C.E. ist daher eine Geldbusse festzusetzen. Hierbei darf gemäß Artikel 15 Absatz 5 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 17 lediglich der Zeitraum der Zuwiderhandlung vor dem Antrag auf Erteilung eines Negativattests und auf Freistellung berücksichtigt werden. In Anbetracht der Tatsache, daß die Geldbusse gegenüber einem einzigen Unternehmen festgesetzt wird, kann deren Höhe global bemessen werden -

    HAT FOLGENDE ENTSCHEIDUNG ERLASSEN:

    Artikel 1

    Die zwischen Pittsburgh Corning Europe S.A. und Formica Belgium sowie Pittsburgh Corning Europe S.A. und Hertel en Co. abgestimmte Verhaltensweise über die Anwendung diskriminierender Preise je nach dem Bestimmungsland innerhalb des Gemeinsamen Marktes stellt eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 Absatz 1 dar, die vom 1. Oktober 1970 bis zum 1. Juni 1972 begangen worden ist.

    Artikel 2

    Die von Pittsburgh Corning Europe S.A. gestellten Anträge auf Erteilung eines Negativattests und auf Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 werden abgelehnt.

    Artikel 3

    Gegen Pittsburgh Corning Europe S.A. wird eine Geldbusse in Höhe von 100 000 Rechnungseinheiten festgesetzt, deren Gegenwert 5 000 000 belgische Franken beträgt.

    Artikel 4

    Diese Entscheidung ist an die nachstehenden Gesellschaften gerichtet:

    Pittsburgh Corning Europe S.A., Brüssel;

    S.A. Formica Belgium N.V., Brüssel;

    N.V. Hertel en Co., Amsterdam.

    Brüssel, den 23. November 1972

    Für die Kommission

    Der Präsident

    S.L. MANSHOLT

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