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Document 52020IE1950

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Gewährleistung der praktischen Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Wahl zum Europäischen Parlament“ (ergänzende Initiativstellungnahme)

    ABl. C 56 vom 16.2.2021, p. 36–42 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    16.2.2021   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 56/36


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Gewährleistung der praktischen Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Wahl zum Europäischen Parlament“

    (ergänzende Initiativstellungnahme)

    (2021/C 56/04)

    Berichterstatter:

    Krzysztof PATER

    Beschluss des Plenums

    20.2.2020

    Rechtsgrundlage

    Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Ergänzende Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    11.11.2020

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    2.12.2020

    Plenartagung Nr.

    556

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    246/0/0

    1.   Einführung

    1.1.

    In dieser Stellungnahme werden die Ergebnisse der zweiten Phase der Arbeiten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) zusammengefasst, mit denen sichergestellt werden soll, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union mit Behinderungen ihr Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) tatsächlich ausüben können.

    1.2.

    In der ersten Phase, die im März 2019 endete, erstellte der EWSA den Informationsbericht „Die praktische Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Wahl zum Europäischen Parlament“ (1). In diesem Bericht werden die rechtlichen und technischen Hindernisse, die der praktischen Ausübung dieses Rechts in allen EU-Mitgliedstaaten im Wege stehen, ausführlich beschrieben. In dieser Stellungnahme werden nur einige der Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieses Berichts angeführt. Für ein umfassendes Bild der Lage empfiehlt es sich, den vollständigen Bericht zu lesen.

    2.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    2.1.

    In jedem der 27 EU-Mitgliedstaaten gibt es Vorschriften oder organisatorische Regelungen, die einen Teil der Wählerinnen und Wähler mit Behinderungen von der Teilnahme an den Wahlen zum EP ausschließen.

    2.2.

    Ohne größere Gesetzesänderungen wird es mit zunehmender Bevölkerungsalterung zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Menschen kommen, die ihr Wahlrecht aufgrund einer Behinderung nicht wahrnehmen können — dies gilt sowohl für Menschen, die zu Hause leben, als auch für Personen in Langzeitpflegeeinrichtungen. Von dieser faktischen Unmöglichkeit, das Wahlrecht wahrzunehmen, sind auch viele weitere Personen betroffen, etwa vorübergehend hospitalisierte Patientinnen und Patienten, solche die zu Hause behandelt werden bzw. Rehabilitationsmaßnahmen absolvieren sowie Menschen, die sich aufgrund epidemiologischer Risiken in Isolation oder Quarantäne befinden.

    2.3.

    Der EWSA ist der Ansicht, dass dies nicht hinnehmbar ist und im Widerspruch zu den Grundwerten der EU und den Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union (EUV) steht. Es besteht auch ein Widerspruch zu zahlreichen völkerrechtlichen und politischen Vereinbarungen wie dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates.

    2.4.

    Der EWSA fordert das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und die Mitgliedstaaten auf, den Akt zur Einführung von Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments von 1976 (2) dringend zu ändern und grundsätzlich festzustellen, dass diese Wahlen allgemein, unmittelbar und geheim sind, wodurch EU-weit Standards angewandt werden könnten, die Menschen mit Behinderungen gemäß Artikel 29 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Ausübung ihres passiven und aktiven Wahlrechts ermöglichen. Diese Standards müssten mindestens Folgendes umfassen:

    das Verbot eines Wahlrechtsausschlusses bei den Wahlen zum Europäischen Parlament aufgrund einer Behinderung oder des Gesundheitszustands;

    die Verpflichtung, Informationen über die Abstimmungsmodalitäten in einer Form bereitzustellen, die den sich aus der jeweiligen Behinderung ergebenden Bedürfnissen entspricht;

    die Möglichkeit für Menschen, die das Wahllokal aufgrund ihrer Behinderung nicht aufsuchen können, außerhalb des Wahllokals eigenständig abzustimmen;

    das Angebot von Lösungen, die es Menschen mit Behinderungen mit erheblichem Unterstützungsbedarf — Taubblinde, Blinde, Sehbehinderte oder Menschen mit verminderter manueller Geschicklichkeit —, ermöglichen würden, eigenständig und ohne Hilfsperson zu wählen;

    die Möglichkeit, zu einem anderen Wahllokal zu wechseln, das besser an die Bedürfnisse von Wählern mit Behinderungen angepasst ist;

    das Recht einer Person, eine Hilfsperson zur Unterstützung bei der Ausübung des Wahlrechts frei zu wählen.

    2.5.

    Bei der Umsetzung dieser Vorschriften haben die Mitgliedstaaten weiterhin weiten Ermessensspielraum, dennoch wird gewährleistet, dass ab 2024 alle Unionsbürgerinnen und -bürger unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Wohnsitzland faktisch das Recht haben, ihre EP-Abgeordneten zu wählen.

    3.   Aktueller Stand

    3.1.   Hindernisse für Menschen mit Behinderungen bei der Ausübung ihres Wahlrechts

    3.1.1.

    Die Politik in ganz Europa ist sich der Tatsache bewusst, dass viele Menschen mit Behinderungen ihr Wahlrecht nicht ausüben können, da Vertreter von Organisationen, die sich mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen und den Menschenrechten befassen, sowie einzelne Menschen mit Behinderungen und ihre Familien schon seit vielen Jahren ein wirkliches und uneingeschränktes Wahlrecht fordern. Auch der vormalige Präsident des Europäischen Parlaments Antonio Tajani wies in seinem Schreiben aus dem Jahr 2017 an die Regierungschefinnen und -chefs aller EU-Mitgliedstaaten auf dieses Problem hin und forderte sie auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen ihr Wahlrecht bei den Wahlen 2019 ausüben können. Das erhoffte Ergebnis blieb jedoch aus.

    3.1.2.

    Am 20. März 2019 übermittelte der EWSA seinen Informationsbericht „Die praktische Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen bei der Wahl zum Europäischen Parlament“ an die EU-Organe und die Mitgliedstaaten.

    3.1.2.1.

    In diesem Bericht werden die rechtlichen und technischen Hindernisse, auf die Menschen mit Behinderungen bei der Ausübung ihres Wahlrechts in allen EU-Mitgliedstaaten stoßen, ausführlich beschrieben. Darüber hinaus werden mehr als 200 Beispiele für bewährte Verfahren vorgestellt, insbesondere Lösungen, die Menschen mit Behinderungen die Teilnahme an Wahlen erleichtern.

    3.1.2.2.

    Der Bericht enthält eine Analyse der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf uneingeschränkte Teilhabe am politischen Leben, die sich aus den wichtigsten internationalen Rechtsakten und politischen Handlungen ergeben und zu denen auch das Wahlrecht zählt.

    3.1.2.3.

    Zudem enthält er eine ausführliche Beschreibung der in der EU geltenden Vorschriften, die den Ablauf der Wahlen zum Europäischen Parlament regeln, sowie Vorschläge für Änderungen an diesen Vorschriften.

    3.1.3.

    Die in dem Bericht beschriebenen Einschränkungen wurden durch Berichte europäischer Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen von den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament, die vom 23. bis 26. Mai 2019 stattfanden, bestätigt.

    3.1.4.

    In den zwei Monaten zwischen der Veröffentlichung des Berichts im März und den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai wurden in Deutschland (3) und Frankreich (4) Gesetzesänderungen beschlossen, die es den Menschen, die zuvor von einem Wahlrechtsausschluss betroffen waren, ermöglichten, ihr Wahlrecht auszuüben. Dennoch sind nach wie vor insgesamt etwa 400 000 Unionsbürgerinnen und -bürger aufgrund einer geistigen Behinderung oder psychischer Probleme in 14 Mitgliedstaaten gesetzlich von der Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgeschlossen — in der Regel betrifft dies Menschen, die ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht selbst besorgen können und für die ein Betreuer bestellt wurde.

    3.1.5.

    Organisatorische Aspekte (technische Einschränkungen), die sich aus Vorschriften oder Praktiken in den Mitgliedstaaten ergeben, führen dazu, dass Millionen von Unionsbürgerinnen und -bürgern nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können. Einige Beispiele:

    In acht Mitgliedstaaten verfügen Menschen, die aufgrund einer Behinderung oder Krankheit kein Wahllokal aufsuchen können, darunter auch Personen in Einrichtungen der 24-Stunden-Pflege, keine andere Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben.

    In 18 Ländern haben Blinde keine Möglichkeit, eigenständig zu wählen.

    In 12 Ländern können Wähler mit Behinderungen ihr bevorzugtes Wahllokal nicht selbst auswählen.

    In neun Ländern müssen Wähler die Nummer des Kandidaten, seinen Namen oder den Namen der Partei, die er unterstützt, auf dem Stimmzettel handschriftlich angeben, was nicht nur für Blinde ein ernstes Hindernis darstellt.

    Nur in einem EU-Land sind die Ausstattung und der Betrieb der Wahllokale so geregelt, dass sie den Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen entsprechen (diese Regelungen gelten für die Hälfte der Wahllokale im Land).

    3.1.6.

    In jedem der 27 EU-Mitgliedstaaten gibt es Vorschriften oder organisatorische Regelungen, die verhindern, dass ein Teil der Wählerinnen und Wähler mit Behinderungen sein Wahlrecht bei den Wahlen zum EP wahrnehmen kann. Würden jedoch die bewährten Verfahren aus allen Ländern umgesetzt, hätten wir ein ideales System, mit dem alle Unionsbürgerinnen und -bürger mit einer Behinderung nicht nur ihr Wahlrecht uneingeschränkt wahrnehmen, sondern auch die für sie am besten passende Wahlmethode aus mehreren Optionen wählen könnten.

    3.1.7.

    Die COVID-19-Pandemie hat die Länder, in denen 2020 Wahlen stattfinden, veranlasst, neue und oft innovative Lösungen umzusetzen, die die Möglichkeit schaffen, an Wahlen teilzunehmen, ohne ins Wahllokal kommen zu müssen, wodurch das Spektrum positiver Lösungen, die nicht nur Menschen mit Behinderungen zugute kommen, in den Mitgliedstaaten erweitert wurde.

    3.1.8.

    Am 26. November 2020 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zur Bestandsaufnahme zu den Wahlen zum EP (5) an, in der es unter Verweis auf den vorgenannten EWSA-Bericht auf schwerwiegende Einschränkungen bei der Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen hingewiesen hat.

    3.2.   Demografische und gesundheitliche Faktoren

    3.2.1.

    Eurostat-Prognosen (6) zufolge wird der Anteil der Personen ab 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung der EU von 19,8 % im Jahr 2018 auf 31,3 % im Jahr 2100 steigen.

    3.2.2.

    Laut Eurostat kann ein Mädchen, das 2015 geboren wurde, von durchschnittlich 63,3 gesunden und gänzlich behinderungsfreien Lebensjahren ausgehen, während ein neugeborener Junge mit 62,6 behinderungsfreien Lebensjahren rechnen kann (7). Ausgehend von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 83,3 Jahren für Mädchen und 77,9 Jahren für Jungen, haben im Jahr 2015 geborene Frauen durchschnittlich 20 Jahre und im selben Jahr geborene Männer etwa 15 Jahre mit einer Behinderung zu leben.

    3.2.3.

    Nach Schätzungen von Eurostat (8) liegt die Quote der Menschen mit Behinderungen in der Altersgruppe der 15- bis 64-Jährigen je nach Definitionsweise zwischen 11 und 14 %. Wird die Definition in Artikel 1 des von der EU und allen Mitgliedstaaten ratifizierten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zugrunde gelegt, übersteigt die Quote 15 %.

    3.2.4.

    Es ist daher davon auszugehen, dass fast 20 % der erwachsenen Unionsbürgerinnen und -bürger, d. h. etwa 80 Mio. Menschen, derzeit unter einer Behinderung leiden, die es schwierig macht, den Alltag zu bewältigen. Diese Quote wird im Durchschnitt alle sechs Jahre um 1 % ansteigen.

    3.2.5.

    Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bezieht sich auf Menschen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben“. Der EWSA unterstreicht jedoch, dass andere Menschen, die offiziell nicht als Menschen mit Behinderungen gelten, weil ihre Beeinträchtigung vorübergehend ist, bei der Ausübung ihres Wahlrechts auf die gleichen Schwierigkeiten stoßen.

    3.2.5.1.

    Dazu zählen beispielsweise kurzzeitig hospitalisierte Patienten sowie Personen, die zu Hause Behandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen absolvieren, und die wegen der vorübergehenden Einschränkungen aufgrund ihres derzeitigen Gesundheitszustands kein Wahllokal aufsuchen können, um zu wählen. Hiervon könnten mehrere hunderttausend Patientinnen und Patienten in der EU betroffen sein.

    3.2.5.2.

    Ferner könnten Personen betroffen sein, die aufgrund eines epidemiologischen Risikos Ausgangsbeschränkungen unterliegen, einschließlich der Isolierung in einer geschlossenen Einrichtung oder der häuslichen Absonderung. Die Erfahrungen mit der COVID-19-Pandemie zeigen, dass viele Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger gleichzeitig betroffen sein könnten.

    4.   Der maßgebliche internationale Rechtsrahmen und politische Rahmen zur Regelung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen

    4.1.

    Nach Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 hat jeder „das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken“.

    4.2.

    In Artikel 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, angenommen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. Dezember 1966, ist Folgendes vorgesehen: „Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen: […] b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen zu wählen.“

    4.3.

    Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das am 3. Mai 2008 in Kraft getreten ist,

    verpflichten sich die Vertragsstaaten, „sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, […] was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden“. Außerdem werden einige Maßnahmen festgelegt, um dies zu ermöglichen, wobei „die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind“ (Artikel 29).

    Es wird betont, dass „Menschen mit Behinderungen das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden“ und „in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen“ (Artikel 12).

    Gefordert wird auch, dass Menschen mit Behinderungen Zugang haben zu „Gebäuden, Straßen, Transportmitteln sowie anderen Einrichtungen in Gebäuden und im Freien“, die der Öffentlichkeit offen stehen (Artikel 9).

    4.4.

    Der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellte 2015 fest, dass Menschen mit Behinderungen, insbesondere nicht rechts- und geschäftsfähige oder in Einrichtungen untergebrachte Personen in der gesamten Europäischen Union, ihr Wahlrecht faktisch nicht ausüben können und die Teilnahme an Wahlen nicht uneingeschränkt barrierefrei ist. Er empfahl, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit alle Menschen mit Behinderungen ihr Wahlrecht ausüben können (9).

    4.5.

    Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt es in Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe b eindeutig: „Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben unter anderem: […] in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament […], wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.“

    4.6.

    In Artikel 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird das aktive Wahlrecht aller Unionsbürger und -bürgerinnen bei Wahlen zum Europäischen Parlament bekräftigt. Ferner sind gemäß Artikel 21 Absatz 1 der Charta „Diskriminierungen, insbesondere wegen […] einer Behinderung […] verboten“. Artikel 26 lautet: „Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer […] Teilnahme am Leben der Gemeinschaft.“

    4.7.

    In der am 16. November 2011 verabschiedeten Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates (10) wird bekräftigt, dass alle Menschen mit Behinderungen das Recht haben, gleichberechtigt mit anderen am politischen und öffentlichen Leben teilzuhaben, und dass barrierefreie Stimmzettel und Einrichtungen zum Zeitpunkt der Wahlen verfügbar sein sollten.

    5.   Zu ergreifende Maßnahmen

    5.1.

    Der EWSA weist darauf hin, dass gemäß Artikel 10 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV — konsolidierte Fassung) „die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“ sind. In Artikel 14 Absatz 3 EUV heißt es: „Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt“. Diese Bestimmungen können nicht herangezogen werden, um beim Recht von Menschen mit Behinderungen auf Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament je nach deren Staatsangehörigkeit oder Wohnsitzmitgliedstaat Unterscheidungen zu treffen.

    5.2.

    Derzeit gibt es in der EU viele Beispiele für ungerechtfertigte Unterscheidungen bei den Rechten von Menschen mit Behinderungen und somit für ihre Diskriminierung. Einige Beispiele:

    Eine Person mit doppelter Staatsangehörigkeit von zwei EU-Mitgliedstaaten kann je nach dem von ihr gewählten Ausweisdokument entweder völlig eigenständig wählen oder aufgrund ihrer geistigen Behinderung von einem Wahlrechtsausschluss betroffen sein.

    Eine bettlägerige Person, die 24-Stunden-Pflege benötigt, kann nicht wählen, weil sie nicht in das Wahllokal gelangen kann und es in ihrem Wohnsitzland keine andere Wahlmöglichkeit gibt. Lebt sie jedoch in einem anderen EU-Land, kann sie per Briefwahl, an einer mobilen Wahlurne oder per elektronischer Stimmabgabe frei wählen.

    In einem Mitgliedstaat können blinde Menschen völlig eigenständig ohne jegliche Unterstützung wählen, in einem anderen Land ist dies hingegen unmöglich — dort können sie nur mit einer Hilfsperson in einem Wahllokal wählen.

    In einem Land, in dem die Stimmabgabe durch handschriftliches Setzen eines einfachen grafischen Zeichens (z. B. „X“) oder das Ziehen der entsprechenden Karte aus einem zuvor erhaltenen Kartenstapel erfolgt, können Parkinson-Patienten eigenständig wählen. In einem Land, in dem eine lesbare Zahl oder ein Vor- und Nachname auf den Stimmzettel geschrieben werden müssen, stehen sie jedoch vor einem unüberwindbaren Hindernis.

    Menschen mit schwerwiegenden Mobilitätsproblemen (die z. B. auf Gehhilfen oder einen Rollstuhl angewiesen sind) können in einigen Ländern ein für sie geeignetes Wahllokal wählen, während andere Länder die freie Wahl des Wahllokals nicht zulassen, was diese Menschen häufig daran hindert, an Wahlen teilzunehmen.

    Der EWSA ist der Ansicht, dass diese Situation nicht hinnehmbar ist und im Widerspruch zu den Grundwerten der EU und den Bestimmungen des EUV steht.

    5.3.

    Die Mitgliedstaaten sind für die Organisation der Wahlen zum Europäischen Parlament und die Festlegung der Wahlvorschriften zuständig. Ihr Ermessensspielraum wird jedoch durch das Unionsrecht eingeschränkt. Der Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments von 1976, der die Rechtsgrundlage für die EP-Wahlen bildet, enthält Vorgaben, die sich bisweilen von den Vorschriften der Mitgliedstaaten für Kommunal- oder Parlamentswahlen unterscheiden (11). Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Änderung dieses Akts durch die Aufnahme der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Standards anzuwenden, die Menschen mit Behinderungen ein faktisches Wahlrecht garantieren, ein geeignetes und schnelles Mittel ist, um bestehende Praktiken, die diese Bürgerinnen und Bürger diskriminieren, aufzuheben.

    5.3.1.

    Der EWSA ist zudem der Auffassung, dass der in Artikel 1 Absatz 3 dieses Akts verankerte Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts durch die Aufnahme einer Bestimmung präzisiert werden muss, wonach Unionsbürgerinnen und -bürger wegen einer Behinderung oder ihres Gesundheitszustands nicht durch nationale Vorschriften an der Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament gehindert werden dürfen.

    5.3.2.

    Der EWSA hält es für wesentlich, die in Artikel 1 Absatz 3 dieses Akts genannten Grundsätze der unmittelbaren und geheimen Wahl zu präzisieren, indem klargestellt wird, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung detaillierter Wahlgrundsätze zur Beachtung folgender Aspekte verpflichtet sind:

    Personen, die aufgrund einer Behinderung nicht in einem Wahllokal wählen können, müssen die Möglichkeit erhalten, ihre Stimme unmittelbar und eigenständig abzugeben.

    Informationen über die Abstimmungsmodalitäten sind in einer Form bereitzustellen, die den sich aus der jeweiligen Behinderung ergebenden Bedürfnissen angepasst ist.

    Sie müssen sich auf ein Wahlverfahren festlegen und die notwendigen technischen Vorkehrungen treffen, damit Menschen mit Behinderungen mit erheblichem Unterstützungsbedarf — z. B. Taubblinde, Blinde, Sehbehinderte oder Menschen mit verminderter manueller Geschicklichkeit — ohne Hilfsperson eigenständig wählen können.

    Allen Menschen mit Behinderungen ist die Möglichkeit zu garantieren, ihr Wahllokal zu wechseln, wenn sie der Ansicht sind, dass ein anderes Wahllokal mit Blick auf ihre Behinderung besser geeignet ist.

    Allen Wählerinnen und Wählern mit Behinderungen ist das Recht zu garantieren, die Person, die sie bei der Wahl unterstützen soll (Hilfsperson), frei zu bestimmen.

    5.4.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass auf die zahlreichen positiven Erfahrungen vieler Länder zurückgegriffen werden könnte und sollte, um die vorgeschlagenen Lösungen unter Berücksichtigung der Besonderheiten und Wahltraditionen der einzelnen Mitgliedstaaten rasch umzusetzen.

    5.4.1.

    In 17 EU-Ländern gibt es bereits Regelungen für die Stimmabgabe in mobilen Wahlurnen für bestimmte Wählergruppen. In acht Ländern ist die Briefwahl möglich. In einem Land ist die elektronische Stimmabgabe möglich. Einige EU-Länder organisieren mobile Wahlkommissionen in 24-Stunden-Betreuungseinrichtungen. Diese Lösungen ermöglichen jenen Personen die Teilnahme an der Wahl, die das ihnen zugewiesene Wahllokal nicht aufsuchen können.

    5.4.2.

    Neun Mitgliedstaaten haben Lösungen eingeführt, damit blinde Menschen eigenständig wählen können. Dabei handelt es sich um spezielle Schablonen für Stimmzettel, auf dem bei der Abstimmung ein einfaches grafisches Symbol anzubringen ist, oder auch um mit Braille-Schrift versehene Umschläge für die Abstimmungskarten, die es den Wählerinnen und Wählern ermöglichen, leicht die richtige Karte zu finden, die dann in die Wahlurne einzuwerfen ist. Spezielle Stimmzettelschablonen sind auch für Sehbehinderte sowie für Menschen mit verminderter manueller Geschicklichkeit sehr hilfreich. Länder, die derzeit verlangen, dass die Wähler die fortlaufende Nummer oder den Familiennamen eines Kandidaten auf dem Stimmzettel angeben, können von diesem Fachwissen profitieren, wenn sie beschließen, das System auf ein besser geeignetes umzustellen.

    5.4.3.

    In 15 Ländern können Wählerinnen und Wähler auf Wunsch das Wahllokal wechseln, sofern dies durch eine Behinderung gerechtfertigt ist. In zehn Ländern ist es zumindest für bestimmte Gruppen von Menschen möglich, im Voraus abzustimmen, meist in Einrichtungen, die gut an die Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen angepasst sind. Da in keinem EU-Land alle Wahllokale für Menschen mit Behinderungen aller Art barrierefrei sind, besteht die einzig gangbare Lösung darin, den Wählerinnen und Wählern das Recht zu geben, das für sie geeignete Wahllokal frei zu wählen.

    5.4.4.

    In vielen Ländern kann jede von Wählerinnen und Wählern mit Behinderungen dafür bezeichnete Person als Hilfsperson bei Wahlen fungieren. In vielen Ländern ist jedoch das Recht der freien Wahl einer solchen Hilfsperson eingeschränkt. Eine solche Einschränkung ist nur dann gerechtfertigt, wenn es sich um eine Person handelt, die gleichzeitig andere Aufgaben wahrnimmt (z. B. ein Mitglied der Wahlkommission oder ein Beobachter). In anderen Fällen sind derartige Einschränkungen nicht gerechtfertigt. Die in einigen Ländern praktizierte Zuweisung einer Hilfsperson ist für Wählerinnen und Wählern mit Behinderungen entwürdigend.

    5.5.

    Die Umsetzung dieser Grundsätze schränkt den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten in keiner Weise ein und würde gewährleisten, dass alle Unionsbürgerinnen und -bürger mit einer Behinderung unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Wohnsitzland ihr Recht ausüben können, ihre Vertreter im EP zu wählen. Der EWSA hält es für unerlässlich, diese Grundsätze zu übernehmen, damit die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament als wirklich allgemein gelten können.

    5.5.1.

    In Artikel 223 Absatz 1 AEUV heißt es: „Das Europäische Parlament erstellt einen Entwurf der erforderlichen Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen. Der Rat erlässt die erforderlichen Bestimmungen einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der Mehrheit seiner Mitglieder erteilt wird. Diese Bestimmungen treten nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft“.

    5.5.2.

    Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel vor Augen, allen Unionsbürgerinnen und -bürgern mit Behinderungen das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 zu garantieren, fordert der EWSA

    das Europäische Parlament auf, dringend einen Entwurf zur Änderung des Wahlakts von 1976 auszuarbeiten,

    den Europäischen Rat auf, im Einklang mit den in dieser Stellungnahme dargelegten Zielen überarbeitete Regeln festzulegen,

    die Mitgliedstaaten auf, die vom Rat festgelegten Regeln unverzüglich zu billigen.

    5.5.2.1.

    Der EWSA ist sich bewusst, dass in den letzten Jahren zahlreiche, häufig kontroverse Vorschläge für eine Änderung des Wahlrechts für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Gespräch waren. Dennoch ist er der Ansicht, dass die Vorschläge für das Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen von dieser allgemeinen Debatte ausgenommen und als eigenständiges Projekt vorgelegt werden sollten, da nur so die Chance auf einen breiten Konsens besteht, mit dem die vorgeschlagenen Änderungen rasch umgesetzt werden können. Die Einführung von Standards für die Ausübung des Wahlrechts durch Menschen mit Behinderungen könnte auch eine gute Grundlage für ähnliche künftige Initiativen zu anderen Themen bieten, die das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 26. November 2020 (12) anspricht.

    Brüssel, den 2. Dezember 2020.

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  https://www.eesc.europa.eu/de/node/68473.

    (2)  ABl. L 278 vom 8.10.1976, ABl. C 340 vom 10.11.1997, ABl. L 283 vom 21.10.2002.

    (3)  https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/04/qs20190415_2bvq002219.html;jsessionid=75CBB962D5032CC85140E4F8E52F6F43.2_cid386.

    (4)  https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000038261631&categorieLien=id.

    (5)  P9_TA(2020)0327.

    (6)  https://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained/index.php/Population_structure_and_ageing#The_share_of_elderly_people_continues_to_increase.

    (7)  https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=People_in_the_EU_-_statistics_on_an_ageing_society&oldid=458862.

    (8)  https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/pdfscache/34409.pdf.

    (9)  Abschließende Bemerkungen zum ersten Bericht an die Europäische Union.

    (10)  Recommendation CM/Rec(2011)14.

    (11)  https://www.eesc.europa.eu/en/node/68473 — Teil 4.

    (12)  Ziffer 23 der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. November 2020 zur Bestandsaufnahme zu den Wahlen zum Europäischen Parlament (2020/2088(INI)), P9_TA(2020)0327.


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