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Dokument 62022CJ0509

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 18. April 2024.
Agenzia delle Dogane e dei Monopoli gegen Girelli Alcool Srl.
Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 7 Abs. 4 – Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs – Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr – Vollständige Zerstörung oder unwiederbringlicher Verlust einer in ein Nichterhebungsverfahren überführten Ware – Begriff ‚unvorhersehbare Ereignisse‘ – Von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats erteilte Genehmigung – Unwiederbringlicher Verlust aufgrund eines nicht groben Verschuldens eines Angestellten des zugelassenen Lagerinhabers.
Rechtssache C-509/22.

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2024:341

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

18. April 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 7 Abs. 4 – Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs – Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr – Vollständige Zerstörung oder unwiederbringlicher Verlust einer in ein Nichterhebungsverfahren überführten Ware – Begriff ‚unvorhersehbare Ereignisse‘ – Von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats erteilte Genehmigung – Unwiederbringlicher Verlust aufgrund eines nicht groben Verschuldens eines Angestellten des zugelassenen Lagerinhabers“

In der Rechtssache C‑509/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 20. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2022, in dem Verfahren

Agenzia delle Dogane e dei Monopoli

gegen

Girelli Alcool Srl

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer, sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič (Berichterstatter) und D. Gratsias,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juni 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Girelli Alcool Srl, vertreten durch P. Castellano, Avvocata,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch E. Paladini und A. Tamás als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. d’Ursel und G. Rugge als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Björkland und F. Moro als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. September 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli (Zoll- und Monopolagentur, Italien) (im Folgenden: Zollagentur) und der Girelli Alcool Srl (im Folgenden: Girelli) über die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in Bezug auf eine bestimmte Menge reinen Ethylalkohols, die bei der Denaturierung unwiederbringlich verloren ging.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/118

3

In den Erwägungsgründen 8 und 9 der Richtlinie 2008/118 heißt es:

„(8)

Da es nach wie vor für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich ist, dass der Begriff der Verbrauchsteuer und die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sind, muss auf Gemeinschaftsebene klargestellt werden, zu welchem Zeitpunkt die Überführung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr erfolgt und wer der Verbrauchssteuerschuldner ist.

(9)

Da die Verbrauchsteuer auf den Verbrauch bestimmter Waren erhoben wird, sollte sie nicht auf Waren erhoben werden, die unter bestimmten Umständen zerstört wurden oder unwiederbringlich verloren gegangen sind.“

4

In Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 heißt es:

„Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden:

b)

Alkohol und alkoholische Getränke gemäß den Richtlinien 92/83/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 21)] und 92/84/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Annäherung der Verbrauchsteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 29)];

…“

5

Art. 2 der Richtlinie 2008/118 lautet:

„Verbrauchsteuerpflichtige Waren werden verbrauchsteuerpflichtig mit

a)

ihrer Herstellung, gegebenenfalls einschließlich ihrer Förderung, innerhalb des Gebiets der [Europäischen] Gemeinschaft;

b)

ihrer Einfuhr in das Gebiet der Gemeinschaft.“

6

Art. 7 der Richtlinie 2008/118 bestimmt:

„(1)   Der Verbrauchsteueranspruch entsteht zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.

(2)   Als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne dieser Richtlinie gilt

a)

die Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Entnahme, aus dem Verfahren der Steueraussetzung;

b)

der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung, wenn keine Verbrauchsteuer gemäß den geltenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts erhoben wurde;

c)

die Herstellung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Herstellung, außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung;

d)

die Einfuhr verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Einfuhr, es sei denn, die verbrauchsteuerpflichtigen Waren werden unmittelbar bei ihrer Einfuhr in ein Verfahren der Steueraussetzung überführt.

(4)   Die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren aufgrund ihrer Beschaffenheit, infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung gelten nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.

Im Sinne dieser Richtlinie gelten Waren dann als vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen, wenn sie nicht mehr als verbrauchsteuerpflichtige Waren genutzt werden können.

Die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust der betreffenden verbrauchsteuerpflichtigen Waren ist den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust eingetreten ist, oder, wenn nicht festgestellt werden kann, wo der Verlust eingetreten ist, den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Verlust entdeckt wurde, hinreichend nachzuweisen.

(5)   Jeder Mitgliedstaat legt seine eigenen Regeln und Bedingungen fest, nach denen ein Verlust nach Absatz 4 bestimmt wird.“

Richtlinie 92/12/EWG

7

Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1) bestimmt:

„Der zugelassene Lagerinhaber wird für Verluste von der Steuer befreit, die während des Verfahrens der Steueraussetzung durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden und von den Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats festgestellt worden sind. …“

Richtlinie 92/83

8

In Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten befreien die von dieser Richtlinie erfassten Erzeugnisse von der harmonisierten Verbrauchsteuer nach Maßgabe von Bedingungen, die sie zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung solcher Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch festlegen, sofern die betreffenden Erzeugnisse

a)

in Form von Alkohol zum Vertrieb kommen, der nach den Vorschriften eines Mitgliedstaats vollständig denaturiert worden ist, nachdem die betreffenden Vorschriften gemäß den Absätzen 3 und 4 ordnungsgemäß gemeldet und genehmigt worden sind. Diese Steuerbefreiung setzt die Anwendung der Richtlinie [92/12] auf innergemeinschaftliche Beförderungen von vollständig denaturiertem Alkohol zu gewerblichen Zwecken voraus;

…“

Zollkodex

9

In Art. 204 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) heißt es:

„Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn in anderen als den in Artikel 203 genannten Fällen

a)

eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben,

es sei denn, dass sich diese Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.“

10

Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt:

„Eine Einfuhrzollschuld gilt für eine bestimmte Ware abweichend von den Artikeln 202 und 204 Absatz 1 Buchstabe a) als nicht entstanden, wenn der Beteiligte nachweist, dass die Pflichten aufgrund

der Artikel 38 bis 41 und 177 zweiter Gedankenstrich,

der vorübergehenden Verwahrung der betreffenden Ware,

der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das diese Ware übergeführt worden ist,

nicht erfüllt werden konnten, weil die betreffende Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt oder mit Zustimmung der Zollbehörden vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist.

Im Sinne dieses Absatzes ist eine Ware unwiederbringlich verlorengegangen, wenn sie von niemandem mehr zu verwenden ist.“

Italienisches Recht

11

Das Decreto legislativo n. 504 – Testo unico delle disposizioni legislative concernenti le imposte sulla produzione e sui consumi e relative sanzioni penali e amministrative (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 – Konsolidierte Fassung der Rechtsvorschriften über die Produktions- und Verbrauchsteuern und die entsprechenden strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen) vom 26. Oktober 1995 (GURI Nr. 279 vom 29. November 1995, Supplemento ordinario Nr. 143) in der durch das Decreto legislativo n. 48 – Attuazione della direttiva 2008/118/CE relativa al regime generale delle accise e che abroga la direttiva 92/12/CEE (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 48 – Umsetzung der Richtlinie 2008/118/EG über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG) vom 29. März 2010 (GURI Nr. 75 vom 31. März 2010) geänderten Fassung (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 504) sieht in Art. 2 Abs. 2 vor:

„Der Anspruch auf die Verbrauchsteuer entsteht mit der Überführung der Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr im Inland. …“

12

Nach Art. 4 Abs. 1 und 5 des Decreto legislativo Nr. 504 gilt:

„(1)   Im Fall des unwiederbringlichen Verlusts oder der vollständigen Zerstörung von Waren, die sich in einem Verfahren der Steueraussetzung befinden, wird eine Steuerbefreiung gewährt, wenn der Steuerpflichtige den Steuerbehörden hinreichend nachweist, dass der Verlust oder die Zerstörung der Waren infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt eingetreten ist. Außer im Fall von Tabakwaren sind Handlungen, die Dritten oder dem Steuerpflichtigen selbst als nicht grobes Verschulden zuzurechnen sind, unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgestellt.

(5)   Für die Zwecke der vorliegenden konsolidierten Fassung gelten Waren dann als vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen, wenn sie nicht mehr als verbrauchsteuerpflichtige Waren genutzt werden können.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13

Girelli ist ein Unternehmen mit Sitz in Italien, dessen Tätigkeit in der Denaturierung von Ethylalkohol besteht. Mit diesem Verfahren wird Alkohol für den menschlichen Genuss ungeeignet gemacht. Zu diesem Zweck verfügt Girelli über ein für Ethylalkohol zugelassenes Lager und eine Anlage zur Denaturierung und Abfüllung.

14

Am 26. März 2014 lief aufgrund eines von einem ihrer Angestellten offen gelassenen Ventils reiner Ethylalkohol auf den Boden aus, als Girelli im Beisein eines Beamten der Zollagentur einen Tank der Anlage zur Denaturierung von Ethylalkohol befüllte. Ein Teil der Ware konnte aufgefangen und noch verwendet werden, während der Rest unwiederbringlich verloren ging.

15

Am 31. März 2014 beantragte Girelli auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 504 eine Befreiung von der Verbrauchsteuer für den versehentlich verloren gegangenen Alkohol.

16

Am 5. Juni 2014 lehnte die Zollagentur diesen Antrag mit der Begründung ab, dass der in Rede stehende Verlust nicht auf unvorhersehbare Ereignisse oder höhere Gewalt zurückzuführen sei, sondern auf die Unvorsichtigkeit und das Verschulden eines Angestellten von Girelli, der das Ventil des Tanks versehentlich offen gelassen habe.

17

Am 25. Juli 2014 reichte Girelli bei der Zollagentur eine Stellungnahme ein, in der sie die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs für die verloren gegangene Menge an Ethylalkohol bestritt, indem sie geltend machte, dass deren Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr unmöglich sei.

18

Am 3. Oktober 2014 wies die Zollbehörde diese Stellungnahme zurück und erließ einen Bescheid über die Zahlung von Verbrauchsteuern in Höhe von insgesamt 17476,24 Euro.

19

Girelli erhob gegen diese Entscheidung Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Milano (Provinzfinanzkommission Mailand, Italien), mit der sie u. a. geltend machte, dass der Steuertatbestand für die streitigen Verbrauchsteuern nicht gegeben sei, weil der verloren gegangene Teil der Ware nicht in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sei, und das schädigende Ereignis ein unvorhersehbares Ereignis oder, hilfsweise, kein grobes Verschulden sei.

20

Dieses Gericht gab der Klage mit der Begründung statt, dass der in Rede stehende Verlust der Ware, der auf einen Mangel an Sorgfalt zurückzuführen sei, der jedoch nicht als „grob“ bezeichnet werden könne, auf einem nicht groben Verschulden beruhe und somit nach Art. 4 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 504 einem unvorhersehbaren Ereignis und höherer Gewalt gleichgestellt werde.

21

Die Zollagentur legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel bei der Commissione tributaria regionale della Lombardia (Regionale Finanzkommission der Lombardei, Italien) ein, die der Ansicht war, dass die beiden Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Verbrauchsteuerbefreiung vorliegend erfüllt seien, nämlich, dass der Verlust der betreffenden Ware unwiederbringlich sei und infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt eingetreten sei.

22

Die Zollagentur legte gegen das Urteil der Commissione tributaria regionale della Lombardia (Regionale Finanzkommission der Lombardei) Kassationsbeschwerde ein, mit der sie geltend macht, dass dieses Gericht dadurch gegen Art. 4 des Decreto legislativo Nr. 504 verstoßen habe, dass es festgestellt habe, dass das fahrlässige Verhalten des betreffenden Angestellten unter den Begriff „unvorhersehbares Ereignis“ falle und dass das Verschulden dieses Mitarbeiters jedenfalls als „nicht grob“ einzustufen sei.

23

Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), das vorlegende Gericht, ist der Ansicht, dass der bei ihr anhängige Rechtsstreit die Frage aufwerfe, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Begriffe „unvorhersehbare Ereignisse“ und „höhere Gewalt“ im Sinne des Unionsrechts schuldhaftes Verhalten einschlössen. Falls nicht, fragt sie sich, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar sei, wenn ein Mitgliedstaat davon ausgehe, dass Verhaltensweisen, die ein als „nicht grob“ einzustufendes Verschulden darstellten, unter diese Begriffe fielen.

24

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es in seiner Rechtsprechung zwei verschiedene Ansätze zur Auslegung des Begriffs „unvorhersehbare Ereignisse“ gebe. Nach dem ersten Ansatz, der subjektiver Natur sei, habe der Schuldner den Nachweis darüber zu erbringen, dass ihn kein Verschulden treffe und dass der Schaden in einer Weise eingetreten sei, die weder vorhersehbar noch unter Aufwendung der den konkreten Umständen des Einzelfalls angemessenen Sorgfalt abwendbar gewesen sei. Nach dem zweiten Ansatz, der objektiver Natur sei, sei es ohne Bedeutung, ob sich der Betroffene sorgfältig oder fahrlässig verhalten habe.

25

Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich die Begriffe „unvorhersehbare Ereignisse“ und „höhere Gewalt“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 im Licht der aus den Urteilen vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône (C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 24, 25 und 40), und vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš (C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 61), hervorgegangenen Rechtsprechung nicht auf ein schuldhaftes Verhalten und insbesondere nicht auf ein Verhalten beziehen dürften, das durch bloße Aufmerksamkeitsfehler gekennzeichnet sei, die naturgemäß vorhersehbar und leicht vermeidbar seien, da sich beide Begriffe durch ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche und unvorhersehbare Umstände beziehe, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhänge, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen treffe, auszeichneten.

26

Weiterhin ist dieses Gericht der Ansicht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die leichtes Verschulden mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichsetze, darauf hinausliefe, einen zusätzlichen Fall als eigenen Grund für die Befreiung von der Verbrauchsteuer vorzusehen, der sich jedoch nicht aus den Bestimmungen dieser Richtlinie ergeben dürfte.

27

Es fragt sich gleichwohl, ob Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118, wonach „[d]ie vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust [von] Waren … infolge … einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr gelte, dahin ausgelegt werden könne, dass er es den Mitgliedstaaten erlaube, andere allgemeine Kategorien als unvorhersehbare Ereignisse und höhere Gewalt zu definieren, die zu einer Steuerbefreiung führten.

28

In diesem Zusammenhang ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Systematik dieser Bestimmung, die nacheinander die „Beschaffenheit“ der Waren, „unvorhersehbare Ereignisse“ und „höhere Gewalt“ nenne, darauf schließen lasse, dass der Wendung „ein[e] von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilt[e] Genehmigung“ Ausschluss- und Auffangcharakter zukomme, so dass sie sich daher auf andere besondere Ereignisse als unvorhersehbare Ereignisse und höhere Gewalt beziehe, die sich nicht von vornherein identifizieren ließen, aber besondere Umstände beträfen, die – soweit sie einer konkreten Vorabprüfung durch die zuständigen Behörden unterlägen – den Erlass einer Entscheidung, die Ware zu vernichten, rechtfertigen könnten.

29

Schließlich wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob der Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ eine andere Tragweite haben könne als der Begriff „höhere Gewalt“, insbesondere was die Voraussetzung des für diese beiden Begriffe charakteristischen subjektiven Merkmals im Sinne der in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung betreffe.

30

Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist erstens der Begriff der unvorhersehbaren Ereignisse, auf die Verluste im Verfahren der Steueraussetzung zurückzuführen sind, gemäß Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 wie der Fall höherer Gewalt dahin auszulegen, dass er Umstände erfasst, die außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegen, ungewöhnlich und unvorhersehbar sowie trotz Aufwendung der gebotenen Sorgfalt unvermeidbar sind und sich objektiv gänzlich seiner Kontrollmöglichkeit entziehen?

2.

Kommt es ferner für den Ausschluss der Haftung im Fall unvorhersehbarer Ereignisse auf die Sorgfalt an, die bei den zur Verhinderung des schädigenden Ereignisses erforderlichen Vorkehrungen aufgewandt wurde, und, wenn ja, in welchem Umfang?

3.

Ist, subsidiär zur ersten und zweiten Frage, eine Bestimmung wie Art. 4 Abs. 1 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504, die ein nicht grobes Verschulden (derselben Person oder Dritter) mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichsetzt, mit der Regelung in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 vereinbar, die insbesondere bezüglich des „Verschuldens“ des Verursachers oder des Steuersubjekts keine weiteren Voraussetzungen enthält?

4.

Lässt sich schließlich die ebenfalls im angeführten Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 enthaltene Wendung „oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ als eine Möglichkeit für den Mitgliedstaat verstehen, eine weitere allgemeine Kategorie (leichte Fahrlässigkeit) festzulegen, die sich auf die Definition der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Fall der Vernichtung oder des Verlusts der Ware auswirken kann, oder kann sie eine solche Bestimmung nicht erfassen, weil sie stattdessen dahin zu verstehen ist, dass sie sich auf spezifische Fallkonstellationen bezieht, die im Einzelfall genehmigt oder jedenfalls nach anhand objektiver Merkmale definierten Fallgruppen abgegrenzt werden?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

31

Ohne förmlich geltend zu machen, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, stellt Girelli die Erheblichkeit der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen in Frage und macht insbesondere geltend, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzung der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr, von der das Entstehen des Verbrauchsteueranspruchs nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 abhänge, nicht erfüllt sei, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ware unwiederbringlich verloren gegangen sei.

32

In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betreffen (Urteil vom 12. Oktober 2023, KBC Verzekeringen,C‑286/22, EU:C:2023:767, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 12. Oktober 2023, KBC Verzekeringen,C‑286/22, EU:C:2023:767, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass mit dem Vorabentscheidungsersuchen, das die Auslegung des Unionsrechts – im vorliegenden Fall Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 – betrifft, gerade geklärt werden soll, ob eine verbrauchsteuerpflichtige Ware, wenn sie unter Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits unwiederbringlich verloren gegangen ist, gemäß dieser Bestimmung als nicht im Sinne von Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie „in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt“ anzusehen ist. Folglich betreffen die von Girelli geäußerten Zweifel nicht die Zulässigkeit der Vorlagefragen, sondern deren Beantwortung in der Sache.

35

Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

36

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne dieser Bestimmung wie der Begriff „höhere Gewalt“ so zu verstehen ist, dass er sich auf außerhalb der Sphäre desjenigen, der sich darauf beruft, liegende Umstände bezieht, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.

37

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/118 nach ihrem Art. 1 Abs. 1 ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern festgelegt werden soll, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch verbrauchsteuerpflichtiger Waren erhoben werden, zu denen Alkohol und alkoholische Getränke gehören.

38

Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 entsteht der Verbrauchsteueranspruch zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr. Abs. 2 dieses Artikels definiert den Begriff „Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“. Darunter fällt u. a. die unrechtmäßige Entnahme einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung.

39

Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 legt jedoch fest, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren aufgrund ihrer Beschaffenheit, infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats erteilten Genehmigung nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr gilt. Aus dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 ergibt sich, dass die Verbrauchsteuer auf verbrauchsteuerpflichtige Waren in den in dieser Bestimmung genannten Fällen nicht entsteht.

40

Während Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 2008/118 bestimmt, dass jeder Mitgliedstaat seine eigenen Regeln und Bedingungen festlegt, nach denen ein Verlust nach Abs. 4 dieses Artikels bestimmt wird, verweisen weder Art. 7 Abs. 5 noch Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie hinsichtlich des Inhalts und der Tragweite, die den Begriffen „unvorhersehbare Ereignisse“ und „höhere Gewalt“ beizumessen sind, auf das Recht der Mitgliedstaaten.

41

Außerdem wird im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 hervorgehoben, dass die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sein müssen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten. Zu diesem Zweck legt Art. 7 der Richtlinie 2008/118 den Zeitpunkt der Überführung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr fest. Da die Tragweite der Begriffe „unvorhersehbare Ereignisse“ und „höhere Gewalt“ Auswirkungen auf den Verbrauchsteueranspruch haben kann, sind diese Begriffe notwendig eigenständig, und es muss gewährleistet werden, dass sie in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 22).

42

Bei der Auslegung dieser beiden eigenständigen Begriffe des Unionsrechts sind nach ständiger Rechtsprechung nicht nur der Wortlaut der Bestimmungen, zu denen sie gehören, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügen, und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2023, Lufthansa Technik AERO Alzey,C‑393/21, EU:C:2023:104, Rn. 33).

43

Was zum Ersten den Begriff „höhere Gewalt“ betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieser Begriff nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Allgemeinen in verschiedenen Gebieten des Unionsrechts, in denen er Anwendung findet, im Sinne von außerhalb der Sphäre des sich darauf berufenden Wirtschaftsteilnehmers liegenden Umständen zu verstehen ist, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 23, sowie vom 25. Januar 2017, Vilkas,C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Begriff „höhere Gewalt“ umfasst somit im Allgemeinen ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, unvorhersehbare und außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegende Umstände bezieht, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen der betreffenden Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 24).

44

Da allerdings nach ständiger Rechtsprechung der Begriff „höhere Gewalt“ auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht notwendigerweise den gleichen Inhalt hat, ist seine Bedeutung anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 25, sowie vom 25. Januar 2017, Vilkas,C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Im Kontext der Regelung über die Verbrauchsteuern hat der Gerichtshof zum Begriff „höhere Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 festgestellt, dass der Aufbau und der Zweck dieser Richtlinie keinen Anlass dazu geben, die charakteristischen Merkmale der höheren Gewalt, wie sie sich aus der Rechtsprechung in anderen Bereichen des Unionsrechts ergeben, in besonderer Weise auszulegen und anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 26 bis 31).

46

Insbesondere hat der Gerichtshof im Wesentlichen festgestellt, dass verbrauchsteuerpflichtige Waren allein aufgrund ihrer Herstellung oder ihrer Einfuhr in das Gebiet der Union verbrauchsteuerpflichtig sind, dass der Steueranspruch grundsätzlich auch bei Fehlbeträgen oder Verlusten entsteht, für die die zuständigen Behörden keine Befreiung gewährt haben und dass die in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 vorgesehene Befreiung für Verluste infolge höherer Gewalt von dieser allgemeinen Regel eine Ausnahme bildet, die daher eng auszulegen ist (Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 30).

47

Diese Auslegung lässt sich auf Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 übertragen. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung und dem Aufbau dieses Artikels, der in den Rn. 38 und 39 des vorliegenden Urteils geprüft worden ist, geht nämlich hervor, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 eine Ausnahme von der allgemeinen Regel bildet, dass die Verbrauchsteuer auf zerstörte oder verloren gegangene Waren grundsätzlich entsteht, so dass diese Bestimmung ebenso wie Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 eng auszulegen ist.

48

Daraus folgt, dass der Begriff „höhere Gewalt“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 im Sinne von außerhalb der Sphäre der sich darauf berufenden Person liegenden Umstände zu verstehen ist, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 31).

49

Was zum Zweiten den Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ betrifft, so hat dieser ebenso wie der Begriff „höhere Gewalt“ in den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht zwangsläufig den gleichen Inhalt, so dass seine Bedeutung auch anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen ist, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš,C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 60 bis 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Bei der Auslegung des Begriffs „Zufall“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieser wie der Begriff „höhere Gewalt“ durch ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, unvorhersehbare und außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegende Umstände bezieht, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen der betreffenden Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft, gekennzeichnet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš,C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Diese Bestimmung sieht abweichend von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex vor, dass eine Einfuhrzollschuld für eine bestimmte Ware als nicht entstanden gilt, wenn der Beteiligte nachweist, dass die sich aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das diese Ware übergeführt worden ist, ergebenden Pflichten nicht erfüllt werden konnten, weil die betreffende Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš,C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 58).

52

Da Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex eine Ausnahme von der in Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex aufgestellten Regel vorsieht, wonach die Nichterfüllung einer Pflicht, die sich aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens ergibt, in das eine Ware übergeführt wird, eine Zollschuld entstehen lässt, hat der Gerichtshof daraus abgeleitet, dass die Begriffe „höhere Gewalt“ und „Zufall“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš,C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 62).

53

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 ähnlich formuliert ist wie Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex und dass er ebenso wie diese Bestimmung eine Ausnahme von der allgemeinen Regel vorsieht, dass der Verbrauchsteueranspruch für vernichtete, zerstörte oder verloren gegangene Waren fortbesteht.

54

Unter diesen Umständen ist wegen der Ähnlichkeiten zwischen Zöllen und der Verbrauchsteuer und zur Sicherstellung einer kohärenten Auslegung des Unionsrechts dem Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 dieselbe Tragweite beizumessen, wie sie der Gerichtshof in Bezug auf den Begriff „Zufall“ in Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex, auf den in Rn. 50 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, zugrunde gelegt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2010, Dansk Transport og Logistik,C‑230/08, EU:C:2010:231, Rn. 84).

55

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne dieser Bestimmung wie der Begriff der „höheren Gewalt“ so zu verstehen ist, dass er sich auf außerhalb der Sphäre desjenigen, der sich darauf beruft, liegende Umstände bezieht, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.

Zur zweiten Frage

56

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen, die zur vollständigen Zerstörung oder zum unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Waren geführt haben, die Feststellung, dass ein „unvorhersehbares Ereignis“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, voraussetzt, dass festgestellt wird, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer mit hinreichender Sorgfalt gehandelt hat, um den Eintritt des schädigenden Ereignisses zu vermeiden.

57

Insoweit ist zunächst hervorzuheben, dass, wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, der Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 sowohl durch ein subjektives Merkmal gekennzeichnet ist, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen des betreffenden Ereignisses zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft, als auch durch ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, unvorhersehbare und außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegende Umstände bezieht.

58

Folglich setzt die Feststellung, dass ein unvorhersehbares Ereignis im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, nicht nur voraus, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer mit der im Rahmen seiner Tätigkeit normalerweise erforderlichen Sorgfalt gehandelt hat, um sich gegen ein solches Risiko zu wappnen, was ein ständiges aktives Verhalten verlangt, das auf die Identifizierung und Bewertung potenzieller Risiken gerichtet ist, sowie die Fähigkeit, angemessene und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um dem Eintritt solcher Risiken vorzubeugen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône,C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 37), aber auch, dass der Eintritt dieses Risikos auf ungewöhnliche, unvorhersehbare und außerhalb der Sphäre dieses Wirtschaftsteilnehmers liegende Umstände zurückzuführen ist.

59

Folglich ist die Voraussetzung des Vorliegens von Umständen, auf die der betreffende Wirtschaftsteilnehmer keinen Einfluss hat, nicht erfüllt, wenn die Umstände, die zur vollständigen Zerstörung oder zum unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Waren geführt haben, in den Verantwortungsbereich des zugelassenen Lagerinhabers fallen, und folglich das objektive Merkmal eines unvorhersehbaren Ereignisses fehlt, so dass das Vorliegen eines solchen nicht festgestellt werden kann.

60

Der unwiederbringliche Verlust einer verbrauchsteuerpflichtigen Flüssigkeit durch Auslaufen, das durch das Versehen eines Angestellten verursacht wurde, der es nach einer Umfüllung dieser Flüssigkeit unterlassen hat, das Ventil eines Tanks zu schließen, kann nicht als ungewöhnlicher Umstand angesehen werden, der außerhalb der Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers liegt, dessen Tätigkeit in der Denaturierung von Ethylalkohol besteht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass ein solcher Verlust als in den Verantwortungsbereich dieses Wirtschaftsteilnehmers fallend und als Folge einer Verletzung der im Rahmen seiner Tätigkeit normalerweise erforderlichen Sorgfalt anzusehen ist, so dass unter derartigen Umständen sowohl das objektive als auch das subjektive Merkmal, durch die sich „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 kennzeichnen, fehlen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš,C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 63).

61

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass die Feststellung, dass ein „unvorhersehbares Ereignis“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, zum einen voraussetzt, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Waren aufgrund ungewöhnlicher, unvorhersehbarer und außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegender Umstände eingetreten ist, was ausgeschlossen ist, wenn diese Umstände in seinen Verantwortungsbereich fallen, und zum anderen, dass er die im Rahmen seiner Tätigkeit normalerweise erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt hat, um sich gegen die Folgen eines solchen Ereignisses zu wappnen.

Zur dritten Frage

62

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit denen dem betreffenden Steuerschuldner zurechenbare Handlungen, die ein nicht grobes Verschulden begründen, mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgesetzt werden.

63

Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass – wie sich aus den Antworten auf die erste und die zweite Frage ergibt – der Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne dieser Bestimmung dadurch gekennzeichnet ist, dass ungewöhnliche, unvorhersehbare und außerhalb der Sphäre des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers liegende Umstände vorliegen, deren Folgen auch dann nicht hätten vermieden werden können, wenn er die im Rahmen seiner Tätigkeit normalerweise erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt hätte.

64

Ein – wenngleich nicht grobes – Verschulden eines Angestellten des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers, das in dessen Verantwortungsbereich fällt und einen Verstoß gegen die im Rahmen seiner Tätigkeit normalerweise erforderliche Sorgfalt darstellt, schließt die Anerkennung als unvorhersehbares Ereignis im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 aus.

65

Sodann ist hervorzuheben, dass diese Bestimmung die Fälle abschließend aufzählt, in denen die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr anzusehen ist und ein Verbrauchsteueranspruch daher nicht entsteht. Dies ist der Fall, wenn die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust erstens aufgrund der Beschaffenheit der betreffenden Waren, zweitens infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt oder drittens infolge einer von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats erteilten Genehmigung eintritt.

66

Es ist jedoch festzustellen, dass das nicht grobe Verschulden eines Angestellten des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers offensichtlich weder unter die erste noch die zweite und grundsätzlich auch nicht unter die dritte Fallgruppe fällt.

67

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118, wie in Rn. 47 des vorliegenden Urteils ausgeführt, als Ausnahme von der allgemeinen Regel, dass die Verbrauchsteuer auf Waren, die vernichtet, zerstört oder verloren gegangen sind, grundsätzlich weiterhin entsteht, eng auszulegen ist.

68

Aus den Rn. 65 bis 67 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass diese Bestimmung nicht dahin verstanden werden kann, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, vorzusehen, dass der Verbrauchsteueranspruch unter anderen als den in dieser Bestimmung aufgezählten Umständen nicht entsteht, insbesondere wenn der Verlust, die Zerstörung oder die Vernichtung der verbrauchsteuerpflichtigen Ware auf ein nicht grobes Verschulden eines Angestellten des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zurückzuführen ist.

69

Außerdem könnte eine andere Auslegung das im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 genannte Ziel der Vereinheitlichung beeinträchtigen, wonach die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sein müssen, um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten.

70

Wurde jedoch die nicht grob schuldhafte Handlung, die zur vollständigen Zerstörung oder zum unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Ware führte, im Rahmen einer Denaturierung dieser Ware begangen, die zuvor von den zuständigen nationalen Behörden genehmigt worden war, so ist davon auszugehen, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust infolge einer von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats erteilten Genehmigung erfolgte, so dass diese Zerstörung oder dieser Verlust nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr anzusehen ist, sofern insbesondere die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust der Ware den zuständigen nationalen Behörden gemäß Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie 2008/118 hinreichend nachgewiesen wurde.

71

Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie eine Ware als vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen gilt, wenn sie nicht mehr als verbrauchsteuerpflichtige Ware genutzt werden kann.

72

Zum anderen ergibt sich aus Art. 27 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/83, dass denaturierter Alkohol grundsätzlich von der Verbrauchsteuer befreit ist.

73

Folglich ist davon auszugehen, dass eine Denaturierung bewirkt, dass der Alkohol im Sinne von Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/118 „nicht mehr als verbrauchsteuerpflichtige War[e] genutzt werden [kann]“ und dass ein solcher Vorgang somit zu einer vollständigen Zerstörung dieser Ware führt.

74

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass, wenn die nicht grob schuldhafte Handlung, die zur vollständigen Zerstörung oder zum unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Ware führte, im Rahmen einer Denaturierung von Alkohol begangen wurde, die zuvor von den zuständigen nationalen Behörden genehmigt worden war, davon auszugehen ist, dass diese Zerstörung oder dieser Verlust infolge einer von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats erteilten Genehmigung erfolgte, so dass diese Zerstörung oder dieser Verlust nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2008/118 anzusehen ist.

75

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der dem betreffenden Steuerschuldner zurechenbare Handlungen, die ein nicht grobes Verschulden begründen, immer mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgesetzt werden. Wurde jedoch die nicht grob schuldhafte Handlung, die zur vollständigen Zerstörung oder zum unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Ware führte, im Rahmen einer Denaturierung begangen, die zuvor von den zuständigen nationalen Behörden genehmigt worden war, ist davon auszugehen, dass diese Zerstörung oder dieser Verlust infolge einer von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats erteilten Genehmigung erfolgte, so dass diese Zerstörung oder dieser Verlust nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2008/118 anzusehen ist.

Zur vierten Frage

76

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats erteilten Genehmigung“ in Unterabs. 1 dieser Bestimmung dahin zu verstehen ist, dass sie es den Mitgliedstaaten gestattet, allgemein vorzusehen, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust von einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellten verbrauchsteuerpflichtigen Waren keine Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr darstellt, wenn die Zerstörung oder der Verlust auf einem nicht groben Verschulden beruht.

77

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts ihr Wortlaut, der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

78

Was zunächst den Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 betrifft, ist festzustellen, dass sich die Wendung „oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ auf die Möglichkeit der zuständigen nationalen Behörden bezieht, in Einzelfällen Verwaltungsentscheidungen über eine Genehmigung zu erlassen, und nicht auf die Möglichkeit des nationalen Gesetzgebers, auf dem Verordnungsweg andere allgemeine Kategorien als die in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 vorgesehenen einzuführen, in denen die Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr und damit die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs systematisch ausgeschlossen sind.

79

Was sodann den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 einfügt, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, da sie – wie in den Rn. 47 und 67 des vorliegenden Urteils ausgeführt – eng auszulegen ist, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, andere als die in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 abschließend aufgezählten Fälle vorzusehen, in denen die Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr und damit die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs systematisch ausgeschlossen sind.

80

Schließlich wird diese Auslegung durch die Ziele der Richtlinie 2008/118 bestätigt, die nach ihrem achten Erwägungsgrund insbesondere die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in den Mitgliedstaaten vereinheitlichen soll, um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten.

81

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ in Unterabs. 1 dieser Bestimmung nicht dahin zu verstehen ist, dass sie es den Mitgliedstaaten gestattet, allgemein vorzusehen, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust von einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellten verbrauchsteuerpflichtigen Waren keine Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr darstellt, wenn die Zerstörung oder der Verlust auf einem nicht groben Verschulden beruht.

Kosten

82

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „unvorhersehbare Ereignisse“ im Sinne dieser Bestimmung wie der Begriff „höhere Gewalt“ so zu verstehen ist, dass er sich auf Umstände bezieht, die außerhalb der Sphäre desjenigen liegen, der sich darauf beruft, ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.

 

2.

Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118

ist dahin auszulegen, dass

die Feststellung, dass ein „unvorhersehbares Ereignis“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, zum einen voraussetzt, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Waren aufgrund ungewöhnlicher, unvorhersehbarer und außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegender Umstände eingetreten ist, was ausgeschlossen ist, wenn diese Umstände in seinen Verantwortungsbereich fallen, und zum anderen, dass er die im Rahmen seiner Tätigkeit normalerweise erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt hat, um sich gegen die Folgen eines solchen Ereignisses zu wappnen.

 

3.

Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118

ist dahin auszulegen, dass

er einer Bestimmung des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der dem betreffenden Steuerschuldner zurechenbare Handlungen, die ein nicht grobes Verschulden begründen, immer mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgesetzt werden. Wurde jedoch die nicht grob schuldhafte Handlung, die zur vollständigen Zerstörung oder zum unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Ware führte, im Rahmen einer Denaturierung begangen, die zuvor von den zuständigen nationalen Behörden genehmigt worden war, ist davon auszugehen, dass diese Zerstörung oder dieser Verlust infolge einer von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats erteilten Genehmigung erfolgte, so dass diese Zerstörung oder dieser Verlust nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2008/118 anzusehen ist.

 

4.

Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118

ist dahin auszulegen, dass

die Wendung „oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ in Unterabs. 1 dieser Bestimmung nicht dahin zu verstehen ist, dass sie es den Mitgliedstaaten gestattet, allgemein vorzusehen, dass die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust von einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellten verbrauchsteuerpflichtigen Waren keine Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr darstellt, wenn die Zerstörung oder der Verlust auf einem nicht groben Verschulden beruht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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