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Document 52019IE2189

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2019/02189

    ABl. C 97 vom 24.3.2020, p. 53–61 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    24.3.2020   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 97/53


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“

    (Initiativstellungnahme)

    (2020/C 97/07)

    Berichterstatterin:

    Karolina DRESZER-SMALEC

    Mitberichterstatter:

    Jukka AHTELA

    Beschluss des Plenums

    20.2.2019

    Rechtsgrundlage

    Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

    Annahme in der Fachgruppe

    27.11.2019

    Verabschiedung im Plenum

    11.12.2019

    Plenartagung Nr.

    548

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    145/3/6

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Populistische Parteien konnten bei der Europawahl 2019 erhebliche Zugewinne verzeichnen. Der Populismus untergräbt die Stabilität politischer Institutionen, führt zu einer größeren Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft und macht das Umfeld für Investitionsentscheidungen der Unternehmen zunehmend riskanter.

    1.2.

    Der Erfolg populistischer Bewegungen und Parteien hat verschiedenste Ursachen. Ganz allgemein gesagt lässt sich dieser Erfolg auf Globalisierungsprozesse zurückführen, die alle Arten von Industrieländern betreffen. Bei genauerer Betrachtung lässt sich der Populismus sowohl mit kulturellen und identitätsbildenden Faktoren als auch mit sozioökonomischen Entwicklungen erklären. Außerdem ist der Populismus besonders ausgeprägt an „abgehängten“ Orten (1), wobei es keine Rolle spielt, ob sie in Randgebieten oder im Zentrum der Europäischen Union liegen.

    1.3.

    Es muss klar unterschieden werden zwischen den Ängsten, den Sorgen und der Wut auf der einen Seite, die Menschen in die Arme populistischer Parteien treiben, und den politischen Akteuren auf der anderen Seite, die bewusst versuchen, aus diesen Ängsten politisches Kapital zu schlagen. Die Unzufriedenheit der Bürger, die oft einen rational begründbaren Hintergrund hat, muss ernst genommen werden. Sie ist zu unterscheiden von der Rhetorik populistischer Anführer, die versuchen, sich diese Unzufriedenheit zunutze zu machen.

    1.4.

    In der Geografie der Unzufriedenheit vermengt sich das kontinentale Nord-Süd-Gefälle und das Ost-West-Gefälle in der EU mit der Kluft zwischen den Zentren und der Peripherie innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Je nach Ort lässt sich die Unzufriedenheit auf unterschiedliche Formen von Not zurückführen. Strategien zur Populismusbekämpfung müssen diesen komplexen Beziehungen Rechnung tragen, wenn sie Erfolg haben sollen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält das Schmieden von Bündnissen zwischen lokalen Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und weiteren Akteuren, z. B. lokalen Führungspersönlichkeiten und sozialen Bewegungen, für ein zentrales Element, wenn es darum geht, gegen die Ursachen des Populismus vorzugehen.

    1.5.

    Je weniger die Menschen am Erfolg der Wachstumspole ihres Landes teilhaben, desto negativer ist in der Regel ihre Einstellung gegenüber Führungseliten, Parteisystemen und postmodernen Lebensstilen. Zivilgesellschaftliche Aktivisten werden häufig diesen Gruppen zugerechnet, was die negative Haltung ihnen gegenüber verschärft.

    1.6.

    Für die Zivilgesellschaft wird die Lage besonders ernst, wenn Populisten an die Macht gekommen und in der Lage sind, maßgeblichen Einfluss auf die staatliche Agenda zu nehmen und auf ein autoritäres System zuzusteuern. Zivilgesellschaftliche Organisationen geraten massiv unter Druck, nicht nur aufgrund des kleiner werdenden Raums für ihre Tätigkeiten, sondern auch durch persönliche Bedrohungen und Verfolgung.

    1.7.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass die politische Bildung in Bezug auf die Grundsätze der Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit intensiviert werden sollte, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Er verweist auf die in der Stellungnahme „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union“ (2) ausgesprochene Empfehlung an die Mitgliedstaaten, diese Themen in die Lehrpläne der Schulen und Hochschulen aufzunehmen, und ruft die Europäische Kommission auf, eine ehrgeizige Kommunikations-, Bildungs- und Öffentlichkeitssensibilisierungsstrategie für die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie sowie für die Rolle unabhängiger Medien vorzuschlagen.

    1.8.

    Die Menschen verlangen nach ehrgeizigen und wirksamen politischen Visionen. Daher hält es der EWSA für erforderlich, dass die Europäische Union Narrative für eine erstrebenswerte Zukunft entwickelt und Kerngrundsätze, die im Prozess der europäischen Integration eine wichtige Rolle gespielt haben, wie etwa Partnerschaft und Subsidiarität, wieder stärker in den Vordergrund rückt.

    1.9.

    Der EWSA unterstützt die Entschließung des Europäischen Parlaments zur „Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von ländlichen Gebieten, Bergregionen und entlegenen Gebieten“ (2018/2720 (RSP)) (3), „um die sozioökonomische Entwicklung, das Wirtschaftswachstum und die Diversifizierung, das soziale Wohlergehen, den Naturschutz sowie die Zusammenarbeit und die Vernetzung mit städtischen Gebieten zu fördern, damit der Zusammenhalt unterstützt und die Gefahr einer territorialen Fragmentierung vermieden wird“. Der Ausschuss schließt sich folglich auch der Forderung des Europäischen Parlaments nach Einführung eines Paktes für intelligente Dörfer an, in den im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip alle Regierungsebenen einbezogen werden.

    1.10.

    Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung aus der Stellungnahme „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (4), wie unter anderem „die Schaffung eines Demokratie-Scoreboards, das […] die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement erfasst und zu konkreten Reformempfehlungen führt“.

    1.11.

    Die Behörden sollten in ihren Maßnahmen einen menschenrechtsbasierten Ansatz (5) verfolgen — insbesondere sollten wirtschaftspolitische Reformmaßnahmen systematisch auf Folgenabschätzungen in Bezug auf die Menschenrechte (6) gestützt sein. Dies sollte eine Voraussetzung für sachkundige und inklusive nationale Debatten und die Anpassung politischer Entscheidungen sowie für eine reibungslose Umsetzung der Reformen sein.

    1.12.

    Der EWSA empfiehlt eine stärkere Berücksichtigung der neuen Wirtschaftstätigkeiten in ländlichen Gebieten, von denen viele auf den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Fürsorge beruhen. Er ruft zu Maßnahmen auf, die eine bessere Unterstützung und Verknüpfung solcher Initiativen zum Ziel haben, um von der isoliert-experimentellen Phase zu emanzipatorischen politischen und sozialen Bündnissen zu gelangen.

    1.13.

    Der EWSA fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten zu einem Ausbau der Infrastruktur auf der subnationalen Ebene auf. Die Stilllegung von Bus- und Bahnverbindungen und die Schließung von Schulen und Gesundheitseinrichtungen gehören eindeutig mit zu den Ursachen des populistischen Protestes in Europa.

    1.14.

    Die EU-Organe sollten den Kapazitätsaufbau bei europäischen, nationalen und lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen stärken und sie mit Ressourcen darin unterstützen, den Umfang und die Qualität ihres Handelns zu verbessern. Sie sind wichtig dafür, die Bedürfnisse der einzelnen Bevölkerungsgruppen zu erkennen und darauf einzugehen. Verschlechterungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie treffen sie besonders hart.

    2.   Allgemeine Bemerkungen

    2.1.

    Populistische Parteien konnten bei der Europawahl 2019 erhebliche Zugewinne verzeichnen. Der EWSA hält diese Entwicklung für äußerst besorgniserregend und ruft zu umfassenden Initiativen für ihre Bewältigung auf, angefangen mit Bemühungen um ein besseres Verständnis der ihr zugrunde liegenden Ursachen.

    2.2.

    Der EWSA meint, dass man sich gerade auch der Lage der zivilgesellschaftlichen Organisationen zuwenden muss, die von Verschlechterungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie besonders hart getroffen werden. In vielen Ländern wird der Handlungsspielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenwärtig eingeschränkt. Die weitere Zunahme des Populismus geht wahrscheinlich auch mit einer geringeren wirtschaftlichen Stabilität und einer ineffizienteren Regierungsführung und Politik einher, was schlecht für das Investitionsklima ist.

    2.3.

    Der EWSA hat bereits seine große Beunruhigung „angesichts der Verschlechterung der Menschenrechtslage, der um sich greifenden populistischen und autoritären Tendenzen und der Gefahren, die dies für die Qualität der Demokratie und den Schutz der Grundrechte bedeutet“ (7), zum Ausdruck gebracht. Er hat die EU-Institutionen aufgefordert, „einen proaktiven und präventiven Ansatz im Rahmen ihrer politischen Tätigkeiten zu wählen, um Probleme frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden“.

    2.4.

    In seiner Initiativstellungnahme zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (8) betonte der EWSA, dass er der Ansicht ist, dass der Zivilgesellschaft „eine zentrale Rolle beim Erhalt der liberalen Demokratie in Europa“ zukommt und dass „nur eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft Demokratie und Freiheit verteidigen und Europa vor der autoritären Versuchung bewahren“ kann.

    2.5.

    Zur vollständigen Erfassung des Phänomens „Populismus“ müssen mehrere Dimensionen berücksichtigt werden. Einige Beobachter setzen in erster Linie bei kulturellen Faktoren an, um die Ursachen des Populismus zu finden. Andere vernachlässigen die Bedeutung dieser Faktoren zwar nicht, argumentieren aber, dass der zunehmende Populismus im Wesentlichen auf sozioökonomische Faktoren zurückzuführen und der Komplexität der Globalisierung zuzuschreiben sei.

    2.6.

    Viele Sorgen, auf denen die Unzufriedenheit der Menschen beruht, sind rational begründet und rufen nach Lösungen der Politik. Diese legitimen Anliegen müssen von den Versuchen einiger politischer Akteure unterschieden werden, die sich diese Unzufriedenheit zunutze machen und sie durch demagogische, aber irrationale Vorschläge für ihre eigenen Wahlzugewinne einsetzen.

    2.7.

    Die am häufigsten genannten Faktoren, die zur Erklärung der Empfänglichkeit für Populismus genannt werden, sind das Alter (hoch), der Bildungsgrad (niedrig), der relative Wohlstand (niedrig), Arbeitslosigkeit (hoch), die Art der Beschäftigung (atypisch, befristet). Diese sozioökonomischen Faktoren sind in ländlichen Gebieten und außerhalb der Großstädte häufiger verbreitet.

    2.8.

    Das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Gelbwestenbewegung in Frankreich und die Erfolge der AfD in Ostdeutschland, der Lega in Italien und der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen unterscheiden sich in vielen Aspekten. Gemeinsam ist jedoch all diesen Entwicklungen, dass sie den dramatischen Vertrauensverlust in Institutionen, Politiker und Medien widerspiegeln.

    2.9.

    Je weniger die Menschen am Erfolg der Wachstumspole ihres Landes teilhaben können, desto negativer ist in der Regel ihre Einstellung gegenüber Führungseliten, Parteisystemen und postmodernen Lebensstilen. Zivilgesellschaftliche Aktivisten werden häufig diesen Gruppen zugerechnet, was die negative Haltung ihnen gegenüber verschärft und erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen hat.

    3.   Allgemeine und ortsbezogene Faktoren des Populismus

    3.1.

    Die Zunahme des Populismus ist grob zwei Bereichen zuzuschreiben. Ein Bereich betrifft kulturelle Aspekte wie die Identitätsbildung und veränderte Wahrnehmung infolge von Entwicklungstendenzen in den letzten 20 bis 30 Jahren. Der andere Blickwinkel lässt sozioökonomische Aspekte als Hauptursachen für den Erfolg des Populismus hervortreten. Trotz der Relevanz beider Erklärungen haben die Faktoren der politischen Ökonomie bei der Betrachtung der Rolle des Raumes und des Gebiets deutlich mehr Gewicht (9).

    3.2.

    Der Populismus ist ein spezifischer Ausdruck dessen, was als Übergang in ein neues Zeitalter, Zeitenwende oder epochaler Umbruch bezeichnet werden kann. In unterschiedlichem Ausmaß sind alle Länder von den Auswirkungen dieses Wandels betroffen, unabhängig von der betreffenden Region. Alle wichtigen Dimensionen der gesellschaftlichen Ordnung sind mehr oder weniger diesem Wandel unterworfen — der Staat ebenso wie der Markt oder die Gemeinschaft (in Vertretung der Zivilgesellschaft).

    3.3.

    Ausgelöst durch Prozesse der Kommerzialisierung der sozialen und politischen Beziehungen tritt Populismus zunächst auf der Ebene bestimmter Teile der Gesellschaft auf. Wahlgemeinschaften wie Interessenvereinigungen, soziale Bewegungen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen sind zunehmend von der Organisationsunwilligkeit betroffen. Sie kämpfen um ihren Fortbestand und um die Mitgliederbindung. Auch Schicksalsgemeinschaften wie Familien, Stadtviertel- bzw. Dorfgemeinschaften und lokale Gruppen leiden unter Fragmentierung, abnehmender Solidarität, Entfremdung und Auflösung.

    3.4.

    In einer zunehmend komplexen Welt schürt eine solche soziale und politische Fragmentierung tendenziell Unsicherheit und Ängste und führt zu einer Suche nach klaren Antworten. Traditionelle Gemeinschaften können solche Antworten häufig nicht mehr geben. Unabhängig vom Alter und der sozialen Schicht suchen viele Menschen nach neuen Wegen der Zugehörigkeit und nach einer sicheren Identität. Populistische politische Akteure haben sich darauf verlegt, solche einfachen Antworten zu geben, die oft mit verklärenden Visionen einer glorreichen Vergangenheit verwoben sind, an die es anzuknüpfen gilt.

    3.5.

    Wenn solche einfachen Antworten erst einmal in gut klingende politische Programme übersetzt sind, wirken sie in den Bereich der Politik und des Staates hinein — also in Bereiche, die ihrerseits von der Zersplitterung der Parteiensysteme und einem schwindenden Vertrauen in die politische Steuerung betroffen sind.

    3.6.

    Die allgemeinen Ursachen für den Populismus werden durch die territoriale Zersplitterung, von der ländliche und stadtnahe Gebiete betroffen sind, weiter verschärft. Deren Bewohner fühlen sich von der Wirtschaftsentwicklung und der öffentlichen Infrastruktur für Verkehr, Gesundheit, Altenpflege, Bildung und Sicherheit abgeschnitten. Daher sind eine antielitäre Denkweise und Vorurteile gegenüber einer kosmopolitischen Lebensweise hier sehr verbreitet.

    4.   Globalisierung und Wirtschaftskrise

    4.1.

    Die Globalisierung hat Chancen und Risiken mit sich gebracht, wobei die Risiken für stadtnahe und ländliche Gebiete schwerer wiegen. Dies führte zu einer Investitionslücke in diesen Gebieten und zu einem berechtigten Gefühl der Unsicherheit angesichts der Gefahr einer Verlagerung von industriellen Infrastrukturen und Arbeitsplätzen, verbunden mit der Ablehnung einer allgemein als ungerecht empfundenen Steuerpolitik. Bestimmte Handelsabkommen, wie das jüngste mit dem Mercosur, haben in einigen Mitgliedstaaten ebenfalls Bedenken hervorgerufen, da sie als existenzgefährdend für die europäischen Landwirte und als Bedrohung des europäischen Modells bäuerlicher Familienbetriebe angesehen werden.

    4.2.

    Diese „politische Ökonomie des Populismus“ wird in einem von der Gruppe Vielfalt Europa des EWSA in Auftrag gegebenen Bericht (10) untersucht‚ in dem es heißt, dass „ein höheres Niveau bei verfügbarem Einkommen, Beschäftigungsquote, Sozialausgaben und BIP mit einem geringeren populistischen Wahlerfolg auf regionaler Ebene in Verbindung gebracht werden kann“. Ein Rückgang des verfügbaren Einkommens wird mit einer Zunahme der Unterstützung für populistische Parteien in Verbindung gebracht.

    4.3.

    Trotz der insgesamt positiven Entwicklungen im Beschäftigungsbereich in Europa sind Arbeitslosigkeit, atypische Beschäftigungsverhältnisse sowie soziale und wirtschaftliche Marginalisierung in vielen Mitgliedstaaten gerade bei jungen Menschen besonders ausgeprägt. Die Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen könnte die erste Generation seit Gründung der EU sein, der es schlechter geht als der Elterngeneration. Angaben von Eurostat zeigen, dass 44 % der Beschäftigten in Europa im Alter von 19 bis 24 Jahren nur einen befristeten Arbeitsvertrag haben. In der Gesamtbevölkerung liegt dieser Anteil hingegen bei 14 %.

    4.4.

    Ländliche, stadtnahe und Randgebiete sind tendenziell anfälliger für den Einfluss des Populismus, der ein Modell bietet, das gerade die Faktoren infrage stellt, auf denen das jüngste Wirtschaftswachstum beruht: offene Märkte, Migration, wirtschaftliche Integration und Globalisierung (11).

    4.5.

    Ein strukturell schwaches Wirtschaftswachstum lässt generell die Steuereinnahmen der EU-Staaten sinken und die Ausgaben in die Höhe schnellen. Der Ausgabendruck ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, darunter die Bevölkerungsalterung, die Schuldenlast und die steigenden Kosten für die öffentliche Sicherheit. Gleichzeitig ist der Druck auf die Einnahmen auf Faktoren wie volkswirtschaftliche Entscheidungen, die Sparpolitik und Steuerhinterziehung oder -vermeidung zurückzuführen. Knappe öffentliche Mittel schränken die Staaten daher in ihrer Rolle als Pflichtenträger im Bereich der Umverteilungspolitik ein, die für die Wahrung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte von zentraler Bedeutung ist. Öffentliche und private Investoren wenden sich vom Wirtschaftsgefüge vor allem in ländlichen und stadtnahen Gebieten ab, was in Teilen der Bevölkerung das Gefühl entstehen lässt, von staatlichen Strukturen und öffentlichen Diensten verlassen und abgekoppelt zu sein.

    4.6.

    Der EWSA fordert europäische und einzelstaatliche Organe auf, Inklusivität, den Zugang zu Rechten und den Erhalt von Wirtschaft und Industrie sowie Beschäftigungspools als Schlüsselkriterien der Wirtschafts-, Kohäsions- und Regionalpolitik zu betrachten.

    5.   Der Faktor Migration

    5.1.

    Ebenso wie die Globalisierung betrifft auch die Migration alle Länder, seien es Industrie- oder Entwicklungsländer. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sie verschwinden wird — eher wird sie im Laufe der Zeit noch zunehmen. Der zunehmende Druck durch populistische Bewegungen macht es den Mitgliedstaaten zwar schwer, entbindet sie aber nicht von der Pflicht, sich auf eine dringend benötigte gerechte, mitfühlende und verantwortungsvolle europäische Migrations- und Asylpolitik zu einigen, die mit internationalen Menschenrechtsnormen vereinbar ist.

    5.2.

    Die populistische Rhetorik ist nicht rational auf die regulatorischen Aspekte der Migrationspolitik ausgerichtet. Vielmehr stigmatisiert sie Migranten direkt als Kriminelle, Terroristen oder Eindringlinge, was eine Stimmung erzeugt, die direkte Angriffe auf sie begünstigt.

    5.3.

    In der Migrationsfrage hängen die geografisch gesehen bedeutsamsten Trennlinien mit Unterschieden bei den Sozialsystemen und den Arbeitsmärkten zusammen. Die Sozialsysteme und die Arbeitsmärkte sind in manchen Ländern relativ zugänglich für Einwanderer, während sie in anderen Ländern abgeschottet und ausgrenzend sind. Mit dem Zustrom einer größeren Anzahl an Migranten unterscheiden sich die Reaktionen jener Teile der örtlichen Bevölkerung, die marginalisiert sind oder Angst haben, marginalisiert zu werden, je nach der Art der politischen Ökonomie.

    5.4.

    In einigen Ländern und in bestimmten Regionen dieser Länder besteht die Befürchtung, dass die Sozialsysteme überlastet werden, während in anderen Ländern Migranten als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen werden. Subjektiv gesehen können Migranten ein Problem in Bezug auf einen sicheren Arbeitsplatz oder den Erhalt von Sozialleistungen darstellen. Unter den Bewohnern ländlicher und stadtnaher Gebiete können derartige Befürchtungen besonders ausgeprägt sein.

    5.5.

    Es gibt also eine Vielzahl möglicher Ursachen für die Zunahme populistischer Bewegungen, die von den nationalen Regierungen, den Organen der Europäischen Union und den zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Entwicklung geeigneter Gegenstrategien politischer und/oder wirtschaftlicher Art berücksichtigt werden sollten. Ebenso wichtig ist, dass das Gefühl des sozialen Abstiegs und der wirtschaftlichen Marginalisierung in Teilen der EU nicht auf Zuwanderung, sondern vielmehr auf Abwanderung zurückzuführen ist. Vor allem in Teilen Osteuropas hat die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte ein dramatisches Ausmaß angenommen, das das sozioökonomische Gefüge dieser Länder erschüttert.

    5.6.

    Der EWSA widerspricht der Auffassung, dass es einen Konkurrenzkampf um öffentliche Mittel zwischen Migranten und der örtlichen Bevölkerung gebe. Er ruft zivilgesellschaftliche Organisationen auf, ihre Aktivitäten zu verstärken, um den Ängsten und Besorgnissen in Teilen der Bevölkerung zu begegnen. Ferner befürwortet er die Schaffung von Bildungs- und Sozialprogrammen, die auf die Bandbreite der Motive eingehen, die dem Populismus insbesondere in den abgelegenen Teilen der EU Vorschub leisten. Den nationalen und europäischen Plattformen und Netzwerken der Zivilgesellschaft sollte mehr Unterstützung geboten werden, um das Phänomen genauer zu analysieren und die Verbreitung verlässlicher Informationen sowie Aufklärungsmaßnahmen, die für ein besseres Verständnis sorgen, zu fördern.

    6.   Die Geografie der Unzufriedenheit

    6.1.

    Populistische Parteien haben in ländlichen Randgebieten und ehemaligen Industrieregionen in der EU überdurchschnittlich große Erfolge erzielt (12). Dies gilt für das Brexit-Referendum in Großbritannien sowie für Österreich, wo der Kandidat der FPÖ bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2018 62 % der Stimmen der Landbevölkerung errungen hatte.

    6.2.

    In der Geografie der Unzufriedenheit vermengt sich das kontinentale Nord-Süd-Gefälle und das Ost-West-Gefälle in der EU mit der Kluft zwischen den Zentren und der Peripherie innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Diese vielfältige Fragmentierung der Gesellschaften und Gebiete hat die Zunahme des Populismus im Laufe der Jahre begünstigt. Die Infrastruktur- und die Verkehrspolitik sind daher von besonderer Bedeutung, da sie die territoriale Kontinuität gewährleisten und eine materielle Grundvoraussetzung für den Zugang der Allgemeinheit zu staatsbürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten sind.

    6.3.

    Der EWSA empfiehlt den europäischen und nationalen Behörden, die Politik in den Bereichen Verkehr, Infrastruktur und Internetanbindung als Mittel zur Bekämpfung von Populismus zu betrachten. Die Behörden sollten diese sowie kohäsions- und sozialpolitische Maßnahmen und Armutsbekämpfungsstrategien aus einem menschenrechtsbasierten Blickwinkel gestalten (13). Sie sollten ferner sicherstellen, dass Maßnahmen, insbesondere wirtschaftspolitische Reformmaßnahmen, auf systematischen Ex-ante- und Ex-post-Folgenabschätzungen (14) der Menschenrechtslage beruhen‚ um sachkundige und inklusive nationale Debatten über die Schlichtung und Anpassung politischer Entscheidungen zu begünstigen.

    6.4.

    Eine Folge der sozialen, wirtschaftlichen und regionalen Fragmentierung ist eine wachsende politische Entrechtung eines großen Teils der Bevölkerung im stadtnahen und ländlichen Raum. Diese kommt zum Ausdruck in einer hohen Zahl von Nichtwählern, der Ablehnung der repräsentativen Demokratie und der intermediären Organisationen, einschließlich der politischen Parteien und Gewerkschaften, und in der Unterstützung radikaler populistischer Bewegungen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die politische Bildung in Bezug auf die Grundsätze der Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit intensiviert werden sollte, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Er verweist auf die in der Stellungnahme „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union“ (15) ausgesprochene Empfehlung an die Mitgliedstaaten, diese Themen in die Lehrpläne der Schulen und Hochschulen aufzunehmen, und ruft die Europäische Kommission auf, eine ehrgeizige Kommunikations-, Bildungs- und Öffentlichkeitssensibilisierungsstrategie für die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie vorzuschlagen.

    6.5.

    Gerade wegen der sich überschneidenden Politikfelder Identität, Zugehörigkeit, Anerkennung und Umverteilung muss berücksichtigt werden, dass Religion, Geschlechterdynamik, Ort und kulturelle Identität wichtig sind, ebenso wie Klasseninteressen und Ungleichheit. Alternativen zu der Vereinnahmung durch regressive politische Kräfte zu mobilisieren, ist nicht einfach. Neue Kampagnen und Narrative sind erforderlich. Eine besonders wichtige Möglichkeit, hierhin zu gelangen, ist der Blick auf die vielen neuen Wirtschaftstätigkeiten, die auf dem Land entstehen und auf Gemeinschaftsdenken, Gegenseitigkeit und Fürsorge basieren. Die Aufgabe besteht dann darin, diese miteinander zu verbinden und über die isoliert-experimentelle Phase hinauszugehen und sie untereinander und mit emanzipatorischen politischen Bündnissen zu verknüpfen.

    7.   Der Einfluss des Populismus auf die Zivilgesellschaft außerhalb der Großstädte

    7.1.

    Die Zivilgesellschaft ist vom Aufstieg populistischer Bewegungen und Parteien in ganz Europa und auf verschiedenen territorialen Ebenen stark betroffen. Da politische Räume in vielen Teilen Europas zunehmend von autoritärer Propaganda, fremdenfeindlichen und rassistischen Haltungen und faschistischer Gewalt betroffen sind, sind soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände gleichermaßen unmittelbar betroffen.

    7.2.

    Für die Zivilgesellschaft wird die Lage besonders dort ernst, wo Populisten an die Macht gekommen und in der Lage sind, maßgeblichen Einfluss auf die staatliche Agenda zu nehmen. Wenn populistische Parteien Schlüsselpositionen im Parlament und in der Exekutive einnehmen, neigen sie dazu, eine vormals liberale Gesellschaft in die Richtung eines autoritären Regimes zu steuern. Organisationen der Zivilgesellschaft sind durch die Einschränkung der für ihre Tätigkeit nötigen Spielräume massiv bedroht. Gleichzeitig wird die ungehinderte Arbeit bestehender Organisationen der Zivilgesellschaft zusätzlich erschwert durch manche Pseudo- oder Schein-NRO, die auf Anordnung von oben gegründet werden und sich häufig einen radikaldemokratischen Anstrich geben.

    7.3.

    Die Frage, in welchem Ausmaß die Zivilgesellschaft in ländlichen und stadtnahen Gebieten durch Populismus eingeengt wird, ist schwer zu beantworten. Aktivisten im ländlichen Raum verfügen häufig nicht über die notwendigen Ressourcen, um die Art von Bündnissen zu schmieden, wie man sie von großstädtischen Gebieten kennt. Dies gilt auch für Bündnisse z. B. mit Verbraucherverbänden und Lebensmittelaktivisten in Städten, die in der Frage der Nachhaltigkeit von Lebensmitteln oft weiter fortgeschritten sind. Durch das Fehlen starker sozialer Bewegungen und politischer Parteien, die die Interessen der Landbewohner vertreten könnten, lässt sich der Wahlerfolg rechtspopulistischer Parteien in ländlichen Gebieten Europas teilweise erklären.

    8.   Möglichkeiten zur Bekämpfung von Populismus

    8.1.

    Als Instrumente zur Bekämpfung von Populismus werden zweierlei Maßnahmenpakete empfohlen. Das erste bezieht sich auf die Bedrohung durch den Populismus im Allgemeinen und mögliche Instrumente, die von der Europäischen Union eingesetzt werden könnten. Das zweite Paket mit Empfehlungen bezieht sich stärker auf bestimmte Regionen, ländliche und stadtnahe Gebiete.

    8.2.

    Mehrere Strategien können zur Bekämpfung der Ursachen des Populismus geeignet sein. Die erste setzt an der Art und Weise an, wie Politiker und Institutionen vorgehen und mit denjenigen ins Gespräch kommen, die effektiv unter sozioökonomischen Härten leiden. Auf soziale, wirtschaftliche und politische Komplexitäten kann keine Institution allein, die EU eingeschlossen, einfache und unmissverständliche Antworten geben, die diese Komplexität durch das Zurückversetzen in einen idealisierten sozioökonomischen Status quo ante verringern würden. Politiker und Institutionen sollten sich auf die Bekämpfung der Ursachen von Populismus konzentrieren und dabei die Rhetorik widerlegen, die behauptet, prompte und unfehlbare Antworten auf komplexe Probleme zu haben.

    8.3.

    Die zweite Strategie ist direkt mit dem Image und dem Schicksal der Europäischen Union verbunden. Zu den vielen Enttäuschungen derer, die anfälliger für populistische Propaganda sind, gehört das Fehlen wirklich wünschenswerter politischer Projekte, die eine glaubwürdige Hoffnung auf eine bessere Zukunft schaffen, sowie von Maßnahmen zur Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen. Populisten haben sich diese Enttäuschung zunutze gemacht und eine rückwärtsgewandte Vision entwickelt, die in einer scheinbar glorreichen Vergangenheit angesiedelt ist. Um ihren Fortbestand zu sichern, bleibt der Europäischen Union keine andere Wahl, als den Menschen wieder Lust auf das europäische Projekt zu machen.

    8.4.

    Der Gründungsmythos der EU allein reicht heute nicht mehr aus, um auf die Menschen in Europa zu wirken. Die EU sollte Narrative für eine erstrebenswerte Zukunft entwickeln und zentrale Grundsätze, die im Projekt der europäischen Integration eine wichtige Rolle gespielt haben, wie Partnerschaft und Subsidiarität, wieder in den Vordergrund rücken.

    8.5.

    Der EWSA fordert die EU, die Mitgliedstaaten und alle einschlägigen Interessenträger auf, den Grundsätzen Subsidiarität und Partnerschaft neuen Schwung zu geben. Wie in der Empfehlung der Gruppe Vielfalt Europa „Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU wiedergewinnen“ (16) dargelegt, hält der EWSA es für erforderlich, Bemühungen zu unternehmen, um „den Bürgerinnen und Bürgern das Subsidiaritätsprinzip zu erklären und vor Augen zu führen, dass die EU sowohl die kulturelle Vielfalt als auch die örtlichen Traditionen achtet“. Funktionale Subsidiarität würde eine stärkere Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen in die Regionalplanung und die EU-Regionalpolitik ebenso wie in die Verteidigung von Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller Bewohner ländlicher und abgelegener Gebiete bedeuten. Territoriale Subsidiarität würde die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften stärken, sodass sie Mitverantwortung für die Gestaltung, Umsetzung und Bewertung strukturpolitischer Maßnahmen übernehmen könnten.

    8.6.

    Der EWSA empfiehlt die Stärkung eines Instruments, das im Zusammenhang mit der europäischen Kohäsionspolitik eingesetzt wird, nämlich die von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung (Community-Led Local Development, CLLD). Lokale Akteure und Anwohner hätten dabei die Gelegenheit, über Lösungen für Probleme mitzuentscheiden, die sie unmittelbar betreffen, und könnten somit maßgeblich zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen.

    8.7.

    Partnerschaft ist sowohl im Hinblick auf die Kommunikation als auch auf Solidarität und gegenseitige Hilfe unter zivilgesellschaftlichen Organisationen verschiedener Länder unerlässlich. Ebenso wichtig ist Partnerschaft, wenn es um den Aufbau von Bündnissen zwischen Behörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen auf lokaler Ebene geht.

    8.8.

    Die EU und die Mitgliedstaaten müssen besser auf Verstöße gegen die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit reagieren, die durch Handlungen populistischer Bewegungen (einschließlich derjenigen, die an der Macht sind) hervorgerufen werden. Der EWSA verweist auf seine Empfehlung in der Stellungnahme „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (17), wie unter anderem „die Schaffung eines Demokratie-Scoreboards, das […] die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement erfasst und zu konkreten Reformempfehlungen führt“, sowie auf seine in der Stellungnahme „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union“ (18) vorgetragenen Empfehlungen.

    8.9.

    Der EWSA empfiehlt, die Erwägungen dieser Stellungnahme in ein solches Demokratie-Scoreboard sowie in einen künftigen Überwachungsmechanismus für Rechtsstaatlichkeit aufzunehmen. Eine wohldurchdachte Kommunikation sollte deutlich machen, dass die EU und die Mitgliedstaaten gewillt sind, Verstöße gegen die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit, die durch bestimmte populistische Maßnahmen hervorgerufen werden, zu ahnden, anstatt die Wähler populistischer Parteien ins Visier zu nehmen, deren berechtigte Bedenken durch eine gerechte, diskriminierungsfreie und wirksame Politik ausgeräumt werden müssen.

    9.   Eine von der Basis ausgehende Reaktion auf den Populismus

    9.1.

    Das Problem, vor dem die Zivilgesellschaft auf dem Land steht, ist nicht unbedingt eine Frage „schrumpfender Räume“. Das Problem ist, dass diese Räume erst einmal geschaffen werden müssen. Eine Reaktion auf die Zunahme des Populismus sollte die Ursachen der Unzufriedenheit in den Blick nehmen. Außerdem sollte sie so weit wie möglich von der Basis ausgehen. Der EWSA spricht sich für ein Tätigwerden aus, das bei verschiedenen Gruppen von Lebensmittelherstellern und -verbrauchern das Gefühl erzeugt, gemeinsame Interessen und Ziele zu haben, und zwar über gesellschaftliche Schichten, Geschlechter, Generationen und das Stadt-Land-Gefälle hinweg. Die Ernährungshoheit und die vielfältigen Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Nahrung und auf eine gesunde Umwelt sind Beispiele für spezielle Herausforderungen, die besser durch die Stärkung der Solidarität, einer kollektiven Identität und der politischen Teilhabe im ländlichen Europa angegangen werden könnten.

    9.2.

    In Bezug auf eine stärkere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger sollten sich Mitgliedstaaten, die eine Stärkung der direkten Demokratie durch lokale Referenden erwägen, darüber im Klaren sein, dass dies genau das Mittel ist, für das populistische Parteien zurzeit in ganz Europa werben. Die direkte Demokratie kann ein zweischneidiges Schwert sein. Die lokalen Behörden und die Akteure der Zivilgesellschaft sollten durch geeignete Schritte sicherstellen, dass ihr Einsatz auf Situationen beschränkt ist, in denen ein echter Nutzen davon erwartet werden kann.

    9.3.

    Der EWSA hält das Schmieden von Bündnissen zwischen lokalen Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und weiteren Akteuren, z. B. lokalen Führungspersönlichkeiten und sozialen Bewegungen, für ein zentrales Element, wenn es darum geht, gegen die Ursachen des Populismus vorzugehen. Dies wird Teil der Bemühungen sein, auf das Gefühl des Zurückgelassenseins der Bewohner ländlicher und stadtnaher Gebiete einzugehen. Ferner wird auf diese Weise auch die Rolle der Sozialpartner gestärkt, die durch ihren Dialog und ihr Handeln dazu beitragen können, Ungleichheiten zu verringern, Investitionen anzuziehen und die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln.

    9.4.

    Auch die Interessen und Anliegen von Verbänden kleiner Unternehmen, Handwerkern und Landwirten dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Die Investitionsfreudigkeit von Wirtschaftsakteuren könnte abnehmen, wenn autoritäre Gruppen (auf kommunaler Ebene) an die Macht kommen. Darüber hinaus könnten Migranten, die eine Arbeit suchen, solche Orte meiden, auch wenn hier Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind. Daher muss dieser Teufelskreis in stadtnahen und ländlichen Gebieten durchbrochen werden.

    9.5.

    Das ungenutzte Potenzial von Gebieten, die als abgehängt gelten, für private und öffentliche Investitionen ist ein absolut ausbaufähiger Ansatz. Der Schwerpunkt auf Transfer- oder Sozialleistungen sollte ergänzt werden, indem die Möglichkeiten, die diese Regionen bieten, gestärkt werden, wobei der spezifische lokale Kontext zu berücksichtigen ist. Hierfür müssen Ineffizienz und Engpässe bei den Institutionen angegangen werden und Maßnahmen zur Förderung von Weiterbildung, unternehmerischer Initiative und der Aneignung von Wissen und Innovationen ergriffen werden (19).

    9.6.

    Um gegen die Ursachen des Populismus vorzugehen, müssen neben sozioökonomischen Faktoren auch Faktoren wie Religion, Geschlechterdynamik, Wohnort, kulturelle Identität und Bildung berücksichtigt werden. Alternativen zu den einfachen Antworten regressiver politischer Kräfte zu mobilisieren, ist nicht einfach. Die Antworten müssen der spezifischen Gemengelage, in der in bestimmten lokalen Situationen Not auftritt, angepasst sein.

    9.7.

    Neue Narrative wären ebenfalls hilfreich, um gegen die Art von Desinformation vorzugehen, der durch Kampagnen in den sozialen Medien zum Durchbruch verholfen wird und die die Aushöhlung europäischer Werte zum Ziel haben, wodurch sie das Entstehen separatistischer und nationalistischer Forderungen und Einstellungen begünstigen. Wichtig ist es, die Rolle der traditionellen Medien (öffentlich-rechtliches Fernsehen, unabhängige Zeitungen) zu stärken, damit sie ihre Aufgabe der sachlichen Informationsbereitstellung richtig ausüben können. Zwar ist die Kommission bereits in dieser Hinsicht tätig geworden (siehe COM(2018) 236), doch wäre mehr Dringlichkeit angebracht.

    9.8.

    Der EWSA dringt auf eine stärkere Berücksichtigung der neuen Wirtschaftstätigkeiten in ländlichen Gebieten, von denen viele auf den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Fürsorge beruhen. Er ruft zu Maßnahmen auf, die eine bessere Unterstützung und Verknüpfung solcher Initiativen zum Ziel haben, um von der isoliert-experimentellen Phase zu emanzipatorischen politischen und sozialen Bündnissen zu gelangen.

    9.9.

    Der EWSA fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten zu einem Ausbau der Infrastruktur auf der subnationalen Ebene auf. Die Stilllegung von Bus- und Bahnverbindungen und die Schließung von Schulen und Gesundheitseinrichtungen gehören eindeutig mit zu den Ursachen des populistischen Protestes in Europa. Finanzielle Unterstützung ist für den Ausbau der örtlichen Infrastruktur sowohl in materieller (Verkehr und öffentliche Dienstleistungen) als auch in immaterieller Hinsicht (Netze zwischen verschiedenen Arten von Ortschaften, Institutionen und Organisationen) erforderlich.

    9.10.

    Der EWSA, seine Mitgliedsorganisationen und weitere EU-Institutionen sollten den Kapazitätsaufbau örtlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen unterstützen und ihnen mit den nötigen Ressourcen dabei helfen, den Umfang und die Qualität ihres Handelns zu verbessern. Zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre europäischen Netzwerke sollten mehr Unterstützung für die Schulung von Mitgliedern lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen erhalten.

    Brüssel, den 11. Dezember 2019

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Luca JAHIER


    (1)  Andrés Rodriguez-Pose 2018, The revenge of places that don't matter (and what to do about it), S. 32 (LSE Online-Forschung): http://eprints.lse.ac.uk/85888/1/Rodriguez-Pose_Revenge%20of%20Places.pdf.

    (2)  Stellungnahme des EWSA „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39)

    (3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 3. Oktober 2018 zur Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von ländlichen Gebieten, Bergregionen und entlegenen Gebieten (ABl. C 11 vom 13.1.2020, S. 15).

    (4)  Stellungnahme des EWSA „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24)

    (5)  OHCHR, Principles and Guidelines for a Human Rights Approach to Poverty Reduction Strategies (Grundsätze und Leitlinien für einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei Strategien zur Armutsreduzierung), https://www.ohchr.org/Documents/Publications/PovertyStrategiesen.pdf.

    (6)  OHCHR, Guiding principles on human rights impact assessments of economic reforms (Leitprinzipien für Folgenabschätzungen in Bezug auf die Menschenrechte bei wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen), 19. Dezember 2018, https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/40/57.

    (7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 8).

    (8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24).

    (9)  Gesellschaft außerhalb der Großstädte: die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Bekämpfung des Populismus, EWSA, Brüssel 2019: https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/files/qe-04-19-236-en-n.pdf.

    (10)  Gesellschaft außerhalb der Großstädte: die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Bekämpfung des Populismus, EWSA, Brüssel 2019: https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/files/qe-04-19-236-en-n.pdf.

    (11)  Andrés Rodriguez-Pose, The revenge of places that don't matter (and what to do about it), S. 32 (LSE Online-Forschung): http://eprints.lse.ac.uk/85888/1/Rodriguez-Pose_Revenge%20of%20Places.pdf.

    (12)  Caroline de Gruyter, Commentary: The revenge of the countryside, 21. Oktober 2016.

    (13)  OHCHR, Principles and Guidelines for a Human Rights Approach to Poverty Reduction Strategies (Grundsätze und Leitlinien für einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei Strategien zur Armutsreduzierung), https://www.ohchr.org/Documents/Publications/PovertyStrategiesen.pdf.

    (14)  OHCHR, Guiding principles on human rights impact assessments of economic reforms (Leitprinzipien für Folgenabschätzungen in Bezug auf die Menschenrechte bei wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen), 19. Dezember 2018, https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/40/57.

    (15)  Stellungnahme des EWSA „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39).

    (16)  „Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU wiedergewinnen: 7 Prioritäten der Gruppe Vielfalt Europa“; Gruppe Vielfalt Europa.

    (17)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“ (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24).

    (18)  Stellungnahme des EWSA „Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39).

    (19)  Andrés Rodriguez-Pose, The revenge of places that don't matter (and what to do about it), S. 32 (LSE Online-Forschung): http://eprints.lse.ac.uk/85888/1/Rodriguez-Pose_Revenge%20of%20Places.pdf.


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