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Document 52022IE2323

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Starke europäische Solidarität für Patienten mit seltenen Krankheiten“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2022/02323

    ABl. C 75 vom 28.2.2023, p. 67–74 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    28.2.2023   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 75/67


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Starke europäische Solidarität für Patienten mit seltenen Krankheiten“

    (Initiativstellungnahme)

    (2023/C 75/10)

    Berichterstatter:

    Alain COHEUR

    Beschluss des Plenums

    24.2.2022

    Rechtsgrundlage

    Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    29.9.2022

    Verabschiedung im Plenum

    26.10.2022

    Plenartagung Nr.

    573

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    171/1/1

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Im Jahr 2009 verabschiedete der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Stellungnahme SOC/330 zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten“ (1), in der er seine Unterstützung, Bedenken und Vorschläge mit dem Ziel zum Ausdruck bringt, den Blick für die Bedürfnisse von Menschen mit seltenen Krankheiten in ihrer Gesamtheit zu schärfen. Der EWSA findet es sehr bedauerlich, dass er mehr als zehn Jahre nach der Verabschiedung seiner Stellungnahme seine Forderung nach einem umfassenden europäischen Ansatz, der sämtlichen Bedürfnissen von Menschen mit seltenen Krankheiten Rechnung trägt, erneuern muss, und fordert europäische Lösungen zur Abmilderung der Auswirkungen seltener Krankheiten auf Alltag, Familien- und Berufsleben.

    1.2.

    Der EWSA bekräftigt nachdrücklich seine Unterstützung von und Solidarität mit Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten, ihren Familien und insgesamt allen von seltenen Krankheiten betroffenen Menschen. Die Europäische Union (EU) könnte für das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle in der gesamten EU eintreten und zeigen, dass Menschen mit einer seltenen Krankheit nicht allein dastehen. Für eine schnellere Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten müssen Grundlagenforschung und ein europäischer Raum für Gesundheitsdaten auf der Grundlage des FAIR-Prinzips (Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit) unterstützt werden. Der EWSA empfiehlt, das Fachwissen von Orphanet anzuerkennen und umfassend zu fördern, um das europäische Ökosystem für Gesundheitsdaten zum Nutzen von Patienten mit seltenen Krankheiten auszubauen. Die Bereitstellung der Orphanet-Website in allen EU-Sprachen wäre für Patienten mit seltenen Krankheiten und Angehörige der Gesundheitsberufe sehr hilfreich.

    1.3.

    Der EWSA unterstreicht trotz der Verschiedenartigkeit bzw. Vielzahl von Krankheiten, der verstreut lebenden Patienten und des räumlich weit verteilten Fachwissens noch einmal die Ergebnisse in Bezug auf die Prävalenz seltener Krankheiten in der EU, die Ähnlichkeiten der entsprechenden Patientenpfade und die Herausforderungen im Bereich des Sozialschutzes.

    1.4.

    Der EWSA begrüßt den in der europäischen Säule sozialer Rechte vorgeschlagenen Grundsatz des Rechts auf Zugang zur Gesundheitsversorgung, die einschlägige Resolution der Vereinten Nationen sowie die Aufmerksamkeit, die seltenen Krankheiten auf der Konferenz zur Zukunft Europas und seitens des französischen EU-Ratsvorsitzes 2022 gewidmet wurde, um zu verhindern, dass die Situation betroffener Patienten durch gesundheitliche Ungleichheit noch zusätzlich verschärft wird. Der EWSA betont, wie wichtig eine ehrgeizige europäische Strategie für Pflege und Betreuung für die Pflege- und Betreuungspersonen von Patienten mit seltenen Krankheiten ist.

    1.5.

    Der EWSA empfiehlt, die politische Dynamik zu nutzen und auf den Empfehlungen von Institutionen und Zivilgesellschaft aufzubauen, um einen umfassenden europäischen Aktionsplan zu seltenen Krankheiten mit bis 2030 zu erreichenden SMART-Zielen aufzustellen, damit gewährleistet ist, dass in der EU alle Patienten mit seltenen Krankheiten die gleichen Chancen auf Diagnose, Behandlung und eine ganzheitliche Perspektive im Bereich der integrierten Pflege haben. Patienten sollten innerhalb eines Jahres eine Diagnose ihrer seltenen Krankheit erhalten können.

    1.6.

    Der EWSA schlägt vor, den Auftrag der Europäischen Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) auszuweiten oder sie als Vorbild für die Errichtung einer neuen europäischen Behörde für nicht übertragbare Krankheiten zu nutzen, die die Koordinierung und Solidarität in Bezug auf seltene Krankheiten fördert. So könnte die Umsetzung eines europäischen Aktionsplans zu seltenen Krankheiten koordiniert und ein europäischer Ansatz für nicht übertragbare seltene Krankheiten gewährleistet werden. Durch Synergien mit Orphanet, das durch die EU strukturell unterstützt würde, damit es seine Arbeit in allen Amtssprachen der EU veröffentlichen kann, hätten sowohl Patienten als auch Angehörige der Gesundheitsberufe Zugang zu den benötigten Informationen.

    1.7.

    Der EWSA verleiht der Zivilgesellschaft der Mitgliedstaaten eine Stimme, um den politischen Dialog mit den Bürgern zu stärken, und unterstützt die europäischen Institutionen durch strukturelle und dauerhafte Zusammenarbeit, damit umfassend unterstützte politische Maßnahmen entwickelt werden. Der EWSA empfiehlt dem nächsten Dreiervorsitz 2023-2024 (Spanien, Belgien und Ungarn), die Politik im Bereich seltener Krankheiten auf der Tagesordnung zu belassen. Denn es gilt, die Bewertung der Europäischen Referenznetzwerke (ERN) im Jahr 2022 ebenso zu berücksichtigen wie die Zusage der Europäischen Kommission, ihre Strategie für seltene Krankheiten bis Anfang 2023 dahingehend zu überarbeiten, dass seltenen Krankheiten in künftigen Amtszeiten der Kommission im Rahmen der öffentlichen Gesundheitspolitik Rechnung getragen wird. Die Einbeziehung der Interessenträger und Sozialpartner ist für die Entwicklung einer ehrgeizigen Strategie unabdingbar.

    1.8.

    Der EWSA fordert in Einklang mit Artikel 4 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) Initiativen wie eine Entschließung zur Stärkung der Handlungskompetenz von Patienten mit seltenen Krankheiten und zur Förderung ihrer Einbindung in die Politik im Bereich seltener Krankheiten und die Formulierung einschlägiger Empfehlungen. Patientenverbände können mit ihrem Erfahrungsschatz als Vertreter und Sprachrohr von Patienten eine entscheidende Rolle spielen; ihre Auftritte in den Medien und ihre Beteiligung an der Formulierung politischer Empfehlungen müssen gefördert und unterstützt werden (2).

    1.9.

    In Bezug auf seltene Krankheiten gilt es nach Ansicht des EWSA, anzuerkennen, wie wichtig der Erhalt einer Diagnose beim peri- oder neonatalen Screening oder so bald wie möglich nach dem Auftreten von Gesundheits- oder Entwicklungsproblemen ist. Das Gleiche gilt für die Vorteile einer multidisziplinären Gesundheitsversorgung und eine ganzheitliche Perspektive in Bezug auf die Patientenbedürfnisse und -pfade. Denn die Patienten könnten von einer integrierten medizinischen und sozialen Versorgung und einer zentralisierten Koordinierung von Betreuung und Pflege und vor allem von ihrer optimierten finanziellen Zugänglichkeit profitieren.

    1.10.

    Der EWSA weist darauf hin, dass hochwertige Gesundheitsdienstleistungen niemals das Privileg derjenigen sein dürfen, die, aus welchem Grund auch immer, einen besseren Zugang zum entsprechenden nationalen Gesundheitsdienst haben, die höchsten Versicherungsprämien und Selbstkosten zahlen oder die rentabelsten Sammelkampagnen organisieren können. Die Bedeutung solidarischer Krankenversicherungssysteme zum Schutz von Patienten mit seltenen Krankheiten darf nicht unterschätzt werden. Der EWSA würde eine Debatte über die Vorteile und Herausforderungen begrüßen, die sich für die europäischen solidarischen Krankenkassen ergeben, wenn sie für innovative Behandlungen dieser Patienten aufkommen.

    1.11.

    Der EWSA erkennt an, wie wichtig es ist, dass Patienten mit seltenen Krankheiten in Europa Zugang zu grenzübergreifenden Behandlungen für Diagnose und Versorgung erhalten. Die Möglichkeit, sowohl zu Behandlungszwecken zu reisen als auch übermäßiges Reisen dank Telemedizin zu vermeiden, kann den Zugang zur Versorgung solcher Patienten, insbesondere derjenigen mit sehr seltenen Krankheiten, verbessern. Der EWSA fordert eine Optimierung der Funktionsweise der ERN und ihre Integration in das gesamte EU-Gesundheitssystem und das jeweilige Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten. Er schlägt vor, zu prüfen, inwieweit in den ERN ein Betreuungs- und Pflegeübereinkommen ausgearbeitet werden kann.

    1.12.

    Angesichts der wirtschaftlichen Ungleichheiten in den Mitgliedstaaten empfiehlt und fordert der EWSA, über die Möglichkeit eines EU-Sonderfinanzfonds nachzudenken, zu dem die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit beitragen und von dem sie entsprechend profitieren. Ziel ist es, dass alle europäischen Patienten mit seltenen Krankheiten, insbesondere solche mit ungedecktem medizinischem Bedarf, Zugang zu Behandlungen haben und in der EU echte Solidarität gegeben ist. Der EWSA unterstützt Modelle für gemeinsame Beschaffung sowie Beiträge wie den europäischen Rechner für faire Arzneimittelpreise, um den Zugang zu medikamentösen Behandlungen für Mitgliedstaaten und Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern, und fordert, dass dies bei der Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften über Arzneimittel für seltene Erkrankungen und für Kinder Berücksichtigung findet.

    1.13.

    Der EWSA empfiehlt, die Möglichkeit eines Solidaritätsfonds für seltene Krankheiten zu prüfen, insbesondere solcher, die nicht von den ERN abgedeckt sind. Ein solcher Fonds kann eine sinnvolle Ergänzung darstellen, wenn die gesetzliche Krankenversicherung Kosten für die Behandlung komplexer oder seltener Krankheiten oder die grenzüberschreitende Versorgung nicht trägt. Der EWSA hält eine Vergemeinschaftung auf europäischer Ebene hier für unabdingbar. Ein europäischer Solidaritätsfonds für Patienten mit seltenen Krankheiten sollte

    darauf abzielen, zu verhindern, dass Patienten mit seltenen Krankheiten unzumutbare Kosten für medizinisch notwendige und berechtigte, in der EU verfügbare Gesundheitsversorgung übernehmen müssen und aufgrund der Seltenheit ihrer Krankheit Opfer zusätzlicher gesundheitlicher Ungleichheit werden;

    Ausdruck europäischer Solidarität sein, mit dem Ziel, den Zugang zur Gesundheitsversorgung in der gesamten EU für alle Patienten mit einer seltenen Krankheit zu verbessern, die Patientenrechte auf grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung besser durchzusetzen sowie die Nutzung der ERN zu optimieren und zu erleichtern;

    durch Deckung der mit einer innerhalb der EU grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung verbundenen, unvermeidbaren Kosten die nationalen Sozialversicherungs- und Krankenversicherungsvorschriften ergänzen und die europäische Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit erleichtern. Diese Zusammenarbeit würde von einem strukturellen und unterstützenden grenzüberschreitenden Ansatz profitieren.

    2.   Allgemeine Bemerkungen zu seltenen Krankheiten

    2.1.

    Seltene Krankheiten sind zwar selten, dennoch ist die Zahl der Patientinnen und Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden, hoch. Ob eine Krankheit als selten eingestuft wird, hängt von ihrer Prävalenz ab. In der EU wird eine seltene Krankheit als eine häufig chronische, manchmal mit Behinderung einhergehende oder lebensbedrohliche Erkrankung definiert, die nicht mehr als einen von 2 000 Menschen betrifft (3). Im Jahr 2019 waren auf Orphanet, dem Internetportal für seltene Krankheiten und Arzneimittel für seltene Krankheiten, 6 172 seltene Krankheiten registriert (4). 71,9 % dieser seltenen Krankheiten haben eine genetische Ursache, und 69,9 % treten in der frühen Kindheit auf. Schätzungsweise 3,5 % bis 5,9 % der Bevölkerung leiden an einer seltenen Krankheit, was etwa 36 Mio. Patienten in der EU entspricht.

    2.2.

    Da viele seltene Krankheiten komplex und chronisch sind, beschränken sich ihre Auswirkungen oft nicht auf das Leben des Patienten, sondern betreffen auch noch viele andere Menschen, wie z. B. die Familie, aber auch die Gesundheits- und Sozialsysteme. Familien laufen Gefahr, in die Isolation abzugleiten und besonders hilfsbedürftig zu werden, und angesichts der geschlechtsspezifischen Dimension der informellen Pflege (5) können seltene Krankheiten das Leben insbesondere von Müttern und Frauen erheblich beeinträchtigen. Dem Zugang zu Sozialschutz für Pflege- und Betreuungspersonen sollte deshalb besondere Aufmerksamkeit gelten.

    2.3.

    Obwohl bereits mehr als 6 172 Krankheiten identifiziert wurden, die eine Diagnose bei einem Patienten ermöglichen, ist es nicht auszuschließen, dass für andere Erkrankungen noch Definitionen, Beschreibungen oder Diagnosetests fehlen. Dabei handelt es sich um sogenannte Syndrome ohne Namen (syndromes without a name, SWAN). Das Gesundheitsgefälle ist bei Patienten ohne Diagnose noch ausgeprägter. Ihr ungedeckter Bedarf und die Ungleichheit sind noch größer, da eine Diagnose erforderlich ist, um eine angemessene medizinische Versorgung oder zusätzliche Leistungen der Sozial- und Krankenversicherung zu erhalten.

    2.4.

    Die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung erfordern vorausschauende und zielgerichtete Modelle auf lokaler Ebene, damit die am stärksten gefährdeten Gruppen, z. B. Menschen mit körperlichen, psychosozialen und sensorischen Beeinträchtigungen, eine Diagnose sowie Betreuung und Pflege erhalten können. In früheren Stellungnahmen des EWSA wurde die Gesundheitsversorgung von Migranten und EU-Bürgern mit Migrationshintergrund thematisiert; die darin enthaltenen Fachkenntnisse und Empfehlungen gilt es, als Teil eines gemeinsamen Konzepts für seltene Krankheiten zu nutzen (6).

    2.5.

    Nach dem Auftreten von Gesundheits- oder Entwicklungsproblemen vergehen bis zur Diagnose einer seltenen Krankheit, sofern sie nicht durch perinatales Screening identifiziert wird, durchschnittlich etwa viereinhalb Jahre. Untersuchungen haben ergeben, dass die Zeit diagnostischer Unsicherheit — oft einschließlich Fehldiagnose und/oder schädlicher Fehlbehandlung — fünf bis sieben Jahre beträgt (7). Der Weg zu einer schlüssigen und korrekten Diagnose ist häufig eine Odyssee von einem Angehörigen der Gesundheitsberufe zum nächsten: Untersuchungen haben gezeigt, dass 22 % der Patienten, bei denen eine seltene Krankheit diagnostiziert wurde, mehr als fünf Angehörige der Gesundheitsberufe und 7 % sogar mehr als zehn konsultiert hatten (8).

    2.6.

    Um Angehörige der Gesundheitsberufe zu sensibilisieren, damit sie mögliche seltene Krankheiten besser erkennen können, und sie in die Lage zu versetzen, Patienten zu überweisen und den Diagnoseprozess zu beschleunigen, sind Informationsaustausch, angemessene und kontinuierliche hochwertige Schulung der Arbeitskräfte sowie weitsichtige Personalplanung unter Einbeziehung der Sozialpartner erforderlich.

    2.7.

    Festlegung von Prioritäten und strukturierte Investitionen in die medizinische Grundlagenforschung zu den Ursachen seltener Krankheiten, einschließlich genetischer Ursachen, müssen zu einer effizienteren Behandlung und bestenfalls sogar zu Heilbehandlungen für Patienten mit seltenen Krankheiten führen. Die entsprechende Forschung sollte mit europäischen Finanzierungsinstrumenten wie dem Programm EU4Health 2021-2027 — eine Vision für eine gesündere EU und Verordnungen wie dem Vorschlag für eine Verordnung über den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten unterstützt werden.

    2.8.

    Die Kenntnisse und das Fachwissen, die für die Diagnose und die Bereitstellung fachkundiger therapeutischer Versorgung bei einigen seltenen Krankheiten erforderlich sind, sind mitunter in einigen Mitgliedstaaten gar nicht verfügbar bzw. geografisch über die gesamte EU verteilt. Behandlungen müssen besser verfügbar, zugänglicher und erschwinglicher sein. Dies legen Patientenberichte nahe, denen zufolge Behandlungen in bestimmten Regionen nicht verfügbar sind (22 %), es für bestimmte Behandlungen Wartelisten gibt (14 %), manche Behandlungen unbezahlbar sind (12 %) und keine finanzielle Unterstützung zur Verfügung steht, um Reisen für die Behandlung in anderen Ländern zu erleichtern (12 %) (9).

    2.9.

    Für eine hochwertige Gesundheitsversorgung müssen Gesundheitsdienstleistungen zeitnah, fair, integriert und effizient erfolgen (10). Perinatale und neonatale Vorsorge sind für die Früherkennung unabdingbar. Die Empfehlung Recommendation on Cross Border Genetic Testing Of Rare Diseases in the European Union der Expertengruppe für seltene Krankheiten der Kommission und die Arbeit von Eurordis zum Screening in der gesamten EU bilden die Grundlage für eine europaweite Empfehlung.

    2.10.

    Der Weg zur Diagnose, der Erhalt einer Diagnose und das Leben mit einer seltenen Krankheit kann für Patienten und/oder ihre Familie psychisch belastend sein. Die Unsichtbarkeit einer Krankheit, die durch sie hervorgerufene körperliche Belastung und mangelndes Wissen oder mangelndes Verständnis für die Erkrankung seitens Dritter können zu psychischer und sozialer Vulnerabilität führen. Das tägliche Leben kann durch eine unzureichende Koordinierung bei der Behandlung, aber auch durch praktische, administrative, bildungsbezogene, berufliche oder finanzielle Herausforderungen erschwert werden (11). Ein ganzheitlicher Ansatz für die Behandlung deckt das komplette Spektrum der gesundheitlichen (Prävention und kontinuierliche, kurative, rehabilitative und palliative Gesundheitsversorgung), sozialen und alltäglichen Bedürfnisse ab und erfordert eine hochwertige, integrierte multidisziplinäre medizinische und soziale Betreuung.

    2.11.

    Der Tag der seltenen Krankheiten fördert das Bewusstsein und die Anerkennung in der Gesellschaft insgesamt und verbessert das Verständnis und die soziale Inklusion von Patienten und Familien. Um Patienten mit seltenen Krankheiten aufzuklären und ihr Wohlergehen sowie das Wohlergehen ihrer Familien zu gewährleisten, ist ein Ökosystem aus Angehörigen der Gesundheitsberufe, Krankenkassen auf Gegenseitigkeit, (digitalen) Kontaktgruppen und Patientenverbänden erforderlich.

    3.   Allgemeine Bemerkungen zur europäischen Politik im Bereich seltener Krankheiten

    3.1.

    Die EU hat seltene Krankheiten vor mehr als zwanzig Jahren zu einer Priorität im Bereich der öffentlichen Gesundheit erklärt und Maßnahmen mit folgenden Ergebnissen ergriffen: mehr Forschung und Entwicklung, Annahme nationaler Aktionspläne für seltene Krankheiten durch die Mitgliedstaaten, Koordinierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Europäischen Referenznetzwerken (ERN) und Rechte der Patientinnen und Patienten auf Zugang zu grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung (12). Die Kommission nahm die Empfehlung 3 „Verbesserung der Unterstützung, um Patienten mit seltenen Krankheiten den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erleichtern“ an und kündigte an, dass sie ihre Strategie zu seltenen Krankheiten soweit erforderlich bis Anfang 2023 revidieren wird (13). Das Europäische Parlament verabschiedete seine Entschließung zur Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie, in der ein EU-Aktionsplan für seltene Krankheiten gefordert wird (14). Außerdem hat die EU in der europäischen Säule sozialer Rechte die „rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung“ verankert (15).

    3.2.

    Mit der angekündigten Mitteilung über eine europäische Pflege- und Betreuungsstrategie sollen die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und die angemessene Anerkennung von Pflege- und Betreuungspersonen unterstützt werden. Familien von Patienten mit seltenen Krankheiten würden von einer Strategie profitieren, die Pflege- und Betreuungspersonen und ihre Rechte in der gesamten EU besser anerkennt, mehr Flexibilität bei der Ausübung ihrer Rechte in grenzübergreifendem Kontext bietet und als zentralen Punkt die psychische Gesundheit (sowohl professioneller Pflege- und Betreuungskräfte als auch nichtprofessioneller Pflege- und Betreuungspersonen) beinhaltet (16).

    3.3.

    Die EU-Mitgliedstaaten haben die Resolution der Vereinten Nationen von 2021 zur Bewältigung der Herausforderungen für Menschen mit einer seltenen Krankheit und ihre Familien (17) mitgetragen, in der unter anderem gefordert wird, die Gesundheitssysteme zu stärken, um Menschen mit einer seltenen Krankheit in die Lage zu versetzen, ihren Bedürfnissen im Bereich der körperlichen und geistigen Gesundheit gerecht zu werden, ihre Menschenrechte, einschließlich ihres Rechts auf das höchstmögliche Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit, wahrzunehmen, die Gerechtigkeit und Gleichheit in gesundheitlichen Belangen zu verbessern, Diskriminierung und Stigmatisierung zu beenden, Versorgungslücken zu schließen und eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen.

    3.4.

    Der Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (Gesundheit) befasste sich mit der europäischen Reaktion auf seltene Krankheiten und erörterte die Frage, inwieweit im Bereich der seltenen Krankheiten die Zusammenarbeit und Abstimmung sowohl der Mitgliedstaaten untereinander als auch auf Unionsebene verstärkt werden sollte. Der Ratsvorsitz der EU ist der Auffassung, dass ein verstärktes Handeln der EU in diesem Bereich die Vorteile der Europäischen Gesundheitsunion für die Unionsbürgerinnen und -bürgern greifbar machen würde. Der europäische Raum für Gesundheitsdaten sollte eine Rolle bei der Bekämpfung seltener Krankheiten spielen und den Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdaten in einem gesicherten Umfeld gewährleisten und so eines der Instrumente werden, durch das das Handeln der EU wirksamer werden könnte. Er muss dazu beitragen, neue sicherere und personalisierte Therapien schneller zugänglich zu machen (18).

    3.5.

    Der Bericht über die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft der EU enthält einen Vorschlag für gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle, mit dem Ziel, ein „Recht auf Gesundheit“ zu schaffen, das allen Europäern den gleichberechtigten und universellen Zugang zu einer erschwinglichen, präventiven, kurativen und hochwertigen Gesundheitsversorgung garantiert. In der Plenarversammlung der Konferenz wurden die Belange der von seltenen Krankheiten Betroffenen ausdrücklich anerkannt und thematisiert und folgende Aspekte befürwortet: schnellere und stärkere Entscheidungsfindung bei wichtigen Themen und Verbesserung der Effizienz der europäischen Governance im Hinblick auf die Entwicklung der Europäischen Gesundheitsunion; Notwendigkeit, für jeden einen Zugang zu existierenden Behandlungen, sobald sie in der EU verfügbar sind, sicherzustellen, wozu die grenzüberschreitende Zusammenarbeit erleichtert werden muss, insbesondere bei seltenen Krankheiten; Stärkung des Gesundheitssystems zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit und Qualität unserer Gesundheitssysteme, insbesondere durch die Weiterentwicklung, Koordinierung und Finanzierung der ERN, da sie die Grundlage für die Entwicklung von Netzen der medizinischen Versorgung für hochspezialisierte und komplexe Behandlungen bilden (19).

    3.6.

    „Europas Plan gegen den Krebs“ aus dem Jahr 2021 bietet ein neues EU-Konzept für Krebsprävention, -behandlung und -versorgung. Die Liste der bis 2030 zu ergreifenden Maßnahmen und die Einbeziehung der Interessenträger stellen einen Ansatz für die europäische Gesundheitspolitik dar, mit dem gesundheitliche Ungleichheiten in der EU bekämpft werden sollen (20). Der Plan geht ebenfalls von den ERN aus, die für den Austausch von Fachwissen über die Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten eine Vorreiterrolle spielen.

    4.   Besondere Bemerkungen zu seltenen Krankheiten und zur Politik im Bereich seltener Krankheiten

    4.1.

    Bei der Bewertung der Folgemaßnahmen zu seiner Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten“ (21) stellt der EWSA fest, dass die Empfehlungen derzeit noch — mit unterschiedlichem Erfolg — umgesetzt werden. Das betrifft beispielsweise die Entwicklung von ERN ab 2017, die Einführung eines Kommunikations- und Berichterstattungssystems, Handbücher oder Leitlinien zur Erleichterung des Dialogs zwischen den verschiedenen Berufskulturen in der EU und die Forderung, dass Patienten innerhalb des Europäischen Raums für Gesundheitsdaten auf ihre Daten zugreifen können müssen. Bei der EU-Politik im Bereich seltener Krankheiten ist dringendes Handeln nötig und viel aufzuholen.

    4.2.

    Die Europäischen Referenznetzwerke (ERN) sind eine Leitinitiative im Rahmen der konkreten europäischen Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitssystemen und erleichtern klinische Studien und das Zusammentragen von Fachwissen für die Diagnose und Behandlung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten in Europa. Das Potenzial dieser ERN wurde bisher noch nicht vollständig ausgelotet, geschweige denn ausgeschöpft. 2022 soll eine Evaluierung gestartet werden (22). Für die 24 im Jahr 2017 gegründeten ERN konnten 1 466 Mitglieder in sämtlichen europäischen Mitgliedstaaten gewonnen werden, darunter über 900 medizinische Abteilungen in mehr als 313 Krankenhäusern. 1,7 Mio. Patienten befinden sich gegenwärtig bei Mitgliedern eines ERN in Behandlung. Über das System für klinisches Patientenmanagement werden dagegen nur 2 100 Fälle komplexer und sehr seltener Krankheiten bearbeitet.

    4.3.

    Zur Optimierung des Potenzials der ERN müssen folgende Probleme angegangen werden: fehlende Kostenerstattung für Gesundheitsdienstleister, die an den ERN teilnehmen, keine spezifische Kostenerstattung für virtuelle Konsultationen über das System für klinisches Patientenmanagement, Probleme bei der verwaltungstechnischen bzw. technischen Interoperabilität. Ein weiterer Ansatzpunkt für eine größere Bekanntheit und Zugänglichkeit ist die Integration der ERN in die nationalen Gesundheitssysteme über die angeschlossenen Referenzzentren für seltene Krankheiten.

    4.4.

    Die Zentralisierung der Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer ausreichenden Zahl von Fachzentren würde der Qualität der Versorgung zugutekommen. Dazu müssen Kriterien für die Definition eines Fachzentrums festgelegt werden. Fachzentren benötigen spezifische und angemessene Finanzmittel. Da die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner die Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Gesundheitsausgaben aufbringen, sollten sie bei der Verteilung dieser Mittel eine strategische Rolle spielen. Lokale, regionale und nationale Versorgungsnetze müssen auf die Existenz von Fachzentren aufmerksam gemacht und angehalten werden, sich an den ERN zu beteiligen, um den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erleichtern und die Qualität der Versorgung zu verbessern.

    4.5.

    Mit EU-Mitteln unterstützte grenzüberschreitende Multi-Stakeholder-Partnerschaften und -Konsortien, die die Zivilgesellschaft und Experten für seltene Krankheiten und Gesundheits- bzw. Sozialpolitik, Hochschulen, medizinische Partner, Wissenszentren, Patientenverbände, gemeinnützige Krankenkassen auf Gegenseitigkeit und fachkundige Patienten zusammenbringen, haben sich als bereichernde Ökosysteme für die europäische Forschung und Zusammenarbeit erwiesen. Sie haben zur Formulierung von auf die Patienten ausgerichteten politischen Empfehlungen, zu Pilotprojekten und Studien zur Verbesserung des Zugangs europäischer Patienten mit seltenen Krankheiten zu einer hochwertigen ganzheitlichen und integrierten Gesundheits- und Sozialfürsorge beigetragen (23). Jetzt gilt es, diese Empfehlungen und bewährten Verfahren unter Einbeziehung nationaler, grenzüberschreitender und europäischer Initiativen in einer kohärenten Politik, bei der niemand mit einer seltenen Krankheit zurückgelassen wird, konkret umzusetzen.

    4.6.

    In der partizipativen Studie Rare 2030 über die künftige Politik im Bereich seltener Krankheiten wurden acht wichtige Empfehlungen zu Behandlung, Betreuung und Pflege, Forschung, Daten sowie zur europäischen und nationalen Infrastruktur mit einem Fahrplan und SMART-Zielen formuliert, die für das nächste Jahrzehnt in der Politik im Bereich seltener Krankheiten tonangebend sein werden: 1) langfristige, integrierte europäische und nationale Pläne und Strategien; 2) eine frühzeitigere, schnellere und genauere Diagnose; 3) Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung; 4) integrierte und personenzentrierte Betreuung und Pflege; 5) Partnerschaften mit Patienten; 6) innovative und bedarfsorientierte Forschung und Entwicklung; 7) Optimierung der Daten zum Nutzen der Patienten und der Gesellschaft; 8) verfügbare, zugängliche und erschwingliche Behandlungen (24).

    4.7.

    Die Anerkennung des Fachwissens von Patienten mit seltenen Krankheiten, Familienangehörigen und Angehörigen der Gesundheitsberufe stand im Mittelpunkt des EMRaDi-Projekts, bei dem unter anderem Angebot und Nachfrage im Bereich seltener Krankheiten in der Euregio Maas-Rhein untersucht wurden. Zudem wurden auf der Grundlage von 104 eingehenden Befragungen zu acht seltenen Krankheiten Alltag und Patientenpfade analysiert (25). Diese Befragungen bestätigten Annahmen in Bezug auf diagnostische Schwierigkeiten, eine erhöhte Belastung bei der Koordinierung der Versorgung (mit Patienten, die auf ihrem Patientenpfad zwischen sechs und 25 Angehörige von Gesundheitsberufen aufsuchen), die Notwendigkeit und Bevorzugung einer multidisziplinären Versorgung in spezialisierten Zentren und — weiter gefasst — das Erfordernis einer umfassenderen ganzheitlichen Perspektive für das komplette Spektrum an Informationsbedarf, psychologischer Unterstützung, sozialer Inklusion und Entwicklungschancen, praktischen und administrativen Belangen, aber auch den Bedarf an grenzübergreifender medizinischer Versorgung. Im Rahmen des Projekts wurden Empfehlungen zur ganzheitlichen Betreuung und Pflege, Telemedizin und europäischen Solidarität ausgesprochen (26).

    4.8.

    Die COVID-19-Pandemie hat die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, den Einsatz neuer Technologien und die Entwicklung der Telemedizin beschleunigt. Die Regelung, der Kapazitätsaufbau und die Kostenerstattung für Telemedizin, einschließlich Telekonsultation, Teleexpertise, Telemonitoring und mobiler Gesundheitsdienste muss in Absprache mit den Sozialpartnern und Interessenträgern aus dem medizinischen Bereich erfolgen und vor allem die Patientensicherheit sowie die Qualität und Kontinuität der Versorgung und Behandlung gewährleisten. Die optimale Nutzung der Telemedizin verhindert, dass Patienten, auch solche mit seltenen Krankheiten, innerhalb ihres Landes oder europaweit übermäßig reisen müssen.

    4.9.

    Für Fortschritte in der akademischen Forschung, der Gesundheitsökonomie und der Qualität der Behandlung seltener Krankheiten werden Patientenregister auf der Grundlage des FAIR-Prinzips (Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit) benötigt. Auf der Grundlage von Initiativen wie dem European Registry Data Warehouse, dem Metadatenspeicher für die Europäische Infrastruktur für Register für seltene Erkrankungen (ERDRI.mdr) und dem europäischen Raum für Gesundheitsdaten muss eine Debatte über eine präzise, standardisierte Registrierung und den Zweck von Registern geführt werden.

    4.10.

    Die Kartierung von Angebot und Nachfrage im Bereich seltener Krankheiten erfordert unter größtmöglicher Achtung der Privatsphäre der betroffenen Patienten quantitative Analysen der Prävalenz, der Inanspruchnahme von Betreuungs- und Pflegeleistungen sowie der Kosten dieser Leistungen. Dank einer innovativen Methodik der belgischen Krankenkassen konnte eine erste Analyse der Prävalenz, der Kosten und der Inanspruchnahme von Betreuung und Pflege von Patienten mit seltenen Krankheiten in Relation zu den Durchschnittswerten der angeschlossenen Mitglieder vorgenommen werden (27).

    4.11.

    Die Analyse bestätigt, dass Versorgungsdienstleistungen stärker als durchschnittlich in Anspruch genommen werden (häufigere Krankenhausbesuche und -aufnahmen, häufigere allgemeinmedizinische und fachärztliche Versorgung), was auf den komplexeren Betreuungs- und Pflegebedarf zurückzuführen ist. Die Kosten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung werden im Vergleich zu einem durchschnittlichen Mitglied auf das Zehnfache beziffert mit einem dreimal höheren jährlichen Selbstbehalt. Der größte Teil der Kosten — durchschnittlich die Hälfte der Ausgaben — entfällt auf Arzneimittel. Die tatsächlichen Kosten dürften wesentlich höher sein, da in der Studie weder die sozioökonomische Lage der Familie noch andere nicht erstattete Kosten wie psychologische oder paramedizinische Versorgung, Zusatzversicherung oder reine Selbstkosten berücksichtigt wurden. Die Analyse zeigt, wie wichtig starke, solidarische Krankenversicherungssysteme sind, die Patienten mit seltenen Krankheiten schützen. Wenn Patienten mit seltenen Krankheiten aus finanziellen Gründen Betreuung und Pflege verweigern oder nicht in Anspruch nehmen, wirkt sich dies auf ihre Gesundheit und ihre spätere Lebensqualität aus und birgt das Risiko langfristig höherer Kosten.

    4.12.

    Die Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften über Arzneimittel für seltene Erkrankungen und für Kinder erfordert einen ehrgeizigen Ansatz, um sicherzustellen, dass Arzneimittel und Behandlungen für seltene Erkrankungen für die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten und für die Patienten erschwinglich sind. Die Erschwinglichkeit ist derzeit für viele Patienten mit seltenen Krankheiten ein Hindernis. Durch unterschiedliche Formen europäischer Kooperation und Modelle für den gemeinsamen Kauf von Arzneimitteln durch verschiedene Länder — wie Beneluxa (28) oder den gemeinsamen Kauf von Impfstoffen während der COVID-19-Pandemie — hat sich der Zugang zu Behandlungen mithilfe eines gemeinsamen, transparenten, nachhaltigen und unterstützenden EU-Ansatzes verbessert. Die Debatte über faire Preise und die Transparenz der FuE-Kosten für Arzneimittel wird durch den Vorschlag für einen Rechner für faire Arzneimittelpreise und das Modell für faire Preisgestaltung von AIM zur Berechnung eines fairen Preises für neue oder vorhandene Arzneimittel (ohne Generikawettbewerb) und den Vergleich mit dem tatsächlich gezahlten oder in Verhandlung befindlichen Preis noch befeuert (29).

    4.13.

    Wenn keine reguläre Kostenerstattung möglich ist, gibt es in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Bestimmungen für den Zugang von Patienten mit seltenen Krankheiten zu Arzneimitteln für seltene Erkrankungen, darunter Programme für Härtefälle, Bestimmungen für die Off-Label-Nutzung von Medikamenten und z. B. auch Interventionen von speziellen Solidaritätsfonds (30). Solidaritätsfonds können eine sinnvolle Ergänzung darstellen, wenn die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für die Behandlung komplexer oder seltener Krankheiten oder eine grenzübergreifende Versorgung nicht trägt. Dies ist sicherlich der Fall, wenn es in der EU keine anerkannten Referenzzentren gibt. Trotz der haushaltsrelevanten Auswirkungen der Behandlung seltener Krankheiten gibt es noch keine Überlegungen zu europäischen Übereinkommen über die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten in ERN oder in einem Referenzzentrum in einem anderen Mitgliedstaat.

    4.14.

    Die Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) wurde als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie und als zentrale Säule der Europäischen Gesundheitsunion eingerichtet. Ihr Ziel ist es, Gesundheitskrisen vorzubeugen, sie zu erkennen und rasch darauf zu reagieren. Bedrohungen und potenzielle Gesundheitskrisen sollen antizipiert werden, indem Informationen zusammengetragen und die erforderlichen Reaktionskapazitäten aufgebaut werden. Der Zuständigkeitsbereich der HERA kann über übertragbare Krankheiten hinaus ausgeweitet werden, und ihr Auftrag ermöglicht ihr, auch anderen Gefahren für die öffentliche Gesundheit zu begegnen. Die derzeitige Governance-Struktur der Europäischen Gesundheitsunion umfasst noch keine institutionalisierte Unterstützung für die Vorsorge und die Reaktion auf Herausforderungen im Bereich seltener Krankheiten, mit denen die Mitgliedstaaten konfrontiert sein könnten. Die HERA kann als Modell für eine neue Behörde für nicht übertragbare Krankheiten dienen, die die Koordinierung und Solidarität bei seltenen Krankheiten fördern würde.

    Brüssel, den 26. Oktober 2022

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 91.

    (2)  Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (2006), Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

    (3)  Europäische Kommission (2019) Rare Diseases.

    (4)  Orphanet (2021) Orphanet in Zahlen: 6 172 Krankheiten https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php?lng=DE; Nguengang Wakap S., Lambert D.M., Olry A., Rodwell C., Gueydan C., Lanneau V., Murphy D., Le Cam Y., Rath A. Estimating cumulative point prevalence of rare diseases: analysis of the Orphanet database. Eur J Hum Genet. 2020 Feb; 28(2):165-173. doi:10.1038/s41431-019-0508-0. Epub 2019 Sep 16. PMID: 31527858; PMCID: PMC6974615.

    (5)  Eurocarers (Dezember 2021), The gender dimension of informal care.

    (6)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 123.

    (7)  Eurordis; Rare disease impact report: insights from patients and the medical community 2013 detailing diagnostic uncertainty of low prevalence diseases in the United States and the United Kingdom.

    (8)  König-Baudouin-Stiftung (2014), Zoom: Nieuwe perspectieven op gelijke kansen — Zeldzame ziekten.

    (9)  Kole, A., Hedley V., et al. (2021) Recommendations from the Rare 2030 Foresight Study: The future of rare diseases starts today. Available, accessible and affordable treatments — What do people living with a rare disease think? S. 119.

    (10)  Weltgesundheitsorganisation (2022), Quality of care.

    (11)  Loridan J., Noirhomme C. (2020), Field analysis of existing RD patient pathways in the EMR.

    (12)  Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. L 18 vom 22.1.2000, S. 1); Empfehlung des Rates vom 8. Juni 2009 für eine Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten (ABl. C 151 vom 3.7.2009, S. 7); Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 45).

    (13)  Europäischer Rechnungshof (2019): EU-Maßnahmen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung: Zielsetzung zwar ehrgeizig, doch bessere Verwaltung erforderlich.

    (14)  Europäisches Parlament (10. Juli 2020), Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie — Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juli 2020 zur Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie (2020/2691(RSP)) (ABl. C 371 vom 15.9.2021, S. 102).

    (15)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte (COM(2021) 102 final).

    (16)  International Association of Mutual Benefit Societies (AIM) (2022): AIM's Views on the EU Care Strategy.

    (17)  Vereinte Nationen (5. Januar 2022), A/RES/76/132: Von der Generalversammlung am 16. Dezember 2021 verabschiedete Resolution — Addressing the challenges of persons living with a rare disease and their families.

    (18)  Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (Gesundheit), (29. März 2022), Wichtigste Ergebnisse — Europäische Reaktion auf seltene Krankheiten.

    (19)  Konferenz zur Zukunft Europas, Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.

    (20)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Europas Plan gegen den Krebs (2021).

    (21)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 91.

    (22)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen als Begleitunterlage zum Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, (SWD(2022) 200 final), Europäische Referenznetzwerke, S. 29.

    (23)  INNOVCare (2018), Bridging the gaps between health, social and local services to improve care of people living with rare and complex conditions; EMRaDi (2020), Seltene Erkrankungen machen nicht vor Landesgrenzen halt!; Rare 2030 (2021), Foresight in Rare Disease Policy.

    (24)  Kole, A., Hedley V., et al. (2021) Recommendations from the Rare 2030 Foresight Study: The future of rare diseases starts today.

    (25)  EMRaDi (2020), EMRaDI-Abschlussbericht.

    (26)  EMRaDi-Projekt (2019) Factsheet EMRaDi — Wie können die EU-Maßnahmen im Bereich seltener Erkrankungen (SE) den Patient/inn/en und den Angehörigen näher gebracht werden? Von lokalen und grenzübergreifenden Entwicklungen bis hin zu europäischen Lösungen.

    (27)  Noirhomme C., (Dezember 2020), MC informations 282, Analyse de la consommation et des dépenses de soins des personnes atteintes de maladies rares, S. 20-29.

    (28)  Beneluxa-Initiative zur Arzneimittelpolitik.

    (29)  AIM — European fair price calculator for Medicines; AIM offers a tool to calculate fair and transparent European prices for accessible pharmaceutical innovations.

    (30)  Universität Maastricht (2020), Bericht über die Analyse der rechtlichen, finanziellen und Erstattungsmechanismen seltener Erkrankungen für die Behandlungskosten von Patienten mit seltenen Erkrankungen in der EMR, 3.2 „Arzneimittel für seltene Leiden (Orphan Drugs)“, S. 48-50.


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