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Document 52022IE1100

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine nachhaltige EU-Strategie für pflanzliches Eiweiß und Öl“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2022/01100

    ABl. C 75 vom 28.2.2023, p. 88–96 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    28.2.2023   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 75/88


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine nachhaltige EU-Strategie für pflanzliches Eiweiß und Öl“

    (Initiativstellungnahme)

    (2023/C 75/13)

    Berichterstatter:

    Lutz RIBBE

    Beschluss des Plenums

    20.1.2022

    Rechtsgrundlage

    Artikel 52 Absatz 2 GO

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

    Annahme in der Fachgruppe

    5.10.2022

    Verabschiedung im Plenum

    27.10.2022

    Plenartagung Nr.

    573

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    158/2/3

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die Viehwirtschaft in der EU (mit Fleisch- und Milchprodukten, Eiern) ist ein wirtschaftlich bedeutsamer Teil der Landwirtschaft, der sich allerdings in den letzten Jahren verstärkt einer gesellschaftlichen Debatte stellen muss, u. a. wegen der sowohl regionalen als auch globalen Umweltauswirkungen der intensiven Tierhaltung, aber auch, weil der Sektor stark von Futtermittelimporten abhängig ist. Letzteres wirft Bedenken hinsichtlich der Futtermittel- und Ernährungssicherheit der EU auf. Insbesondere die Importabhängigkeit bei Pflanzen mit hohem Proteingehalt ist erheblich (ca. 75 %).

    1.2.

    Abgesehen von seinem impliziten Anspruch auf Ackerland außerhalb der EU beansprucht der Tierhaltungssektor auch einen großen Teil des Ackerlandes innerhalb der EU. Etwa 50 % der Ernte wird verfüttert, um tierische Produkte herzustellen; weniger als 20 % werden direkt durch den Menschen für die pflanzliche Ernährung genutzt.

    1.3.

    Seit Jahren wird über eine europäische Eiweißstrategie diskutiert, doch über Bekundungen zum Ausbau des Eiweißpflanzenanbaus in Europa hinaus ist bisher wenig passiert. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) möchte mit dieser Stellungnahme Hinweise liefern, welche zusätzlichen Aspekte hierbei Berücksichtigung finden sollten.

    1.4.

    Der EWSA stellt fest, dass es in der EU kaum Eiweißunterversorgung im eigentlichen (pflanzlichen) Lebensmittelsektor („food“) gibt, sondern vielmehr im Mischfuttersektor („feed“). Es gibt viele gute Gründe, den Eiweißanbau in der EU auszudehnen und ganz besonders auch das Grünland in die Fütterung der Tiere stärker einzubeziehen. Aber trotz der vorhandenen Potenziale wird es rein quantitativ nicht möglich sein, die hohen Eiweißimporte vollständig durch eine europäische Produktion zu substituieren, ohne fundamentale Auswirkungen auf andere landwirtschaftliche Produktionsbereiche auszulösen.

    1.5.

    Der EWSA betont ferner, dass die Ausweitung des Anbaus von Ölpflanzen in der EU auch positive Auswirkungen haben könnte, z. B. die Energieautarkie für die Treibstoffversorgung der Ackerschlepper, eine größere Verfügbarkeit von Ölkuchen, die sich potenziell hervorragend als Eiweißfuttermittel eignen, sowie eine erweiterte Fruchtfolge.

    1.6.

    Denn es gibt einen absolut begrenzenden Faktor: die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Fläche. Sowohl in der konventionellen wie auch in der ökologischen Landwirtschaft werden zwar ständig innovative Schritte zur Produktivitätssteigerung vorgenommen, doch auch diese stoßen volumenmäßig an Grenzen. Der EWSA hält es deshalb für dringend notwendig, dass die EU eine Studie über das europaweite Potenzial und die Flächenansprüche von Eiweiß- und Ölpflanzen, die innerhalb der EU angebaut werden könnten, erstellt.

    1.7.

    Ein wichtiger Bestandteil einer europäischen Eiweißstrategie muss es sein, die Nutztierhaltung insgesamt mit den EU-eigenen sowie UN-Zielen bezüglich europäischer und globaler Ernährungssicherheit, Versorgungsautonomie und Nachhaltigkeit vereinbar zu machen. Ein verstärkter Eiweißanbau in der EU ist lediglich ein Teilaspekt davon. Global erscheint eine Entwicklung, bei der sich der weltweite durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten dem heutigen Niveau der entwickelten Volkswirtschaften annähert, unvereinbar mit den UN-Nachhaltigkeitszielen.

    1.8.

    Eine europäische Eiweiß- und Ölstrategie sollte auch zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher Gebiete im Einklang mit der langfristigen Vision der EU für ländliche Gebiete beitragen, beispielsweise durch die Entwicklung neuer, selbsttragender regionaler Wertschöpfungsketten.

    1.9.

    In Deutschland hat eine von der Bundesregierung eingesetzte „Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL)“, in der alle gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten waren, in einem ganzheitlichen Ansatz Vorschläge für ein nachhaltiges Agrar- und Ernährungssystem entwickelt, bei dem auch der Tierhaltungssektor einbezogen wurde. Dabei wurden Änderungen der Produktionsweisen vorgeschlagen, die über ein Bündel von Instrumenten umgesetzt werden sollen (Honorierung über Märkte und Prämien), um möglichst allen Landwirten eine Anpassung zu ermöglichen. Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, sich das Format dieses Prozesses genauer anzusehen und zu prüfen, ob es nicht auch für die Entwicklung einer europäischen Eiweißstrategie passend wäre.

    1.10.

    Eine Eiweißstrategie, die auch den Zielen einer strategischen Versorgungsautonomie dienen würde, wird folgende Elemente beinhalten müssen:

    Förderung von Forschung und Innovation im Bereich pflanzlicher Proteine entlang der gesamten Wertschöpfungskette und für eine bedarfsorientierte und optimierte Nutzung pflanzlicher Proteinquellen

    Entwicklung und stärkere Förderung des Proteinpotenzials in der EU

    Stärkung einer nachhaltigen heimischen Erzeugung pflanzlicher Proteine im Einklang mit den hohen europäischen Standards

    Entwicklung und Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten und regionaler Verarbeitungskapazitäten

    kontinuierliche Zusammenarbeit mit Einrichtungen und landwirtschaftlichen Organisationen zur Förderung des Anbaus und der Verwendung heimischer pflanzlicher Proteine in der Lebensmittel- und Futtermittelindustrie

    weitere Steigerung des Pflanzenpotenzials durch Verbesserung und Ausweitung von Zuchtstrategien

    Ausbau der Bildungs- und Beratungsdienste und des Wissenstransfers

    Ermöglichung und Erleichterung der Erzeugung von Eiweißpflanzen auf im Umweltinteresse genutzten Flächen

    verstärkte Bindung der Tierhaltung an die regionalen Futterpotenziale

    konsequente Einhaltung der vorhandenen Grenzwerte für Verschmutzungen durch Emissionen (Nitrat in Oberflächen- und Grundwasser, Ammoniak usw.), Internalisierung externer Kosten

    Förderung besonders tiergerechter Haltungsverfahren durch Information der Verbraucher und Produktkennzeichnung

    Festlegung von Produktions- und Qualitätsnormen in Bezug auf die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen von Einfuhren von Produkten, die mit den in der EU hergestellten konkurrieren

    eine begleitende Informationskampagne über die ökologischen und gesundheitlichen Folgen unterschiedlicher Ernährungsgewohnheiten

    2.   Einleitung und Hintergrund

    2.1.

    Die EU-Agrarpolitik und -praxis waren im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung erfolgreich, sie konzentrieren sich nun jedoch u. a. mit ihrer Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ verstärkt auf Fragen der Nachhaltigkeit, die Erreichung der Ziele des Grünen Deals und der SDG. Spätestens seit der COVID-19-Pandemie und dem Ukraine-Krieg steht zusätzlich das Ziel einer strategischen Versorgungsautonomie im Fokus.

    2.2.

    Die Viehwirtschaft (mit Fleisch- und Milchprodukten, Eiern) ist ein wirtschaftlich bedeutsamer Teil der EU-Wirtschaft, der sich allerdings in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen verstärkt einer gesellschaftlichen Debatte stellen muss; ein Aspekt ist die starke Abhängigkeit von Futtermittelimporten.

    2.3.

    Das Europäische Parlament spricht in seiner Entschließung „Eine europäische Strategie zur Förderung von Eiweißpflanzen“ (1) von einem „erheblichen Defizit an Pflanzeneiweiß […], was den Bedürfnissen des Tierhaltesektors zuzuschreiben ist“, und dass sich „trotz der Verwendung von Nebenerzeugnissen aus der Produktion von Biokraftstoffen in Futtermitteln leider wenig geändert hat“. Nur „auf 3 % des Ackerlands [werden] Eiweißpflanzen angebaut und mehr als 75 % ihres Bedarfs an pflanzlichen Eiweißen [werden] in erster Linie durch aus Brasilien, Argentinien und den Vereinigten Staaten eingeführte Erzeugnisse gedeckt“ (2), obwohl die Erzeugung von eiweißreichen Stoffen in der EU zwischen 1994 und 2014 von insgesamt 24,2 auf 36,3 Mio. Tonnen (+ 50 %) angestiegen ist; der Gesamtverbrauch hat sich aber im gleichen Zeitraum von 39,7 auf 57,1 Mio. Tonnen (+ 44 %) (3) gesteigert. Politische Entscheidungen wie das Blair-House-Abkommen haben entscheidend mit dazu beigetragen, dass diese Abhängigkeiten entstanden sind.

    2.4.

    Eine besondere, für die Futtermittelindustrie (4) geradezu überragende Rolle spielt „Sojaschrot, das wegen seines hohen Proteingehalts (über 40 %), des Aminosäuregehalts und der ganzjährigen Verfügbarkeit eine besonders bevorzugte Komponente im Mischfutter ist, wodurch häufige Änderungen der Zusammensetzung vermieden werden können“ (5). Der Verbrauch von Soja stieg in Europa von 2,4 Mio. Tonnen 1960 auf knapp 36 Mio. Tonnen/Jahr. Zur Deckung dieser immensen Nachfrage nach Soja werden knapp 15 Mio. Hektar Land benötigt, „von denen 13 Mio. Hektar in Südamerika liegen“ (6); dies entspricht mehr als der gesamten Ackerfläche Deutschlands (11,7 Mio. Hektar) (7). Der absolut überwiegende Teil des importierten Soja (ca. 94 %) besteht aus gentechnisch veränderten Sorten.

    2.5.

    Die im Kommissionsdokument (8) genannten Proteinpflanzen mit einem hohen Proteingehalt (über 15 %) „machen etwa ein Viertel des Angebots an Rohproteinpflanzen in der EU aus. Getreide und Grünland steuern zwar einen erheblichen Teil zum Gesamtangebot an Pflanzenproteinen bei“, erstaunlicherweise werden aber Getreide und Grünland von der Kommission bei ihren strategischen Überlegungen zu den Pflanzenproteinen „aufgrund des niedrigen Proteingehalts und der geringen Relevanz für den Markt“ (9) nicht berücksichtigt; eine Argumentation, die der EWSA nicht akzeptieren kann.

    2.6.

    Die hohen Importe, besonders bei Soja, haben primär damit zu tun, dass Soja aufgrund der natürlichen Anbaubedingungen in den USA und Südamerika dort weitaus kostengünstiger produziert werden kann; zudem spielen z. T. gravierend geringere Umwelt- und Sozialstandards eine Rolle; die Abholzung der Naturwälder in Südamerika sowie die Vertreibung von indigenen Völkern, aber auch von Kleinbauern sind Beispiele dafür (10). Der EWSA begrüßt, dass die Kommission das Problem erkannt hat und sich für „entwaldungsfreie Lieferketten“ (11) einsetzt.

    Weder bei den letzten Reformvorschlägen zur GAP noch bei den Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten wurden von Seiten der EU ausreichende Initiativen ergriffen, die zu einer wirklichen Reduktion der Importabhängigkeit führen könnten.

    2.7.

    In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass im Rahmen der bisherigen GAP der Eiweißanbau im Besonderen durch die sogenannten ökologischen Vorrangflächen profitiert hat, die es nach der Reform nicht mehr geben wird: Stickstoffbindende Pflanzen sind der am häufigsten erklärte Typ für ökologische Vorrangflächen (ÖVF); 37 % (!) der ÖVF werden entsprechend genutzt. Eine Auswertung der eingereichten nationalen Strategiepläne zur Umsetzung der neuen GAP steht zwar noch aus, sodass der EWSA noch keine Aussage treffen kann, ob diese zu Verbesserungen oder Verschlechterungen führen werden. Zwar stehen den Mitgliedstaaten diverse Optionen (besonders: gekoppelte Zahlungen) zur Verfügung, den Anbau zu fördern, doch erste Analysen lassen befürchten, dass a) nicht alle Mitgliedstaaten davon Gebrauch machen werden und b) die Förderhöhen nicht attraktiv genug ausfallen.

    2.8.

    Der EWSA hat eine klare Position: Er hält „eine Verbesserung der Selbstversorgung der EU mit Proteinen […] unter allen Gesichtspunkten [für] wünschenswert. Die Einfuhr von Sojabohnen aus Drittländern kann Entwaldung, Waldschädigung und Zerstörung natürlicher Ökosysteme in bestimmten Erzeugerländern Vorschub leisten. Durch einen verstärkten unionsweiten Anbau von Hülsenfrüchten mit hohem Eiweißgehalt könnten Einfuhren beschränkt werden, was positive Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt hätte“ (12).

    2.9.

    Dieser Position wird von keiner Seite widersprochen. Innerhalb der EU wird vielmehr seit langem über die Notwendigkeit einer entsprechenden europäischen Eiweißstrategie diskutiert, doch viel mehr als Bekenntnisse zum Ausbau des europäischen Eiweißanbaus und die in Ziffer 2.7. genannten Instrumente gibt es bisher nicht. Von einer wirkungsvollen europäischen Eiweißstrategie ist man also weit entfernt.

    2.10.

    Seit Beginn der COVID-19-Pandemie, spätestens aber mit dem Ukraine-Krieg wird deutlich, dass die globale Arbeitsteilung und Handelsbeziehungen nicht nur positive Folgen haben. Sie können zu Problemen führen, über die man bisher nicht oder nur unzureichend nachgedacht hat. Das neue Stichwort lautet: strategische Versorgungsautonomie. Egal ob man an die Versorgungslücken bei Gesichtsmasken, Arzneimitteln, Halbleitern oder fossilen Energien wie Gas, Öl, Kohle denkt: Abhängigkeiten können zu extremen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen führen.

    2.11.

    Der Krieg in der Ukraine und seine zu erwartenden Langzeitfolgen werden sowohl den europäischen als auch den globalen landwirtschaftlichen Sektor und die europäische Lebensmittelindustrie nachhaltig treffen und verlangen Veränderungen.

    2.12.

    In seiner Entschließung „Der Krieg in der Ukraine und seine wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen“ (13) spricht der EWSA deshalb auch davon, „dass der Konflikt unweigerlich schwerwiegende Folgen für den Agrar- und Lebensmittelsektor der EU haben wird, der zusätzliche Unterstützung benötigen wird, […] unterstreicht in dieser Hinsicht, dass die EU sich stärker für nachhaltige Lebensmittelsysteme einsetzen und […] insbesondere muss die EU ihre Ernährungssicherheit verbessern, indem sie die Abhängigkeit von wichtigen importierten landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Betriebsmitteln verringert“.

    2.13.

    Gleichzeitig betont der EWSA, „dass die Auswirkungen des Krieges nicht zulasten des Klimaschutzes und der Nachhaltigkeit gehen sollten“ und dass die SDG der UN-Agenda 2030 auch Frieden, Sicherheit und Armutsminderung fördern. Durch den europäischen Grünen Deal würden Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Agenda 2030 und bei einem gerechten Übergang erzielt.

    2.14.

    Auch die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich dieser Frage angenommen. In ihrer Erklärung von Versailles vom 11. März 2022 heißt es: „Wir werden unsere Ernährungssicherheit verbessern, indem wir unsere Abhängigkeit von wichtigen importierten landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Betriebsmitteln verringern, insbesondere durch die erhöhte Erzeugung pflanzlicher Proteine in der EU (14).“

    3.   Fakten und Trends

    3.1.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass bei der Erarbeitung einer umfassenden europäischen Eiweißstrategie viel stärker systemare Fragen erörtert und berücksichtigt werden müssen. Hierzu gehört die Klärung der Frage, wie das jetzige System aus der Sicht einer strategischen europäischen Versorgungsautonomie sowie aus globalen wie regionalen Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu bewerten ist, welche Vor- und Nachteile es für die Landwirte, Verbraucher, Umwelt und Nutztiere hat. Bedacht werden müssen aber auch aktuelle Trends, die Auswirkungen auf den Bereich Eiweißversorgung haben.

    Teller, Tank oder Trog — was bauen wir an und was passiert mit der Ernte landwirtschaftlicher Pflanzen?

    3.2.

    Ohne die hohen Eiweißimporte wäre die derzeit hohe Fleischproduktion in Europa nicht möglich, obwohl schon heute ein Großteil der landwirtschaftlichen Ernte verfüttert wird. In Deutschland z. B. sind es fast zwei Drittel (!) der gesamten Ernte, nämlich fast das gesamte Grünland (das wir Menschen natürlich auch nicht direkt verwerten können), sowie jeweils 60 % des Maises und des Getreides (15). Die mengenmäßig zweitwichtigste Verwendung der Ernte sind nicht etwa pflanzliche Nahrungsmittel, sondern ist die Gewinnung technischer Energie (Mais für Biogas, Raps für Biodiesel und Getreide und Zuckerrüben für Bioethanol). Erst an dritter Stelle kommt die direkte Nutzung von Pflanzen als Nahrungsmittel. Die in Deutschland konsumierten pflanzlichen Nahrungsmittel — im Wesentlichen Brotgetreide, Kartoffeln, Zucker, Rapsöl und Feldgemüse — machen nur 11 % der gesamten pflanzlichen Erzeugung aus!

    3.3.

    Auch 93 % der importierten Pflanzenproteine werden verfüttert. Gerade diese Importe wie auch der Umfang sowie die Intensität der Fleischproduktion sind in den letzten Jahren Gegenstand vieler gesellschaftlicher Debatten geworden.

    3.4.

    Zwei Erkenntnisse sollten vorweggenommen werden: Erstens gibt es in der EU kaum Eiweißunterversorgung im eigentlichen (pflanzlichen) Lebensmittelsektor („food“), sondern vielmehr im Mischfuttersektor („feed“). Es wird zweitens nicht möglich sein, die hohen Eiweißimporte vollständig durch eine europäische Produktion zu substituieren, ohne fundamentale Auswirkungen auf andere Produktionsbereiche der Landwirtschaft auszulösen.

    3.5.

    Denn es gibt einen absolut begrenzenden Faktor: die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Fläche. Sowohl in der konventionellen wie auch in der ökologischen Landwirtschaft werden zwar ständig innovative Schritte zur Produktivitätssteigerung vorgenommen, doch auch diese stoßen volumenmäßig an Grenzen. Der Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland kommt daher nach eingehender Analyse zu dem Ergebnis, dass es gilt, „die Bezugskanäle dieser Proteinträger […] weiterhin zu sichern, denn eine vollständige Selbstversorgung mit heimischen Proteinen bleibt unrealistisch“ (16).

    3.6.

    Diese grundlegenden Aussagen sollten nicht missverstanden werden: Es gibt viele gute Gründe, einen verstärkten Anbau von Protein- und Ölpflanzen in der EU intensiv zu fördern. Sie binden Stickstoff im Boden, reduzieren den Bedarf an mineralischem Stickstoff, verbessern Bodenqualität und -fruchtbarkeit, sie leisten einen positiven Beitrag zum Klimaschutz. (z. B. weniger Transportbedarf, weniger Entwaldung, geringerer Betriebsmitteleinsatz). Erweiterte Fruchtfolgen verringern das Auftreten von Schädlingen und sind positiv für die Biodiversität. Heute wird nur ein sehr geringer Teil (ca. 3 %) der landwirtschaftlichen Fläche mit Eiweißpflanzen bestellt. Die sehr sinnvolle Ausdehnung muss aber folglich unweigerlich zu Lasten anderer Anbauformen, z. B. anderer Kultur- oder Energiepflanzen, geschehen oder zu Konkurrenzsituationen beispielsweise mit anderen Naturschutzmaßnahmen führen.

    Aktuelle Trends

    3.7.

    Deshalb ist es zunächst ratsam, Trends zu beschreiben und zu analysieren, die Auswirkungen auf die zukünftige Tierhaltung und -ernährung und somit auf Eiweißbedarf und -qualität haben könnten.

    3.7.1.

    Auf der einen Seite ist bereits ein verändertes Verbraucher- und Konsumverhalten zu erkennen. Immer mehr Verbraucher reduzieren ihren Fleischkonsum oder wenden sich völlig vom Fleischverzehr ab. Der hohe Fleischkonsum in Europa wird mittlerweile auch aus ernährungsphysiologischen Gründen in Frage gestellt. In einigen Mitgliedstaaten ist bereits ein rückläufiger Fleischverzehr zu beobachten (17). Deutlich ablesbar ist dies nicht nur in Statistiken, sondern auch in den Regalen der Supermärkte, wo aus Eiweißpflanzen hergestellte Fleischersatzprodukte sichtbar zunehmen.

    3.7.2.

    Ein zweiter Trend kann mit „weniger, dafür aber ‚Fleisch mit besserer Qualität‘“ umschrieben werden: Premiumprogramme, die auf mehr Tierwohl und mehr Regionalität setzen, nehmen zu, was Auswirkungen auf die Fütterung hat. So achten immer mehr Verbraucher darauf, wie die Tiere gehalten werden und ob sie zum Beispiel mit lokal produziertem Futter und/oder gentechnikfreien Futtermitteln gefüttert wurden, ob sie Weidegang haben usw. In der EU ist hierbei schon eine hohe Differenzierung zu beobachten.

    3.7.3.

    Dieser Trend wurde in der Vergangenheit als kleine Nische angesehen, jedoch deuten sich entscheidende Veränderungen an: Viele große Supermarktketten in mehreren Mitgliedstaaten haben bereits die Anforderungen an ihre Frischfleischprodukte in Bezug auf Tierschutz und Umweltverträglichkeit schrittweise erhöht. Weitere radikale Veränderungen stehen an: So werden einige große Discounter ab 2030 100 % ihres Frischfleisch-Sortiments nur noch aus Außenklima- und Premium-Haltung beziehen. Die Umstellung bezieht sich auf alle Nutztiergruppen (Rind, Schwein, Hähnchen und Pute).

    3.7.4.

    Auch die geplante bzw. bereits stattfindende Zunahme des Bioanbaus in der EU wird Auswirkungen auf die Futterversorgung (und die Sojaimporte) haben. Die ökologische Tierhaltung wuchs bisher nach Angaben der Europäischen Kommission jährlich um 10 %. Das 25 %-Ziel der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ würde hier einen weiteren Push bewirken, wenn sich die Märkte entsprechend entwickeln, wozu die GAP beitragen will. Da weltweit nur 6 % der Sojabohnen als nicht gentechnisch verändertes Soja vertrieben werden, müssen sich die Betriebe nach Alternativen umschauen und/oder verstärkt hofeigenes Futter herstellen.

    3.7.5.

    Auch bei der Milch sind bereits deutliche Veränderungen erkennbar: In vielen Mitgliedstaaten verlangt der Lebensmitteleinzelhandel von den Molkereien Milch und Milchprodukte ohne Verwendung von Gentechnik bei der Fütterung der Kühe. Das hat dazu geführt, dass z. B. in Deutschland mittlerweile bei etwa 70 % der Milchproduktion kein Sojaschrot mehr gefüttert wird. Der Markt beginnt sich zu differenzieren, Weide-, Heu- oder Bergbauernmilch sind Beispiele hierfür. Dennoch bleiben Milcherzeugnisse auch in Zukunft eine unverzichtbare und für alle zugängliche Eiweißversorgung im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung für alle Altersgruppen der Bevölkerung.

    3.7.6.

    Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an den EWSA-Informationsbericht „Vorteile der extensiven Viehhaltung und organischer Düngemittel im Rahmen des Grünen Deals“ (18), in dem die extensive Tierhaltung (auf Dauerwiesen und -weiden) nicht nur wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Biodiversität und anderer ökologischer und landeskultureller Leistungen, sondern auch als „für die Versorgung mit nachhaltigen, gesunden, sicheren und hochwertigen Lebensmitteln von zentraler Bedeutung, insbesondere angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung“ gewürdigt wird. Die Notwendigkeit, die „Rolle von Gras- und Kleeweiden als wichtige Proteinquelle für Wiederkäuer“ stärker zu berücksichtigen, findet sich auch in einer weiteren Stellungnahme des Ausschusses (19).

    3.7.7.

    Eine weitere, völlig andere Entwicklung mit potenziell verheerenden wirtschaftlichen Folgen für die Landwirtschaft, die traditionelle Tierhaltung und das gesamte Agrar- und Lebensmittelsystem ist die Entwicklung von sogenanntem Kunstfleisch, das jedoch nichts mit Fleisch zu tun hat, sondern in einem Reaktor gezüchtet wird. Dieser Trend geht weder von Verbrauchern noch von Landwirten aus, sondern von großen multinationalen Konzernen wie Cargill, Tyson Foods oder Nestlé. Sie forschen an bzw. entwickeln Praktiken, um künstliches Fleischgewebe in industriellen Reaktoren herzustellen. Ihr Argument ist, dass sie das, was Landwirte seit jeher in der Geschichte der Menschheit in Form der traditionellen Viehzucht tun (nämlich Zellen wachsen lassen), in einem Reaktor mit viel weniger Landverbrauch leisten können, wobei nach wie vor Zweifel daran bestehen, ob dabei Wasser und sonstige Ressourcen eingespart werden, und auch in Bezug auf „Qualität“ und Produktionskosten bleiben viele Fragezeichen. Der EWSA fordert die Einleitung einen breiten gesellschaftlichen Debatte über Bedenken im Hinblick auf diese potenzielle Entwicklung und deren negative Folgen für Viehzüchter und die Fleischerzeugungskette, die möglicherweise Schäden für die Volkswirtschaften und die Beschäftigung in allen Mitgliedstaaten sowie in der Europäischen Union insgesamt mit sich bringt.

    Reaktionen der Politik

    3.8.

    Es gibt mittlerweile deutliche Reaktionen der Politik, die z. T. inhaltlich noch weiter gehen als die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und die auch in einem völlig anderen gesellschaftlichen Diskurs erstellt wurden. In Deutschland etwa hat die Bundesregierung im Juli 2020 eine „Zukunftskommission Landwirtschaft“ (ZKL) eingesetzt, die aus 32 Mitgliedern bestand, die sich aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, auch den traditionellen Bauernverbänden und der Wissenschaft zusammensetzte. Ziel war es, eine von breiten Gesellschaftskreisen akzeptierte Vision für die Zukunft des Landwirtschafts- und Ernährungssystems zu erarbeiten. Im Juni 2021 wurden die Empfehlungen einstimmig verabschiedet und veröffentlicht. Sie folgen einem gemeinsamen Prinzip: Die ökologische und (tier-)ethische Verantwortbarkeit der Landwirtschaft ist am effektivsten und dauerhaftesten zu verbessern, indem Wege gefunden werden, die nachhaltigere Produktionsweisen durch die Einführung neuer Instrumente finanziell honorieren und somit betriebswirtschaftlich rentabel machen.

    3.9.

    Für den Bereich der Nutztierhaltung schließt sich die ZKL den Empfehlungen des Kompetenznetzwerkes Nutztierhaltung an, das vom Bundeslandwirtschaftsministerium eingesetzt wurde. Im Februar 2020 wurden die Vorschläge der Kommission veröffentlicht (20). Darin wird eine Transformationsstrategie zum Umbau der Nutztierhaltung mit einer substanziellen Erhöhung des Tierwohlniveaus skizziert. Diese beinhaltet eine Finanzierung durch Steuern oder Abgaben in Verbindung mit höheren Marktpreisen und einer Prämiengewährung, die an eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung mit entsprechenden definierten Haltungsstandards gebunden ist. Dies sei entscheidend, um den betroffenen Landwirten eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen. Das Ergebnis dieser Transformationsstrategie soll zur Existenzsicherung der tierhaltenden Betriebe bei einem gleichzeitigen Rückgang der Tierbestände führen.

    3.10.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die derzeitigen Formen der Tierhaltung in Europa sowohl hinsichtlich der Nachfrage nach Importen (hauptsächlich Soja) als auch hinsichtlich der regionalen Auswirkungen auf die Umwelt teilweise grundlegend unterscheiden. Während die eher traditionellen bzw. extensiv-ökologischen, flächengebundenen Haltungsformen meist auf regionalen Betriebs- und Futtermitteln basieren und überschaubare Umweltauswirkungen haben, teilweise sogar unverzichtbar für die Erhaltung von Kulturlandschaften sind, belastet das gegenwärtige und wachsende Volumen der Intensivtierhaltung die regionale Umwelt und basiert — trotz bereits großer Ansprüche auf Ackerland innerhalb der EU — weitgehend auf importiertem Futter, dessen Anbau in den Ursprungsländern massive Konsequenzen hat (u. a. Beitrag zur globalen Entwaldung und zum Klimawandel sowie soziale Verwerfungen).

    3.11.

    Ein wichtiger Bestandteil einer europäischen Eiweißstrategie muss es deshalb sein, die Nutztierhaltung insgesamt mit den EU-eigenen sowie den UN-Zielen bezüglich europäischer und globaler Ernährungssicherheit, Versorgungsautonomie und Nachhaltigkeit vereinbar zu machen. Ein verstärkter Eiweißanbau in der EU ist ein Teilaspekt davon, jedoch erscheint global eine Entwicklung, bei der sich der weltweite durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten dem heutigen Niveau der entwickelten Volkswirtschaften annähert, unvereinbar mit den UN-Nachhaltigkeitszielen. Eine Reduktion der Tierbestände ist unvermeidlich.

    3.12.

    Im Prinzip hat die ZKL bereits eine solche Bewertung des heutigen Agrar- und Ernährungssystems vorgenommen, und dies im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses, der es verdient, von anderen EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission selbst genauer analysiert zu werden. Darin werden auf der einen Seite die unbestrittenen positiven Leistungen, die die Landwirtschaft für die Gesellschaft erbringt, gewürdigt, gleichzeitig setzt sie sich kritisch mit dem auseinander, worauf die Produktionsentwicklungen der letzten Jahre basieren und welche Folgen sie mit sich gebracht haben: „Die Kehrseite dieses Fortschrittes sind Formen der Übernutzung von Natur und Umwelt, von Tieren und biologischen Kreisläufen bis hin zur gefährlichen Beeinträchtigung des Klimas. Gleichwohl steckt die Landwirtschaft auch ökonomisch in einer Krise. Verschiedene, nicht zuletzt auch politische Faktoren haben zu Wirtschaftsweisen geführt, die weder ökologisch noch ökonomisch und sozial zukunftsfähig sind. […] Angesichts der externen Kosten, die die vorherrschenden Produktionsformen mit sich bringen, scheidet eine unveränderte Fortführung des heutigen Agar- und Ernährungssystems aus ökologischen und tierethischen, wie auch aus ökonomischen Gründen aus (21).

    4.   Forderungen: Eine nachhaltige Eiweißversorgung und die Rolle von Ölpflanzen stärken

    4.1.

    In einem Europa, in dem mehr und mehr die Versorgungsautonomie als ein strategisches Ziel anerkannt wird, sind durchaus Vergleiche zur Energiepolitik angebracht: Die Abhängigkeit von Importen sollte so weit wie möglich reduziert und eine nachhaltige Deckung des Bedarfs mit eigenen Ressourcen im Mittelpunkt stehen.

    4.2.

    Anders als im Energiebereich, in dem es gelingen kann, den Mangel an fossilen Brennstoffen durch neue Technologien (Wind, Sonne, Biomasse, Wasserstoff usw.) zu kompensieren, muss der globale Ernährungssektor Produktion und Konsum an das Potenzial des endlichen Naturkapitals (hauptsächlich Land, aber auch Biodiversität) anpassen. Damit einhergehen muss eine Priorisierung der Nutzung der landwirtschaftlichen Erträge. Oberste Priorität muss die Versorgung der Menschen vor allem mit pflanzlichen Produkten (Getreide, Obst, Gemüse usw.) haben. Glücklicherweise gibt es keinen Grund zur Sorge, dass die EU diesen Bedarf für die eigene Bevölkerung nicht decken kann. Angesichts der wachsenden Besorgnis über den Welthunger sollte allerdings bedacht werden, dass der Welthunger nicht mit Fleischproduktion gelöst werden kann, im Gegenteil: Futtermittel (wie auch Biomasse zu Energiezwecken) konkurrieren mit Nahrung.

    4.3.

    Dieser Landnutzungskonflikt verschärft sich dadurch, dass sich die Landwirtschaft in fast allen Regionen der EU einer zum Teil erheblichen Flächenkonkurrenz ausgesetzt sieht: Der Verlust an landwirtschaftlichen Flächen zur Urbanisierung/Bebauung und Infrastruktur usw. wird nach Berechnungen der EU dazu führen, dass die Nutzfläche bis 2030 um fast 1 Mio. Hektar abnehmen könnte.

    4.4.

    Dennoch finden wir in der EU im globalen Vergleich eine komfortable Situation vor: Eine EU-Landwirtschaft, die sich an den Prinzipien des europäischen Agrarmodells (22) orientiert, ist eindeutig in der Lage, ausreichend hochwertige pflanzliche Produkte für alle Mitbürger bereitzustellen, sie kann zudem durchaus große Mengen an Futtermitteln liefern, aber nicht zur Befriedigung des jetzigen Bedarfs. Und angesichts des zu vermutenden Ausfalls von Getreidelieferungen aus der Ukraine und Russland in Hungersregionen muss die Frage gestellt werden, ob wir in der EU nicht weniger Getreide verfüttern (bzw. dem Kraftstoff zusetzen) müssten, um zur Lösung des sich verschärfenden globalen Hungerproblems beitragen zu können und auch um die Eiweißversorgung zu steigern.

    4.5.

    Im Rahmen einer europäischen Eiweißstrategie muss bedacht werden, dass Wiederkäuer (aber nicht nur die) eine Gabe haben, über die Menschen nicht verfügen: sie können Gras verwerten! Selbst bei Monogastriern (Schweine und Geflügel) könnte Grünland einen Teil der Futterrationen ergänzen. Damit sollte Grünland einen wesentlichen Baustein für eine nachhaltige Eiweißversorgung darstellen, dies kommt in den politischen Diskussionen derzeit viel zu kurz. Auch die im vergangenen Jahr von der EU getroffene Entscheidung, Tier- und Insektenmehl in der Tierernährung wieder zuzulassen, kann zu einer Reduzierung des Anteils an pflanzlichem Eiweiß in der Tierernährung beitragen.

    4.6.

    Neuere Studien aus den Fachgremien der Union zur Förderung von Öl- und Proteinpflanzen (UFOP) zu den Potenzialen von Raps und Leguminosen in Anbau und Fütterung stimmen zuversichtlich, dass anbautechnisch ein Potenzial vorhanden ist, um weitaus mehr Raps und Leguminosen anzubauen und gleichzeitig die Fruchtfolgen deutlich zu erweitern. Der Anteil von Raps und Leguminosen könnte jeweils ca. 10 % der Ackerfläche betragen, dies entspricht z. B. bei Leguminosen (insbesondere Körnererbsen, Ackerbohnen, Sojabohnen, Süßlupinen) mehr als einer Verdoppelung des aktuellen Niveaus. Mehr Ölpflanzen stehen also einer nachhaltigen Landnutzung nicht entgegen, im Gegenteil. Allerdings kann dies nur zu Lasten anderer Anbauformen geschehen.

    4.7.

    Diese Studie zeigt jedoch auch, dass der Bedarf des jetzigen Tierbestandes nicht autark gedeckt werden kann und dass es zu Bestandsreduktionen kommen muss, will man dem Ziel einer strategischen Versorgungsautonomie näherkommen.

    4.8.

    Der EWSA hält es deshalb für dringend notwendig, dass die EU eine Studie über das europaweite Potenzial von Eiweiß- und Ölpflanzen, die innerhalb der EU-Grenzen angebaut werden könnten, erstellt. Dabei muss die Nachhaltigkeit der Landnutzung (Fruchtfolgen, Bodenfruchtbarkeit, inklusive Biodiversität) berücksichtigt werden. Aus den Ergebnissen dieser Studie sollte dann abgeleitet werden, welche Flächenansprüche für eine gesunde, auf pflanzlichem Protein basierende Ernährung für die europäischen Bürger erforderlich sind. Daraus lässt sich dann ableiten, was für Tierfutter (bzw. für Energiezwecke) übrigbleibt und damit auch, was noch importiert werden muss für eine Nutztierhaltung, die in die europäischen und globalen ökologischen Grenzen einer auf Nachhaltigkeit und Tierwohl ausgerichteten Tierhaltung passt. Eine europäische Eiweißstrategie muss dann auch eine Antwort auf die Frage geben, welche Konsequenzen sie für bestehende Handelsabkommen (wie z. B. Mercosur) haben muss und wie die nachhaltig wirtschaftenden Landwirte in der EU vor Importen aus nicht nachhaltigen Produktionen geschützt werden können.

    4.9.

    Dem EWSA ist es wichtig, zu betonen, dass bei einer Nutzung von 10 % der Anbaufläche in der EU durch Ölkulturen das so gewonnene Öl zu einer Energieautarkie für die Treibstoffversorgung der Ackerschlepper führen könnte, wenn es nur für diesen Zweck benutzt wird. Der EWSA hat schon in früheren Stellungnahmen (23) darauf hingewiesen, dass er es für sinnvoll hält, ein gesondertes Programm zum Einsatz von nicht veresterten (also reinen) Pflanzenölen in landwirtschaftlichen Maschinen aufzulegen und nicht auf eine Beimischung zum Diesel zu setzen. Allerdings sollte auch die Verwendung von B100-Kraftstoffen (zu 100 % veresterte Pflanzenöle) in Betracht gezogen werden. Der dabei anfallende Ölkuchen (24) stellt ein hervorragendes Eiweißfuttermittel dar (gleiches gilt beispielsweise für Abfälle aus der Alkoholgewinnung).

    4.10.

    Einige Mitgliedstaaten arbeiten bereits — aus sehr unterschiedlichen Gründen — an einer Abstockung der Tierbestände (z. B. die Niederlande). Diese kann ordnungsrechtlich verfügt oder durch marktwirtschaftliche Instrumente gestaltet werden. Der EWSA spricht sich — neben klaren Umwelt- und Tierwohlstandards — primär für marktwirtschaftliche Lösungen aus, mit denen Bedingungen geschaffenen werden, um neue regionale Wertschöpfungsketten aufzubauen, die selbsttragend und nicht dauerhaft von Förderungen abhängig sind. Gleichzeitig sollen sie möglichst allen tierhaltenden Betrieben Perspektiven eröffnen. Sie müssen es zudem möglichst allen Landwirten in der EU ermöglichen, nachhaltig zu produzieren und einen sicheren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies erfordert Schutz vor unlauterem Wettbewerb und vor unlauteren Handelspraktiken, und dafür ist es erforderlich, die Marktmacht der Landwirte im Transformationsprozess hin zu einem globalen nachhaltigen Ernährungssystem voranzutreiben.

    4.11.

    Dies alles zeigt erneut, dass eine nachhaltige EU-Strategie für pflanzliches Eiweiß und Öl das gesamte Agrar- und Ernährungssystem betrachten muss, eine isolierte Anbaustrategie hilft nicht weiter.

    4.12.

    Marktmechanismen müssen derartig ausgerichtet werden, dass sie die realen sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Kosten widerspiegeln. Marktversagen kann durch fakten- und wissenschaftsbasierte staatliche Eingriffe korrigiert werden, die darauf abzielen, den Kompromiss zwischen Kosten und Nutzen für die Gesellschaft unter Berücksichtigung aller Interessen zu optimieren.

    Brüssel, den 27. Oktober 2022

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 zu einer europäischen Strategie zur Förderung von Eiweißpflanzen (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2).

    (2)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2), Anm. des EWSA zu Erwägung E: Die 75 %-ige Abhängigkeit bezieht sich als auf Eiweißpflanzen mit einem hohen Proteingehalt, die bedeutende Eiweißversorgung der Tiere durch Gras und Getreide wird unverständlicherweise in vielen Diskussionen vernachlässigt!

    (3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2), Erwägung L.

    (4)  Bericht der Kommission an den Rat und Europäische Parlament über die Entwicklung von Pflanzenproteinen in der Europäischen Union Report (COM(2018) 757 final,), S. 2.

    (5)  COM(2018) 757 final, S. 3.

    (6)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2), Erwägung L.

    (7)  Die gesamte Landwirtschaftsfläche Europas (inkl. Weiden und Wiesen) in der EU beträgt laut Eurostat derzeit rund 174 Mio. Hektar (Angaben aus der Zeit vor dem Brexit).

    (8)  COM(2018) 757 final .

    (9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17.4.2018 (ABl. C 390 vom 18.11.2019, S. 2).

    (10)  Stellungnahme des EWSA zur Minimierung des Risikos der Entwaldung und Waldschädigung im Zusammenhang mit Produkten, die in der EU in Verkehr gebracht werden (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 88).

    (11)  Stellungnahme des EWSA zur Minimierung des Risikos der Entwaldung und Waldschädigung im Zusammenhang mit Produkten, die in der EU in Verkehr gebracht werden (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 88).

    (12)  Sondierungsstellungnahme des EWSA auf Ersuchen des französischen Ratsvorsitzes Ernährungssicherheit und nachhaltige Lebensmittelsysteme (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72), Ziffer 1.3.ii.

    (13)  Entschließung des EWSA, verabschiedet auf der Plenartagung vom 24. März 2022 (ABl. C 290 vom 29.7.2022, S. 1).

    (14)  https://www.consilium.europa.eu/media/54802/20220311-versailles-declaration-de.pdf.

    (15)  2017 betrug die landwirtschaftliche Nutzfläche in der EU (27) 178,7 Mio. Hektar: 105,5 Mio. Hektar waren Ackerland, davon 63 % (66,8 Mio. Hektar) Ackerland für Futtermittelanbau (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1196852/umfrage/landwirtschaftliche-flaechen-in-der-eu-nach-nutzungsart/).

    (16)  Verband der Ölsaaten-verarbeitenden Industrie in Deutschland (OVID): Eiweißstrategie 2.0, 2019.

    (17)  In Deutschland ist der Schweinefleischverzehr pro Einwohner von 1995 bis 2021 von 39,8 auf 31 kg zurückgegangen.

    (18)  EWSA-Informationsbericht Vorteile der extensiven Viehhaltung und organischer Düngemittel im Rahmen des europäischen Grünen Deals.

    (19)  Sondierungsstellungnahme des EWSA auf Ersuchen des französischen Vorsitzes des Rates Ernährungssicherheit und nachhaltige Lebensmittelsysteme (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72).

    (20)  https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Nutztiere/200211-empfehlung-kompetenznetzwerk-nutztierhaltung.html.

    (21)  Abschlussbericht der ZKL.

    (22)  Initiativstellungnahme des EWSA zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013 (ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35).

    (23)  Stellungnahme des EWSA zur Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 43).

    (24)  Beim Pressen von Raps erhält man ca. ein Drittel Öl und zwei Drittel sogenannten Ölkuchen.


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