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Document 52006IE1577

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt

ABl. C 325 vom 30.12.2006, p. 60–64 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

30.12.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 325/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“

(2006/C 325/15)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 21. April 2006 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. November 2006 an. Berichterstatterin war Frau HEINISCH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 431. Plenartagung am 13./14. Dezember 2006 (Sitzung vom 14. Dezember 2006) mit 105 gegen 4 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Diese ergänzende Stellungnahme bezieht sich auf die Definitionen und Analysen der vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss am 16. März 2006 verabschiedeten Stellungnahme „Häusliche Gewalt gegen Frauen“, die ausschließlich die von Männern gegenüber Frauen ausgeübte Partnergewalt behandelte (1). Die vorliegende Stellungnahme befasst sich ebenfalls nur mit diesem Teilbereich der Gewalt in der Familie, nämlich mit den Auswirkungen der Partnergewalt auf Kinder, die Zeugen dieser Gewalt sind. Die direkte Gewalt gegen Kinder in der Familie, die sehr häufig auch von Frauenden Mütternausgeübt wird, ist nicht Gegenstand dieser Stellungnahme. Obwohl das Aufwachsen in einem Klima körperlicher und psychischer Gewalt für Kinder gravierende Folgen haben kann, stehen Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt immer noch am Rande der Wahrnehmung. Auch vor dem Hintergrund der Rechte von Kindern auf ein Leben ohne Gewalt, insbesondere auch auf eine gewaltfreie Erziehung, sowie auf Fürsorge und Schutz, darf diese Situation nicht mehr hingenommen werden.

1.2

Daher bittet der EWSA die EU-Ratspräsidentschaften nachdrücklich, sich im Rahmen des Themas „Häusliche Gewalt gegen Frauen“ auch des Themas „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“ anzunehmen.

Adressaten: EU-Ratspräsidentschaften; Kommission

1.3

Am 4. und 5. April 2006 wurde mit einer Konferenz in Monaco das Dreijahres-Programm (2006-2008) des Europarates gestartet „Ein Europa für und mit Kindern schaffen“ (Building a Europe for and with Children). Neben der „Werbung“ für den Schutz der Rechte von Kindern wird sich dieses Programm mit dem Bereich „Schutz von Kindern vor Gewalt“ befassen. Um diesem wichtigen Vorhaben noch mehr Nachdruck zu verschaffen, auch und gerade bei den Medien, schlägt der EWSA eine gemeinsame Aktion vor: zusammen mit dem Europarat, dem Europäischen Parlament, dem Ausschuss der Regionen und UNICEF.

Adressaten: Europarat, Europäisches Parlament, Ausschuss der Regionen, UNICEF

1.4

Zwar liegt die Hauptverantwortung für die Bekämpfung der häuslichen Gewalt bei den Mitgliedstaaten. Wegen der Bedeutung der Rechte von Kindern und wegen der Unterschiedlichkeit der jeweiligen nationalen Reaktionen, hält der EWSA jedoch eine gesamteuropäische Strategie für erforderlich.

Grundlage dieser gesamteuropäischen Strategie muss die Durchführung einer ersten EU-weiten Studie zur Prävalenz und den Folgen des Aufwachsens im Kontext häuslicher Gewalt sein sowie zu den Möglichkeiten und Angeboten von Schutz und Unterstützung für die von dieser Gewalt indirekt betroffenen Kinder.

Adressaten: Kommission, Generaldirektion Recht, Freiheit und Sicherheit

1.5

Gewalt gegen Kinder im Kontext häuslicher Gewalt kann nur auf der entsprechenden nationalen Ebene wirksam bekämpft werden. Deshalb sollte jeder Mitgliedstaat in die Entwicklung und Umsetzung des jeweiligen Nationalen Aktionsplanes für die Bekämpfung der häuslichen Gewalt auch die Thematik „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“ ausdrücklich aufnehmen. Dabei sollten folgende Bereiche besonders berücksichtigt werden:

Erhebungen zur Prävalenz und den Folgen des Aufwachsens im Kontext häuslicher Gewalt;

Erhebungen zu den Möglichkeiten und Angeboten von Schutz und Unterstützung für die von dieser Gewalt indirekt betroffenen Kinder;

Sicherstellung der Wahrnehmung der von häuslicher Gewalt indirekt betroffenen Kinder als eigenständige Gruppe, für die spezielle Unterstützungsangebote entwickelt werden müssen;

Vernetzung und Kooperation aller Maßnahmen in allen Handlungsfeldern, insbesondere jedoch zwischen Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen einerseits und Jugendämtern, Familiengerichten, Kinderschutzzentren und Familienberatungsstellen andererseits;

Berücksichtigung der Dynamik häuslicher Gewalt bei den Regelungen des Umgangs- und Sorgerechtes;

Berücksichtigung der besonderen Situation der Kinder misshandelter Migrantinnen;

Sicherstellung der Aus- und Fortbildung aller zuständigen Berufsgruppen und Handlungsfelder — wie Kinder- und Jugendhilfe, Beratungs- und Schutzeinrichtungen, Interventionsstellen, Schule, Kindergarten und Freizeiteinrichtungen, Gesundheitswesen, Polizei und Justiz -, deren Aufgabe es ist, die spezifische Gefährdung von Kindern im Kontext häuslicher Gewalt zu erkennen und den Betroffenen wirkungsvoll zu helfen;

Entwicklung und Einsatz spezieller Präventionsangebote zur Thematik „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“;

Durchführung von Sensibilisierungskampagnen, die sich an potenzielle unmittelbare Zeugen von Gewalt gegen Kinder richten (Nachbarn, Bekannte der Eltern oder Verwandte), mit dem Ziel, dem passiven Verhalten dieser Personen Kindesmisshandlungen gegenüber entgegenzuwirken;

Schaffung von Ansprechpartnern für Kinder und Unterstützung durch staatliche und nicht-staatliche Einrichtungen im Sinne des in mehreren Ländern bereits eingerichteten Kinderombudsmannes (2).

Mit Aufklärungskampagnen sollten die Nationalen Aktionspläne und die in ihnen enthaltenen Maßnahmen und Konzepte bekannt gemacht werden.

Adressaten: Mitgliedsstaaten

2.   Begründung

2.1   Warum eine ergänzende Stellungnahme?

2.1.1

Diese ergänzende Stellungnahme bezieht sich auf die Definitionen und Analysen der vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss am 16. März 2006 verabschiedeten Stellungnahme „Häusliche Gewalt gegen Frauen“, die ausschließlich die von Männern gegenüber Frauen ausgeübte Partnergewalt behandelte. Die vorliegende Stellungnahme befasst sich ebenfalls nur mit diesem Teilbereich der Gewalt in der Familie, nämlich mit den Auswirkungen der Partnergewalt auf Kinder, die Zeugen dieser Gewalt sind. Die direkte, unmittelbare Gewalt gegen Kinder in der Familie, die sehr häufig auch von Frauenden Mütternausgeübt wird, ist nicht Gegenstand dieser Stellungnahme. Empirische Befunde belegen für mehrere europäische Länder, dass in mindestens der Hälfte aller Fälle häuslicher Gewalt Kinder anwesend sind und ca. drei Viertel der Frauen, die in ein Frauenhaus flüchten, Kinder dabeihaben (3). Durch empirische Befunde und statistische Daten ist ebenfalls eindeutig belegt, dass die Gewalt gegen die Mutter durch den Vater den Kindern immer schadet, auch wenn häusliche Gewalt keine direkte, unmittelbare Gewalt gegen Kinder ist. Dennoch stehen Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt immer noch am Rande der Wahrnehmung und ihnen kommt bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die Hilfe und die Unterstützung zu, der sie bedürfen. Das will diese ergänzende Stellungnahme ändern, indem sie „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“ in den Blick nimmt, ihre spezifische Situation beschreibt, die Probleme benennt und Empfehlungen für eine Verbesserung der Lage und der Rechte dieser Kinder ausspricht.

2.2   Gewalt gegen Kinder im Kontext häuslicher Gewalt

2.2.1

Gewalt gegen Kinder ereignet sich vor allem im sozialen Nahraum, insbesondere in der Familie. Hier können Kinder noch am ehesten Opfer und Zeugen von Gewalt werden: Opfer von Gewalt durch Erwachsene, Zeugen von Gewalt zwischen Erwachsenen.

2.2.2

Während die direkte, unmittelbare Gewalt an Kindern in der Familie bzw. im sozialen Nahraum der Familie — körperliche, sexuelle und seelische Misshandlung sowie Vernachlässigung — schon seit etlichen Jahren auch und gerade auf europäischer Ebene und in den Mitgliedstaaten als Problem erkannt, als eine der schwerwiegendsten Verletzungen der Rechte von Kindern bewertet und entsprechende Konsequenzen hinsichtlich der Verhinderung und Verfolgung dieser Gewalt gezogen worden sind, stehen Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt immer noch am Rande der Wahrnehmung (4).

2.2.3

Häusliche Gewalt wird als Partnergewalt verstanden, als psychische oder physische (einschließlich sexueller) Gewalt innerhalb von ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften (5). Sie wird überwiegend von Männern gegen Frauen ausgeübt. Ein Großteil der betroffenen Frauen sind Mütter. Wenn diese Gewalt durch ihren Partner erfahren, dann sind in der Mehrzahl der Fälle die Kinder entweder direkt anwesend oder in „Hörweite“ (6).

2.2.4

Gewalt gegen die Mutter ist eine Form der Gewalt gegen das Kind. Kinder, die Zeugen häuslicher Gewalt sind, die miterleben und beobachten müssen, wie ihr Vater oder Stiefvater bzw. der Lebensgefährte ihrer Mutter diese schlägt und misshandelt, sind immer auch Opfer psychischer Gewalt. Auch wenn häusliche Gewalt keine direkte, unmittelbare Gewalt gegen Kinder ist, schadet die Gewalt gegen die Mutter den Kindern immer (7).

2.2.5

Außerdem ist durch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen nachgewiesen worden, dass häusliche Gewalt gegen Frauen und Kindesmisshandlungen häufig in denselben Familien auftreten (8). Männer, die ihre Partnerinnen misshandeln, üben nicht selten auch Gewalt gegen die Kinder aus. Frauen, die Gewalt erfahren, üben bisweilen ihrerseits auch wieder Gewalt gegen ihre Kinder aus, da sie in einem Umfeld leben, in dem Gewalt gang und gäbe ist.

2.2.6

Hinzu kommt, dass misshandelte Frauen häufig so belastet sind, dass sie ihre Kinder nicht angemessen betreuen und versorgen können. Dauerhaft der Misshandlung durch den Partner ausgesetzt zu sein, beraubt viele Frauen der Möglichkeit, etwas zum Schutz der Kinder zu unternehmen.

2.2.7

Häusliche Gewalt stellt also nicht nur eine Bedrohung und Beschädigung des Lebens von Frauen dar, sondern auch eine Beeinträchtigung und Gefährdung des Wohls der Kinder.

2.3   Die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder

2.3.1

Das Aufwachsen in einem Klima körperlicher und psychischer Gewalt kann für Kinder gravierende Folgen haben. Kinder — selbst kleine Kinder — fühlen sich angesichts der Gewalt ihres Vaters oder Stiefvaters bzw. des Lebensgefährten ihrer Mutter und der Ohnmacht der Mutter sehr hilflos und ausgeliefert, aber zum Teil auch verantwortlich für das, was passiert. Oftmals glauben sie, dass sie selbst Schuld an der Gewalt haben. Oder sie versuchen einzugreifen und die Mütter zu schützen und werden dabei selbst misshandelt.

2.3.2

Verschiedene Studien, vor allem im angloamerikanischen Raum, haben sich mit dieser Problematik beschäftigt (9). Auch wenn die Folgen für das einzelne Kind unterschiedlich sind und nicht alle Kinder in Folge der Gewalt Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, und es an empirisch gesicherten Kriterien fehlt, um darüber zu entscheiden, ob und wie groß das Risiko im Einzelfall ist, lassen sich doch deutliche Zusammenhänge aufzeigen.

2.3.3

Als Belastungsfaktoren sind vor allem zu nennen: Das Leben in einer bedrohlichen Atmosphäre, die Unvorhersehbarkeit erneuter Übergriffe, die existentielle Angst um die Mutter, das Erleben von Hilflosigkeit in den betreffenden Situationen, das Gefühl der Isolation durch das häufig gegenüber Außenstehenden auferlegte Schweigegebot, Loyalitätskonflikte gegenüber den Eltern, Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Beziehung.

2.3.4

Dadurch können Kinder massive Probleme und Verhaltensstörungen entwickeln: psychosomatische Symptome und psychische Störungen wie geringes Selbstwertgefühl, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Schulschwierigkeiten, Ängstlichkeit und Aggression bis hin zu Suizidgedanken.

2.3.5

Wenn die Täter nicht nur ihre Partnerin misshandeln, sondern auch die Kinder, können die entsprechenden Symptome gestörter Entwicklung und psychischer Auffälligkeiten noch gravierender sein.

2.3.6

Das Aufwachsen in einem Kontext häuslicher Gewalt kann auch Auswirkungen auf deren Einstellung zur Gewalt und zu eigenem gewalttätigen Verhalten haben. Kinder können durch das Beobachten des elterlichen Verhaltens oder eigene Gewalterfahrungen die problematischen Verhaltensmuster der Erwachsenen übernehmen. Der so genannte „Kreislauf der Gewalt“ kann dazu führen, dass Jungen die Täterrolle und Mädchen die Opferrolle lernen und als Erwachsene selber zu Tätern oder Opfern häuslicher Gewalt werden.

2.3.7

Besonders gravierend scheinen die Auswirkungen auf die Kinder zu sein, die (mit)erleben mussten, dass die Mutter durch den Partner getötet wurde.

2.4   Analyse und Vorschläge des EWSA

2.4.1

Wenn Kinder im Kontext häuslicher Gewalt aufwachsen, werden sie dadurch immer direkt oder indirekt mitbetroffen. Sie sind zahlreichen Belastungsfaktoren ausgesetzt, die sich erheblich und nachhaltig auf ihr Wohlergehen und ihr Verhalten auswirken können.

2.4.2

Diese Auswirkungen sind in ihrer Bedeutung lange unterschätzt worden. Trotz einer in den letzten Jahren beginnenden Diskussion der Problematik stehen Kinder als Opfer häuslicher Gewalt immer noch am Rande der Wahrnehmung.

2.4.3

Auch vor dem Hintergrund der Rechte von Kindern auf ein Leben ohne Gewalt, insbesondere auch auf eine gewaltfreie Erziehung, sowie auf Fürsorge und Schutz, darf diese Situation nicht mehr hingenommen werden (10).

2.4.4

Die Vorschläge des EWSA richten sich vor allem auf folgende Bereiche:

2.4.5

Erhebungen zur Situation von Kindern im Kontext häuslicher Gewalt in den EU-Mitgliedstaaten

2.4.5.1

Ob und in welchem Ausmaß die Situation von Kindern im Kontext häuslicher Gewalt in den EU-Mitgliedsstaaten als Problem erkannt worden ist und zu Maßnahmen der Intervention und Prävention geführt hat, ist durchaus unterschiedlich (11). Das entspricht der in der Stellungnahme des EWSA zur „Häuslichen Gewalt gegen Frauen“ beschriebenen Situation auf EU-Ebene (12).

2.4.5.2

Für die fachliche und politische Diskussion innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wäre ein genauer, aktueller Kenntnisstand über den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Phänomen der häuslichen Gewalt, über gesetzliche Grundlagen und Herangehensweisen hinsichtlich des Schutzes und der Unterstützung der Kinder und über Intervention und Prävention wichtig.

2.4.6   Durchführung von Forschungsprojekten zu Art, Ausmaß und Auswirkungen der häuslichen Gewalt auf Kinder

2.4.6.1

Das Forschungsfeld „Kinder im Kontext häuslicher Gewalt“ muss in den meisten EU-Mitgliedstaaten als „terra incognita“ bezeichnet werden (13). Es liegen nur vereinzelte Studien zur Situation von Kindern vor, die im Kontext von häuslicher Gewalt aufwachsen. Auch die Möglichkeiten und Barrieren im Zugang zu Hilfe und Unterstützung sind kaum erforscht.

2.4.6.2

In allen EU-Mitgliedstaaten sollten Erhebungen und Forschungsprojekte zu Kindern im Kontext häuslicher Gewalt durchgeführt werden. Um die Vergleichbarkeit von Methoden und Befunden sicherzustellen, wäre ein koordiniertes Vorgehen sinnvoll und erforderlich (14).

2.4.7   Förderung der Unterstützung von Kindern als indirekte Opfer häuslicher Gewalt

2.4.7.1

Während die Schutz- und Unterstützungsangebote für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, in den letzten Jahren deutlich verbessert worden sind, gibt es bislang kaum Unterstützungsangebote für die Kinder dieser Frauen.

2.4.7.2

Für eine wirksame Unterstützung dieser Kinder ist es wichtig, zwischen indirekten Gewalterfahrungen als Zeugen und direkten Gewalterfahrungen durch elterliche Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch zu unterscheiden. Auch wenn es häufig zu Überschneidungen kommt, sollten durch häusliche Gewalt indirekt betroffene Kinder als „eigenständige“ Opfer wahrgenommen werden, für die spezielle Unterstützungsangebote entwickelt werden müssen.

2.4.7.3

In Fällen häuslicher Gewalt sind weder der misshandelnde Mann noch die misshandelte Frau in der Lage, die Situation der Kinder angemessen im Blick zu behalten. Die Kinder brauchen deshalb ein eigenständiges Beratungsangebot und Unterstützung durch staatliche und nicht-staatliche Einrichtungen. Beispielhaft dafür sind die Regelungen in Schweden: Die schwedischen Kinder und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr haben einen eigenen Ombudsmann („Barnombudsmannen“), der unter anderem regelmäßige Kontakte zu Kindern und Jugendlichen unterhält, um deren Ansichten und Standpunkte einzuholen (15).

2.4.7.4

Vielfach sind Nachbarn, Bekannte der Eltern oder Verwandte Zeugen von Gewalt gegen Kinder. Durch deren aktive Haltung könnten viele Tragödien verhindert werden. In der Praxis bemühen sich diese jedoch nur sehr selten, einem misshandelten Kind zu helfen. Dieser Gleichgültigkeit entgegenzuwirken, erfordert Konsequenz und entsprechende Informationskampagnen, die bei den potenziellen Zeugen von Gewalt auch positive Emotionen auslösen.

2.4.8   Verbesserung der Kooperation zwischen Kinderschutz und Frauenschutz

2.4.8.1

Der Schutz von Frauen und ihrer Kinder vor häuslicher Gewalt scheinen sehr verwandt. Tatsächlich gibt es aber nicht unerhebliche Interessenskonflikte zwischen dem Schutz und der Unterstützung von Frauen und dem Schutz und der Unterstützung von Kindern.

2.4.8.2

Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen auf der einen und Kinderschutzeinrichtungen und Jugendämter auf der anderen Seite stehen sich oft in einer misstrauischen Distanz gegenüber.

2.4.8.3

Empirische Ergebnisse weisen jedoch eindeutig auf die Notwendigkeit von Kooperation hin: Wenn die Bedrohung und Misshandlung der Mütter ausgeblendet wird, können getroffene Umgangs- und Sorgerechtsregelungen Frauen auch nach einer Trennung von dem gewalttätigen Partner immer wieder in den Kontakt zu ihm zwingen und dadurch zur Gefährdung und Verletzung von Frauen und Kindern führen (16).

2.4.8.4

Ziel zukünftiger Strategien und Regelungen muss es sein, eine gute Kooperation zwischen Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen einerseits und Jugendämtern, Familiengerichten, Kinderschutzzentren, Familienberatungsstellen andererseits aufzubauen.

2.4.9   Stärkere Berücksichtigung der Dynamik häuslicher Gewalt bei den Regelungen des Umgangs- und Sorgerechtes

2.4.9.1

Die kindschaftsrechtlichen Regelungen der EU-Mitgliedstaaten orientieren sich vielfach an dem Leitbild der gemeinsamen, kooperativen Elternschaft und der gemeinsamen Verantwortung von Mutter und Vater für das Kind auch nach einer Trennung sowie an der damit korrespondierenden Perspektive des Kindes auf ein eigenständiges Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen.

2.4.9.2

Bei häuslicher Gewalt, bei der sich ein gewalttätiger Elternteil meist über einen längeren Zeitraum ständig über die Rechte und Grenzen von Partnerin und Kind hinweggesetzt und ihnen körperliche und seelische Verletzungen zugefügt hat, fehlen jedoch die Voraussetzungen, die ein so orientiertes Kindschaftsrecht von beiden Elternteilen einfordert. Nämlich eine verantwortungs- und respektvolle Partnerschaft und die damit verbundene Fähigkeit, Konflikte auf der Paarebene von der Elternebene zu trennen.

2.4.9.3

In kindschaftsrechtlichen Verfahren müssen deshalb stärker als bisher die für häusliche Gewalt typischen Gefährdungsaspekte mitbedacht werden, insbesondere die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Gefahr der Gewaltausübung mit der Trennung nicht beendet ist. Der Schutz und die Sicherheit von Frauen und Kindern müssen wesentliche Aspekte der Entscheidung sein.

2.4.9.4

Beim Abwägen zwischen den Rechtsgütern Schutz und Unterstützung von Frauen, Schutz und Wohl von Kindern und Rechte der Männer muss der Schutz vor Gewalt immer Vorrang vor dem Recht auf Kontakt haben.

2.4.10   Besondere Anforderungen: Kinder misshandelter Migrantinnen

2.4.10.1

In einem Teil der Fälle häuslicher Gewalt handelt es sich um Frauen und Kinder mit Migrationshintergrund, die aufgrund der Trennung von Familienangehörigen und dem Ausscheiden aus der gewohnten sozialen Umgebung, die keine Gewalt zulassen würde, einem irregulären Aufenthaltsstatus, geringen Sprachkenntnissen und schwierigen Lebensbedingungen in ihrem sozialen Umfeld usw. leichter gefährdet sein können.

2.4.10.2

Zwar kommt häusliche Gewalt ausnahmslos in allen Ländern, allen Kulturen und auf allen sozialen Ebenen vor, doch sind Frauen und Kinder besonders in den Gesellschaften und Kulturen gefährdet, in denen die Gleichstellung von Männern und Frauen am wenigsten gegeben ist, die geschlechterspezifischen Rollen am starrsten sind und kulturelle Normen bestehen, durch die die Rechte der Männer gegenüber den Frauen gestützt werden.

2.4.10.3

Je nach Aufenthaltsstatus begrenzt konkret die rechtliche Situation die Handlungsoptionen. Das gilt insbesondere für irregulär aufhältliche Migrantinnen und deren Kinder.

2.4.10.4

Daher muss bei allen Interventionen, Hilfs- und Unterstützungsangeboten die Situation von Migrantinnen und ihrer Kinder besonders beachtet werden. Außerdem müssen gemeinsam mit den sozialen Akteuren und den Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft spezifische Kampagnen zur Information und Verbesserung der Sicherheit dieser Personengruppen durchgeführt werden.

2.4.11   Verbesserung der Aus- und Fortbildung aller im Kontext häuslicher Gewalt tätigen Professionen

2.4.11.1

Die Wahrnehmung der Interessen der Kinder verlangt von allen zuständigen Berufsgruppen und Handlungsfeldern — wie Kinder- und Jugendhilfe, Beratungs- und Schutzeinrichtungen, Interventionsstellen, Schule, Kindergarten und Freizeiteinrichtungen, Gesundheitswesen, Polizei und Justiz — eine hohe Professionalität.

2.4.12   Betonung der Bedeutung der Prävention von häuslicher Gewalt

2.4.12.1

Alle Konzepte und Maßnahmen, die geeignet sind, häusliche Gewalt gegen Frauen zu verhindern, wirken sich auch entsprechend auf die Situation von Kindern im Kontext häuslicher Gewalt aus (17).

2.4.12.2

Darüber hinaus müssen spezielle Präventionsangebote zum Thema „Kinder als indirekte Opfer häuslicher Gewalt“ eingesetzt werden. Dazu zählen auch Informationsmaterialien für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Handlungsfeldern.

Brüssel, den 14. Dezember 2006

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Initiativstellungnahme des EWSA vom 16.3.2006 zum Thema „Häusliche Gewalt gegen Frauen“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 89-94), Punkt 2.3.4 und 2.3.5.

URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ: C:2006:110:0089:0094:DE:PDF.

(2)  European Network of Ombudspersons for Children (ENOC):

http://www.ombudsnet.org/

(3)  Entsprechende Nachweise bei B. Kavemann/U. Kreyssig (Hrsg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt. Wiesbaden 2006.

(4)  Beispielhaft dafür sind die zahlreichen Projekte, die im Rahmen des DAPHNE-Programms gefördert worden sind und gefördert werden. Einen aktuellen Überblick über die Aktivitäten des Europarates zur Förderung der Rechte von Kindern auf Schutz vor allen Formen der Gewalt gibt der vom UNICEF Innocenti Research Centre 2005 veröffentlichte Bericht „Council of Europe Actions to Promote Children's Rights to Protection from all Forms of Violence“.

(5)  Zu Definition, Ausmaß, Ursachen und Auswirkungen siehe die EWSA-Stellungnahme zum Thema „Häusliche Gewalt gegen Frauen“ (Fußnote 1).

(6)  Siehe dazu.: A. Mullender/R. Morley: Children living with domestic violence. Putting men's abuse of women on the Child Care Agenda. London 1994.

(7)  Siehe dazu: E. Peled e.a. (eds.): Ending the cycle of violence. Community response to children of battered women. Thousand Oaks, CA 1995.

(8)  Siehe dazu: A. Mullender/R. Morley: Children living with domestic violence. Putting men's abuse of women on the Child Care Agenda. London 1994.

(9)  Ein zusammenfassend dargestellter und bewerteter Vergleich einer Vielzahl dieser Untersuchungen findet sich bei Jeffrey L. Edleson: Should childhood exposure to adult domestic violence be defined as child maltreatment under the law?

http://www.mincava.umn.edu/link/documents/shouldch/shouldch.shtml.

(10)  So die UN-Kinderrechtskonvention (Konvention über die Rechte des Kindes), die 1989 von der UN-Generalversammlung angenommen und inzwischen mit Ausnahme von zwei Ländern weltweit ratifiziert worden ist. Zur Situation der „Kinderrechte“ auf EU-Ebene wurde im Juli 2006 eine Mitteilung der Kommission veröffentlicht (KOM(2006) 367 endg.). Stellungnahme des EWSA vom 12./13.12.2006 zu dem Thema „Mitteilung der Kommission im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie“, Berichterstatterin: Frau VAN TURNHOUT (CESE 1296/2006 fin).

(11)  Das zeigen die für Irland, Großbritannien, Dänemark, Schweden und Deutschland vorliegenden Berichte und Informationen. Einen guten Überblick über die aktuelle Situation in Deutschland und in einigen anderen Mitgliedsstaaten gibt das von Barbara Kavemann und Ulrike Kreyssig herausgegebene „Handbuch Kinder und häusliche Gewalt“, Wiesbaden 2006.

(12)  Siehe dazu Ziffer 2.3.2 der EWSA-Stellungnahme zum Thema „Häusliche Gewalt gegen Frauen“ (Fußnote 1).

(13)  Selbst in dem kürzlich — Februar 2006 — veröffentlichten Bericht „State of European research on the prevalence of interpersonal violence and its impact on health and human rights“ kommt diese Problematik in dem Kapitel „Violence against children and youth“ nicht vor (

http://www.cahrv.uni-osnabrueck.de/reddot/CAHRVreportPrevalence(1).pdf).

(14)  Etwa im Rahmen des DAPHNE-Programmes oder durch eine Einrichtung wie das EU Forschungsnetzwerk „Co-ordination Action on Human Rights Violations (CAHRV)“, das Forschung zu allen Formen der interpersonellen Gewalt im Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Generationen zusammenführen soll und aus dem 6. Rahmenprogramm der Europäischen Kommission finanziert wird

(siehe www.cahrv.uni-osnabrueck.de).

(15)  Siehe dazu auch die Rede des derzeitigen Ombudsmannes „Corporal Punishment of Children“, in der auch auf die Situation von Kindern eingegangen wird, die Zeugen häuslicher Gewalt geworden sind (nur in Englisch)

( http://www.bo.se/files/in %20english, %20publikationer, %20pdf/corporal %20punishment %20of %20children060501.pdf)

Inzwischen gibt es auch in anderen Ländern diese Einrichtung; siehe dazu das European Network of Ombudspersons for Children (ENOC):

http://www.ombudsnet.org/

(16)  Siehe dazu etwa M. Hester/l. Radford: Domestic violence and child contact arrangements in England and Denmark. Bristol 1994. 70 % der Frauen, deren Kinder Kontakt zum Vater hatten, wurden während der Besuche oder während der Übergabe der Kinder erneut misshandelt und/oder bedroht, auch noch nach mehr als einem Jahr Trennung; 55 % der Kinder wurden während der Besuche misshandelt.

(17)  Siehe dazu die Stellungnahme des EWSA „Häusliche Gewalt gegen Frauen“.


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