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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62021CJ0323

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 12. Januar 2023.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen B.und F, K gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Stellung mehrerer Anträge auf internationalen Schutz in drei Mitgliedstaaten – Art. 29 – Überstellungsfrist – Ablauf – Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags – Art. 27 – Rechtsmittel – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Möglichkeit für den Antragsteller, sich auf den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags zu berufen.
Verbundene Rechtssachen C-323/21 bis C-325/21.

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2023:4

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

12. Januar 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Stellung mehrerer Anträge auf internationalen Schutz in drei Mitgliedstaaten – Art. 29 – Überstellungsfrist – Ablauf – Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags – Art. 27 – Rechtsmittel – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Möglichkeit für den Antragsteller, sich auf den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags zu berufen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑323/21, C‑324/21 und C‑325/21

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidungen vom 19. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 2021, in den Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

B (C‑323/21),

F (C‑324/21)

und

K

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (C‑325/21)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: V. Giacobbo, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Mai 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von B, vertreten durch P. J. J. A. Hendriks, Advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. S. Gijzen und A. Hanje als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. G. Pintus, Avvocato dello Stato,

der Schweizer Regierung, vertreten durch S. Lauper und N. Marville-Dosen als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und S. Noë als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2022

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung).

2

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der einen Seite und den Drittstaatsangehörigen B bzw. F auf der anderen Seite und zum anderen zwischen K, der ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, und dem Staatssekretär über von diesem erlassene Entscheidungen, mit denen zum einen die von B und K gestellten Anträge auf internationalen Schutz ohne Prüfung zurückgewiesen wurden und ihre Überstellung nach Italien angeordnet wurde und zum anderen F für die Zwecke seiner Ausweisung in Haft genommen wurde.

Rechtlicher Rahmen

3

In den Erwägungsgründen 4, 5 und 19 der Dublin‑III-Verordnung heißt es:

„(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS)] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

4

Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

5

Art. 18 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:

b)

einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

c)

einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

d)

einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.“

6

In Art. 20 Abs. 5 der Verordnung heißt es:

„Der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, ist gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält oder dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.“

7

Art. 23 Abs. 1 bis 3 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„(1)   Ist ein Mitgliedstaat, in dem eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Auffassung, dass nach Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.

(2)   Ein Wiederaufnahmegesuch ist so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach dem Erhalt der Eurodac-Treffermeldung … zu stellen.

Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System, ist es innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz … gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten.

(3)   Erfolgt das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Absatz 2 festgesetzten Frist, so ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der neue Antrag gestellt wurde.“

8

In Art. 24 Abs. 1 dieser Verordnung heißt es:

„Ist ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, der Auffassung, dass ein anderer Mitgliedstaat gemäß Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.“

9

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.“

10

Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung sieht vor:

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese … aufschiebende Wirkung hat.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

Rechtssache C‑323/21

11

Am 3. Juli 2017 stellte B in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz. Die deutschen Behörden ersuchten die italienischen Behörden um die Wiederaufnahme von B, weil dieser zuvor in Italien internationalen Schutz beantragt hatte. Am 4. Oktober 2017 gaben die italienischen Behörden dem Wiederaufnahmegesuch statt, wodurch eine Frist von sechs Monaten für die Überstellung von B nach Italien zu laufen begann. Diese Frist verlängerte sich in der Folge wegen der Flucht von B bis zum 4. April 2019.

12

Am 17. Februar 2018 stellte B in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Staatssekretär ersuchte am 17. März 2018 die italienischen Behörden, B wieder aufzunehmen. Am 1. April 2018 gaben die italienischen Behörden dem Wiederaufnahmegesuch statt. Der Staatssekretär informierte mit Schreiben vom 29. Juni 2018 die italienischen Behörden darüber, dass B flüchtig sei, was seiner Ansicht nach eine Verlängerung der Frist für die Überstellung bis zum 1. Oktober 2019 bedeutete.

13

Am 9. Juli 2018 stellte B in Deutschland einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Die deutschen Behörden erließen am 14. September 2018 eine Entscheidung gemäß der Dublin‑III-Verordnung, gegen die kein Rechtsbehelf eingelegt wurde.

14

Am 27. Dezember 2018 stellte B in den Niederlanden einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Entscheidung vom 8. März 2019 wies der Staatssekretär diesen Antrag ohne Prüfung mit der Begründung zurück, dass die Italienische Republik weiterhin der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

15

Am 29. April 2019 wurde B nach Italien überstellt.

16

B erhob gegen die Entscheidung des Staatssekretärs vom 8. März 2019 Klage beim zuständigen Gericht. Mit Urteil vom 12. Juni 2019 gab es der Klage statt und hob diese Entscheidung mit der Begründung auf, dass die Bundesrepublik Deutschland am 4. April 2019 wegen des Ablaufs der in Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist der zuständige Mitgliedstaat geworden sei.

17

Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Er machte zur Stützung dieser Berufung u. a. geltend, dass die Frist für die Überstellung im Verhältnis zwischen dem Königreich der Niederlande und der Italienischen Republik berechnet werden müsse und dass in dem Zeitpunkt, in dem B einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in den Niederlanden gestellt habe, für die Bundesrepublik Deutschland eine neue Überstellungsfrist zu laufen begonnen habe.

18

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es unstreitig sei, dass die Italienische Republik am Tag der Stellung des zweiten Antrags auf internationalen Schutz von B in den Niederlanden, d. h. am 27. Dezember 2018, der zuständige Mitgliedstaat gewesen sei. Die Parteien des Ausgangsrechtsstreits seien jedoch uneins über einen eventuellen Ablauf der Überstellungsfrist am 4. April 2019 nach einer Dauer von 18 Monaten, und zwar ab der Stattgabe des ersten Wiederaufnahmegesuchs durch die Italienische Republik, d. h. dem zu diesem Zweck von den deutschen Behörden gestellten Gesuch.

19

Im vorliegenden Fall habe es zur gleichen Zeit zwei „gültige Vereinbarungen“ zur Wiederaufnahme mit zwei unterschiedlichen Fristen für die Wiederaufnahme gegeben, weshalb es erforderlich sei, das Verhältnis zwischen diesen beiden Fristen zu klären. Dafür müsse ermittelt werden, ob der erste Mitgliedstaat, der ein Wiederaufnahmegesuch gestellt habe, also die Bundesrepublik Deutschland, noch als „ersuchender Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung angesehen werden müsse oder ob diese Eigenschaft dem letzten Mitgliedstaat zukomme, der ein solches Gesuch gestellt habe, also dem Königreich der Niederlande. Für den Fall, dass der zweiten Auslegung gefolgt wird, fragt sich das vorlegende Gericht, ob dieser letztgenannte Mitgliedstaat in irgendeiner Weise an die Überstellungsfrist gebunden ist, die dem ersten Mitgliedstaat obliegt.

20

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

a)

Ist der Begriff „ersuchender Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass hierunter der Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall der dritte Mitgliedstaat, d. h. die Niederlande) zu verstehen ist, der als Letzter bei einem anderen Mitgliedstaat ein Gesuch um Wiederaufnahme oder Aufnahme gestellt hat?

b)

Falls die Frage verneint wird: Hat der Umstand, dass zuvor zwischen zwei Mitgliedstaaten (im vorliegenden Fall Deutschland und Italien) eine Vereinbarung über die Anerkennung der Zuständigkeit getroffen worden ist, dann noch Folgen für die rechtlichen Verpflichtungen des dritten Mitgliedstaats (im vorliegenden Fall der Niederlande) aus der Dublin‑III-Verordnung gegenüber dem Ausländer oder den an dieser früheren Vereinbarung beteiligten Mitgliedstaaten, und falls ja, welche?

2.

Sofern Frage 1 zu bejahen ist: Ist Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes, dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung mit Erfolg geltend macht, die Überstellung dürfe nicht durchgeführt werden, da die Frist für eine zuvor zwischen zwei Mitgliedstaaten (im vorliegenden Fall Deutschland und Italien) vereinbarte Überstellung abgelaufen sei?

Rechtssache C‑324/21

21

Am 24. November 2017 stellte F in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Staatssekretär ersuchte die italienischen Behörden um die Wiederaufnahme von F, weil dieser zuvor in Italien internationalen Schutz beantragt hatte. Am 19. Dezember 2017 gaben die italienischen Behörden dem Wiederaufnahmegesuch statt, wodurch eine Frist von sechs Monaten für die Überstellung von F nach Italien zu laufen begann. Der Staatssekretär informierte mit Schreiben vom 12. April 2018 die italienischen Behörden darüber, dass F flüchtig sei, was eine Verlängerung der Frist für die Überstellung bis zum 19. Juni 2019 bedeutete.

22

Am 29. März 2018 stellte F in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem vorlegenden Gericht ist nicht bekannt, wie mit diesem Antrag weiter verfahren wurde.

23

Am 30. September 2018 stellte F in den Niederlanden einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Entscheidung vom 31. Januar 2019 wies der Staatssekretär diesen Antrag, ohne ihn zu prüfen, mit der Begründung zurück, dass die Italienische Republik weiterhin der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

24

Nachdem er das Zentrum für Asylbewerber, in dem er in den Niederlanden untergebracht war, verlassen hatte, wurde F mit einer Entscheidung des Staatssekretärs vom 1. Juli 2019 im Hinblick auf seine Überstellung nach Italien festgenommen und anschließend in Haft genommen.

25

F erhob gegen diese Entscheidung Klage beim zuständigen Gericht. Mit Urteil vom 16. Juli 2019 gab es der Klage statt und hob die Entscheidung mit der Begründung auf, dass das Königreich der Niederlande am 19. Juni 2019 wegen des Ablaufs der Frist für die Überstellung von F nach Italien der zuständige Mitgliedstaat geworden sei.

26

Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Zur Stützung der Berufung machte er u. a. geltend, dass das Königreich der Niederlande über eine neue Frist für die Überstellung von F nach Italien verfüge, die ab dem Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Deutschland durch F zu laufen begonnen habe. Infolgedessen sei die Italienische Republik weiterhin der zuständige Mitgliedstaat.

27

Nach Feststellung des vorlegenden Gerichts ist unstreitig, dass die Italienische Republik zumindest bis zum 19. Juni 2019 als zuständiger Mitgliedstaat anzusehen ist.

28

Es fragt sich in Anbetracht des Vorbringens des Staatssekretärs allerdings, ob es relevant ist, dass F vor Ablauf der Frist für seine Überstellung in einem anderen Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

29

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass eine laufende Überstellungsfrist im Sinne von Art. 29 Abs. 1 und 2 zu dem Zeitpunkt erneut zu laufen beginnt, zu dem der Ausländer, nachdem er die Überstellung durch einen Mitgliedstaat durch Flucht vereitelt hat, in einem anderen (im vorliegenden Fall einem dritten) Mitgliedstaat erneut um internationalen Schutz nachsucht?

Rechtssache C‑325/21

30

Am 6. September 2018 stellte K in Frankreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Die französischen Behörden ersuchten die österreichischen Behörden um die Wiederaufnahme von K, weil dieser zuvor in Österreich internationalen Schutz beantragt hatte. Am 4. Oktober 2018 gaben die österreichischen Behörden dem Wiederaufnahmegesuch statt, wodurch eine Frist von sechs Monaten für die Überstellung von K nach Österreich zu laufen begann. K war danach flüchtig und wurde nicht nach Österreich überstellt.

31

Am 27. März 2019 stellte K in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Staatssekretär ersuchte am 3. Mai 2018 die österreichischen Behörden um die Wiederaufnahme von K. Am 10. Mai 2019 wiesen die österreichischen Behörden dieses Gesuch mit der Begründung zurück, dass die Französische Republik, da sie die Republik Österreich nicht darüber informiert habe, dass die Überstellung von K nicht innerhalb von sechs Monaten stattfinden könne, seit dem 4. April 2019, an dem die Frist für die Überstellung von K nach Österreich abgelaufen sei, der für die Prüfung des Antrags von K zuständige Mitgliedstaat sei.

32

Am 20. Mai 2019 ersuchte der Staatssekretär die französischen Behörden um die Wiederaufnahme von K. Diese wiesen das Wiederaufnahmegesuch mit der Begründung zurück, dass die Frist von sechs Monaten für die Überstellung nach Österreich an dem Tag, an dem K in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, noch nicht abgelaufen gewesen sei.

33

Am 31. Mai 2019 ersuchte der Staatssekretär sowohl die österreichischen als auch die französischen Behörden, ihre Antworten auf das jeweilige an sie gerichtete Wiederaufnahmegesuch nochmals zu prüfen. In dem Gesuch an die österreichischen Behörden wurde vorgetragen, dass ab der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch K in den Niederlanden eine neue Überstellungsfrist zwischen der Französischen Republik und der Republik Österreich zu laufen begonnen habe und dass infolgedessen die Republik Österreich der für die Prüfung des Antrags von K auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat sei. Am 3. Juni 2019 stimmten die österreichischen Behörden zu, K wieder aufzunehmen.

34

Mit Entscheidung vom 24. Juli 2019 wies der Staatssekretär den Antrag von K auf internationalen Schutz zurück, ohne ihn zu prüfen.

35

K erhob gegen diese Entscheidung Klage beim zuständigen Gericht. Mit Urteil vom 17. Oktober 2019 wies es die Klage mit der Begründung ab, dass der Staatssekretär zutreffend die Auffassung vertreten habe, dass die Republik Österreich der für die Prüfung des Antrags von K auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat sei.

36

K legte gegen dieses Urteil beim Raad van State (Staatsrat), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Zur Stützung der Berufung machte er geltend, dass die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem dritten Mitgliedstaat den Ablauf der Frist für eine zwischen zwei Mitgliedstaaten vorgesehene Überstellung nicht verhindern könne.

37

Das vorlegende Gericht stellt fest, es sei unstreitig, dass die französischen Behörden die österreichischen Behörden weder über die Flucht von K noch darüber informiert hätten, dass sie ihn nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten überstellen könnten. In Anbetracht des Ablaufs dieser Frist könne die Republik Österreich daher ab dem 4. April 2019 nicht mehr als der zuständige Mitgliedstaat angesehen werden.

38

Es fragt sich allerdings, ob es relevant ist, dass die betreffende Person vor dem Ablauf der Überstellungsfrist in einem anderen Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

39

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass eine laufende Überstellungsfrist im Sinne von Art. 29 Abs. 1 und 2 zu dem Zeitpunkt erneut zu laufen beginnt, zu dem der Ausländer, nachdem er die Überstellung durch einen Mitgliedstaat durch Flucht vereitelt hat, in einem anderen (im vorliegenden Fall einem dritten) Mitgliedstaat erneut um internationalen Schutz nachsucht?

2.

Sofern Frage 1 zu verneinen ist: Ist Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes, dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung mit Erfolg geltend macht, die Überstellung dürfe nicht durchgeführt werden, da die Frist für eine zuvor zwischen zwei Mitgliedstaaten (im vorliegenden Fall Frankreich und Österreich) vereinbarte Überstellung abgelaufen sei, mit der Folge, dass die Frist, innerhalb derer die Niederlande überstellen könnten, abgelaufen sei?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21 sowie zur einzigen Frage in der Rechtssache C‑324/21

40

Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21 sowie seiner einzigen Frage in der Rechtssache C‑324/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass, wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem ersuchten Mitgliedstaat und einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat zu laufen begonnen hat, die Zuständigkeit für die Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs dieser Frist auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, obwohl diese Person in der Zwischenzeit in einem dritten Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der zur Annahme eines von diesem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat geführt hat. Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑323/21 fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof auch nach den eventuellen Folgen des Ablaufs dieser Frist für den dritten Mitgliedstaat.

41

Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung jeder Antrag auf internationalen Schutz, der von einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellt wird, von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird.

42

Daher sollen, wenn sich ein Antragsteller auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem, dem die Prüfung seines Antrags obliegt, befindet, die von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Verfahren u. a. seine Überstellung in diesen Mitgliedstaat ermöglichen.

43

Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung erfolgt die Überstellung der betreffenden Person in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch diesen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat.

44

Nach Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung ist der zuständige Mitgliedstaat, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird, nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet, und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über.

45

Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung enthält somit keine speziellen Regeln für den Fall, dass, obwohl einem von einem ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Gesuch über die Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen von einem anderen Mitgliedstaat bereits stattgegeben wurde, diese Person einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in einem dritten Mitgliedstaat stellt.

46

Für die Prüfung, ob in einem solchen Fall die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem dritten Mitgliedstaat oder die Entscheidung über diesen Antrag für die Anwendung dieser Bestimmungen berücksichtigt werden müssen, ist es erforderlich, die Regeln für die Verfahren zu bestimmen, die nach der Dublin‑III-Verordnung im Fall der Stellung aufeinanderfolgender Anträge auf internationalen Schutz in mehreren Mitgliedstaaten angewendet werden müssen.

47

Der Anwendungsbereich des Wiederaufnahmeverfahrens wird in den Art. 23 und 24 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt. Aus Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 dieser Verordnung ergibt sich, dass dieses Verfahren auf die in Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung genannten Personen anwendbar ist (Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 46).

48

Art. 20 Abs. 5 der Verordnung sieht u. a. vor, dass er auf einen Antragsteller anwendbar ist, der in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem er seinen ersten Antrag in einem anderen Mitgliedstaat noch während des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat. Diese Bestimmung ist auch in dem Fall anwendbar, in dem ein Antragsteller den Mitgliedstaat verlassen hat, in dem er seinen ersten Antrag gestellt hat, bevor das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats abgeschlossen ist, ohne die zuständige Behörde dieses ersten Mitgliedstaats über seinen Wunsch in Kenntnis zu setzen, auf seinen Antrag zu verzichten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 46 und 50).

49

Was Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung betrifft, bezieht sich dieser auf eine Person, deren Antrag auf internationalen Schutz noch geprüft wird, die einen solchen Antrag während der Prüfung zurückgezogen hat oder deren Antrag abgelehnt wurde und die entweder in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält (Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung ergänzen sich somit insofern, als die erste dieser Bestimmungen in einer Situation anwendbar ist, in der der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat noch nicht bestimmt wurde, während die zweite die Fälle betrifft, in denen die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags bereits festgestellt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 52, 66 und 67).

51

Da Art. 23 Abs. 1 dieser Verordnung allgemein den Mitgliedstaat betrifft, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde und der meint, dass ein anderer Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung zuständig ist, ist unter diesen Umständen davon auszugehen, dass das Wiederaufnahmeverfahren nicht nur auf den zweiten Mitgliedstaat anwendbar ist, bei dem ein Drittstaatsangehöriger einen solchen Antrag gestellt hat, sondern auch auf einen dritten Mitgliedstaat, bei dem dieser Drittstaatsangehörige später einen neuen Antrag auf internationalen Schutz stellt.

52

Was die Modalitäten der Wiederaufnahmeverfahren betrifft, die nach der aufeinanderfolgenden Stellung von Anträgen auf internationalen Schutz in mehreren Mitgliedstaaten eingeleitet wurden, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber in den Bestimmungen über die Einleitung und den Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens, und zwar den Art. 23 bis 25 der Dublin‑III-Verordnung, nicht danach unterschieden hat, ob dieses Verfahren vom zweiten Mitgliedstaat, bei dem ein Antrag auf internationalen Schutz von einem Drittstaatsangehörigen gestellt wurde, eingeleitet wird oder von einem dritten Mitgliedstaat, bei dem ein solcher Antrag später gestellt wurde.

53

In Ermangelung spezifischer Vorschriften ist keine – in dieser Verordnung nicht vorgesehene – Unterscheidung zwischen diesen beiden Situationen zu treffen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. September 2015, FCD und FMB, C‑106/14, EU:C:2015:576, Rn. 50).

54

Infolgedessen sind die an den Wiederaufnahmeverfahren beteiligten Mitgliedstaaten in diesen Situationen verpflichtet, die zwingenden Fristen zu beachten, mit denen der Unionsgesetzgeber diese Verfahren versehen hat.

55

Diese Fristen tragen nämlich entscheidend zur Verwirklichung des im fünften Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung genannten Ziels einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz bei, indem sie gewährleisten, dass diese Verfahren ohne unberechtigte Verzögerung durchgeführt werden, und zeugen von der besonderen Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber einer raschen Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats beimisst, sowie davon, dass es in Anbetracht des Ziels, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden, nach Ansicht des Unionsgesetzgebers wichtig ist, dass solche Anträge gegebenenfalls von einem anderen Mitgliedstaat als dem nach den in Kapitel III dieser Verordnung genannten Kriterien als zuständig bestimmten Mitgliedstaat geprüft werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2018, X und X, C‑47/17 und C‑48/17, EU:C:2018:900, Rn. 69 und 70).

56

Daraus folgt als Erstes, dass die in Art. 23 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten zwingenden Fristen sowohl vom zweiten als auch vom dritten Mitgliedstaat beachtet werden müssen, bei dem von einem Drittstaatsangehörigen ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, wenn diese Mitgliedstaaten ein Wiederaufnahmegesuch stellen.

57

Soweit manche der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fälle Situationen betreffen, in denen ein Drittstaatsangehöriger mehrere Anträge auf internationalen Schutz in ein und demselben Mitgliedstaat gestellt hat, ist allerdings festzustellen, dass, wenn ein Antragsteller einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat stellt, nachdem dieser eine Entscheidung über die Überstellung dieses Antragstellers erlassen hat, die Durchführung dieser Entscheidung grundsätzlich möglich bleibt, ohne dass es erforderlich wäre, dass dieser Mitgliedstaat ein neues Wiederaufnahmegesuch stellt, auch wenn der Antragsteller zwischenzeitlich einen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.

58

Wenn einer Überstellungsentscheidung keine solche Wirkung beigemessen würde, würde dies nämlich jedem Drittstaatsangehörigen, gegenüber dem von einem Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung erlassen wurde, ermöglichen, sich der Durchführung dieser Entscheidung endgültig zu entziehen, bevor sie ihre Wirkungen entfalten konnte, indem er in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz stellt und dann in den ersten Mitgliedstaat zurückkehrt, was die Gefahr in sich birgt, den mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführten Mechanismus der Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz vollständig zum Erliegen zu bringen und der Verwirklichung des Ziels der zügigen Bearbeitung dieser Anträge zu schaden.

59

Demnach kann dem Mitgliedstaat, der eine Überstellungsentscheidung erlassen hat, die noch nicht durchgeführt wurde und deren Durchführungsfrist noch nicht abgelaufen ist, die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz nicht einfach deshalb übertragen werden, weil er nach der Stellung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz in seinem Staatsgebiet kein neues Wiederaufnahmegesuch innerhalb der von Art. 23 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Fristen gestellt hat.

60

Hingegen muss ein solches Gesuch zwingend gestellt werden, um einen Drittstaatsangehörigen überstellen zu können, gegenüber dem eine Entscheidung über seine Überstellung in den betreffenden Mitgliedstaat erlassen wurde, wenn diese Entscheidung bereits durchgeführt wurde (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan, C‑360/16, EU:C:2018:35, Rn. 51).

61

Wenn kein Wiederaufnahmegesuch innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Fristen gestellt wird, wird in einer solchen Situation der Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, gemäß Art. 23 Abs. 3 dieser Verordnung der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat, ohne dass die Frage des eventuellen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist eine Auswirkung hat.

62

Als Zweites geht aus den Erwägungen in den Rn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils hervor, dass die in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung enthaltenen Vorschriften über die Überstellungsfrist im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren anwendbar sind, die geführt werden, während der betreffende Drittstaatsangehörige nacheinander Anträge auf internationalen Schutz in mehreren Mitgliedstaaten gestellt hat.

63

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Überstellungsfrist von sechs Monaten u. a. darauf abzielt, in Anbetracht der praktischen Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung der Überstellung eines Drittstaatsangehörigen einhergehen, den beiden betroffenen Mitgliedstaaten die Zeit einzuräumen, die sie benötigen, um sich im Hinblick auf die Durchführung der Überstellung abzustimmen, und die insbesondere der ersuchende Mitgliedstaat benötigt, um die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C‑245/21 und C‑248/21, EU:C:2022:709, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Da diese Bestimmung keine spezielle Regelung für den Fall vorsieht, in dem mehreren Wiederaufnahmegesuchen nacheinander zugestimmt wurde, muss daher die auf einen ersuchenden Mitgliedstaat anwendbare Überstellungsfrist ab dem Zeitpunkt berechnet werden, zu dem dem von diesem Mitgliedstaat gestellten Gesuch vom ersuchten Mitgliedstaat zugestimmt wurde, selbst wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem anderen ersuchenden Mitgliedstaat und diesem ersuchten Mitgliedstaat schon zu laufen begonnen hat.

65

Außerdem kann in einer solchen Situation, da die verschiedenen Wiederaufnahmeverfahren von jedem der ersuchenden Mitgliedstaaten unabhängig voneinander geführt werden und die Dublin‑III-Verordnung keinen Koordinierungsmechanismus vorsieht, der es ermöglicht, von den in Art. 29 dieser Verordnung genannten Regeln abzuweichen, die Überstellungsfrist, die sich daraus ergibt, dass einem ersten Wiederaufnahmegesuch vom ersuchten Mitgliedstaat stattgegeben wurde, nicht deshalb unterbrochen oder verlängert werden, weil einem neuen, von einem anderen Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch vom ersuchten Mitgliedstaat stattgegeben wurde.

66

Wie das vorlegende Gericht hervorhebt, ist zwar ab dem Zeitpunkt, zu dem die von einer Überstellungsentscheidung betroffene Person das Staatsgebiet eines Mitgliedstaats verlassen hat, um sich außerhalb dieses Staatsgebiets aufzuhalten, dieser Mitgliedstaat praktisch nicht mehr in der Lage, die Überstellung durchzuführen, was bedeutet, dass die in Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Überstellungsfrist ablaufen kann, ohne dass der Mitgliedstaat über den gesamten Zeitraum verfügt, der vom Unionsgesetzgeber als angemessen betrachtet wurde, um die Modalitäten der Durchführung der Überstellung zu regeln.

67

Allerdings hat der Unionsgesetzgeber das Risiko, dass sich die betreffende Person der Durchführung der Überstellungsentscheidung durch Flucht entzieht, ausdrücklich berücksichtigt und in Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehen, dass der ersuchende Mitgliedstaat in einer solchen Situation die Überstellungsfrist ausnahmsweise auf höchstens 18 Monate verlängern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C‑245/21 und C‑248/21, EU:C:2022:709, Rn. 67).

68

Diese Lösung, die den Ausdruck des vom Unionsgesetzgeber festgelegten Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Zielen der Dublin‑III-Verordnung und den vorliegenden widerstreitenden Interessen darstellt, gilt für alle Fälle von Flucht und damit sowohl dann, wenn die betreffende Person flüchtig ist und im Staatsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats bleibt, als auch dann, wenn sie dieses Gebiet im Laufe ihrer Flucht verlässt.

69

Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht war, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III‑Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne (vgl. in diesem Sinne Urteil vom22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C‑245/21 und C‑248/21, EU:C:2022:709, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Der Gerichtshof hat deshalb entschieden, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Überstellungsfrist in Situationen, in denen die Überstellung der betreffenden Person unmöglich ist, angewendet werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 89, vom 31. März 2022, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u. a. [Unterbringung eines Asylbewerbers in einem psychiatrischen Krankenhaus], C‑231/21, EU:C:2022:237, Rn. 62, sowie vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C‑245/21 und C‑248/21, EU:C:2022:709, Rn. 70).

71

Unter diesen Umständen kann der Umstand, dass die betreffende Person während ihrer Flucht einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen als dem ersuchenden Mitgliedstaat gestellt hat oder einem neuen Wiederaufnahmegesuch infolge der Stellung eines solchen Antrags stattgegeben wurde, in Ermangelung einer zu diesem Zweck von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Vorschrift die Unterbrechung oder Verlängerung einer der in Art. 29 dieser Verordnung vorgesehenen zwingenden Fristen nicht rechtfertigen. Dieser Umstand bedeutet im Übrigen keineswegs, dass diese Person dauerhaft außerhalb des Staatsgebiets des ersten ersuchenden Mitgliedstaats bleibt und diesen somit daran hindert, die Überstellung vorzunehmen, wie es der Sachverhalt in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑324/21 veranschaulicht.

72

Wenn die Überstellungsfrist, die sich daraus ergibt, dass dem von einem ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde, abgelaufen ist, geht folglich die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat über, auch wenn zwischenzeitlich in einem anderen Mitgliedstaat ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder einem neuen Wiederaufnahmegesuch infolge der Stellung eines solchen Antrags stattgegeben wurde.

73

Als Drittes muss der sich aus der Anwendung der Art. 23 und 29 der Dublin‑III-Verordnung ergebende Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz von sämtlichen Mitgliedstaaten bei der Durchführung etwaiger diesen Antragsteller betreffender Wiederaufnahmegesuche gebührend berücksichtigt werden.

74

Daraus folgt erstens, dass, da Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung, wie aus Rn. 50 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nur dann anwendbar ist, wenn der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat noch nicht ermittelt wurde, ein Wiederaufnahmegesuch gemäß den Art. 18 und 23 dieser Verordnung nicht wirksam an den Mitgliedstaat gestellt werden kann, in dem ein Drittstaatsangehöriger seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem die Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags auf einen anderen Mitgliedstaat übergegangen ist. In einem solchen Fall muss ein etwaiges Wiederaufnahmegesuch an diesen letztgenannten Mitgliedstaat gerichtet werden.

75

Da die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung, die zwingende Fristen festlegen, ebenso wie die in Kapitel III dieser Verordnung genannten Kriterien dazu beitragen, den im Sinne dieser Verordnung zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom26. Juli 2017, Mengesteab, C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 53), kommt die in Rn. 74 des vorliegenden Urteils genannte Regel insbesondere dann zur Anwendung, wenn der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz aus diesen Bestimmungen und insbesondere den Art. 23 und 29 dieser Verordnung hervorgeht.

76

Insbesondere muss in einer Situation, in der die Überstellungsfrist, die sich daraus ergibt, dass dem von einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch vom ersuchten Mitgliedstaat stattgegeben wurde, abgelaufen ist, bevor einem neuen, von einem anderen Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde, dieser letztgenannte Mitgliedstaat sein Gesuch an diesen ersten ersuchenden Mitgliedstaat richten, da dieser in Anwendung von Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung nunmehr als zuständiger Mitgliedstaat anzusehen ist.

77

Was zweitens die Situation betrifft, in der die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz auf einen anderen als den ersuchten Mitgliedstaat übergegangen ist, nachdem einem von einem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Dublin‑III-Verordnung auf den in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung niedergelegten zentralen Grundsatz gestützt ist, nach dem ein Antrag auf internationalen Schutz nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, was bedeutet, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt nur ein einziger Mitgliedstaat als der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 78).

78

Zum anderen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Drittstaatsangehöriger nicht in einen anderen Mitgliedstaat als den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn sich der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz aus dem Ablauf einer Verfahrensfrist nach der Stattgabe des Wiederaufnahmegesuchs und dem Erlass einer Überstellungsentscheidung ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 43, und vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 47).

79

Infolgedessen steht der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz auf einen anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 23 oder 29 der Dublin‑III-Verordnung der Durchführung einer Entscheidung entgegen, die eine Überstellung der betreffenden Person in einen anderen Mitgliedstaat beinhaltet.

80

In einer solchen Situation ist allerdings hervorzuheben, dass es dem Mitgliedstaat, dessen Überstellungsentscheidung auf diese Weise undurchführbar wird, freisteht, ein Wiederaufnahmegesuch an den Mitgliedstaat zu richten, auf den diese Zuständigkeit übergegangen ist.

81

Art. 23 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung sieht zwar den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz auf den Mitgliedstaat vor, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, wenn dieser Mitgliedstaat nicht innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Fristen ein Wiederaufnahmegesuch stellt.

82

Hat ein Mitgliedstaat innerhalb dieser Fristen ein Wiederaufnahmegesuch an den Mitgliedstaat gestellt, der zu diesem Zeitpunkt für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig war, kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass er nicht rechtzeitig ein solches Gesuch gestellt hat.

83

Daraus folgt zum einen, dass die Regel in Art. 23 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung auf einen solchen Mitgliedstaat nicht anwendbar ist.

84

Die Anwendung dieser Regel in einer solchen Situation liefe im Übrigen dem Ziel der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Fristen zuwider, nämlich sicherzustellen, dass der ersuchende Mitgliedstaat das Wiederaufnahmeverfahren innerhalb einer angemessenen Frist ab dem Zeitpunkt einleitet, zu dem er über Informationen verfügt, die es ihm erlauben, ein Wiederaufnahmegesuch an einen anderen Mitgliedstaat zu richten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan, C‑360/16, EU:C:2018:35, Rn. 63).

85

Daraus folgt zum anderen, dass der in Rn. 79 des vorliegenden Urteils genannte Übergang der Zuständigkeit für den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller befindet, eine neue Frist nach Art. 23 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung beginnen lässt, um ein Wiederaufnahmegesuch an den Mitgliedstaat zu richten, auf den diese Zuständigkeit übergegangen ist.

86

Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21 sowie auf die einzige Frage in der Rechtssache C‑324/21 zu antworten, dass die Art. 23 und 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass, wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem ersuchten Mitgliedstaat und einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat zu laufen begonnen hat, die Zuständigkeit für die Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs dieser Frist auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, auch wenn diese Person in der Zwischenzeit in einem dritten Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der zur Annahme eines von diesem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat geführt hat, sofern diese Zuständigkeit nicht wegen des Ablaufs einer der in diesem Art. 23 vorgesehenen Fristen auf diesen dritten Mitgliedstaat übergegangen ist.

87

Nach einem solchen Übergang der Zuständigkeit kann der Mitgliedstaat, in dem sich diese Person befindet, diese nicht in einen anderen Mitgliedstaat als den nunmehr zuständigen Mitgliedstaat überstellen. Er kann aber unter Beachtung der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Fristen ein Wiederaufnahmegesuch an diesen letztgenannten Mitgliedstaat richten.

Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21

88

Mit seiner zweiten Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, der nacheinander in drei Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, im Rahmen eines Rechtsmittels, das er nach Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung gegen eine Entscheidung des dritten dieser Mitgliedstaaten über seine Überstellung in den ersten dieser Mitgliedstaaten eingelegt hat, darauf berufen kann, dass nach dem Erlass dieser Überstellungsentscheidung die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags wegen des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist auf den zweiten dieser Mitgliedstaaten übergegangen ist.

89

Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor, dass einer Person, gegen die eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen diese Entscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht zusteht.

90

Der Umfang des Rechtsbehelfs wird im 19. Erwägungsgrund dieser Verordnung näher umschrieben. Danach soll der durch die Verordnung geschaffene wirksame Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, zum einen die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung und zum anderen die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird (Urteile vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 39, und vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 33).

91

In Anbetracht insbesondere der allgemeinen, mit dem Erlass der Dublin‑III-Verordnung eingetretenen Fortentwicklung des Systems zur Bestimmung des für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats sowie der mit dieser Verordnung verfolgten Ziele ist Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass der dort gegen eine Überstellungsentscheidung vorgesehene Rechtsbehelf auf die Beachtung sowohl der Regeln, nach denen die Zuständigkeit zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz übertragen wird, als auch der von der Verordnung vorgesehenen Verfahrensgarantien abzielen können muss (Urteile vom 2. April 2019, H. und R., C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 40, und vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 34).

92

Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass in Anbetracht zum einen des im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung erwähnten Ziels, im Einklang mit Art. 47 der Charta der Grundrechte einen wirksamen Schutz der Betroffenen zu gewährleisten, und zum anderen des im fünften Erwägungsgrund der Verordnung genannten Ziels, eine zügige Bestimmung des für die Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats sicherzustellen, der Antragsteller über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihm ermöglicht, sich auf nach dem Erlass der ihm gegenüber ergangenen Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände zu berufen, wenn deren Berücksichtigung für die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung entscheidend ist (Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93

Ein solcher wirksamer Rechtsbehelf muss dem Antragsteller auf internationalen Schutz insbesondere ermöglichen, sich in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet er sich befindet, gegenüber einem anderen ersuchenden Mitgliedstaat auf den Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist zu berufen, da aus Rn. 79 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass die Berücksichtigung des Ablaufs dieser Frist für die korrekte Anwendung dieser Verordnung entscheidend ist.

94

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten in Anwendung von Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung ihr Rechtsbehelfssystem nicht zwangsläufig so organisieren müssen, dass das Erfordernis, nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretene entscheidende Umstände zu berücksichtigen, im Rahmen der Prüfung der Klage, mit der die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung in Frage gestellt werden kann, gewährleistet wird, sofern im Rahmen des insgesamt betrachteten nationalen gerichtlichen Systems ein ausreichender gerichtlicher Rechtsschutz in anderer Form gewährleistet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 37 und 46).

95

Eine solche andere Form ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutzes muss der betreffenden Person praktisch die Möglichkeit garantieren, zu erreichen, dass die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich diese Person befindet, diese Person nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen können, wenn der Ablauf der Frist für die Überstellung gegenüber einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat bedeutet, dass dieser der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat geworden ist. Dieser Rechtsbehelf muss auch sicherstellen, dass die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich diese Person befindet, verpflichtet sind, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um unverzüglich die Konsequenzen aus dem Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu ziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 47).

96

Infolgedessen ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑323/21 und C‑325/21 zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, gelesen im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung, sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen sind, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nacheinander in drei Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, im dritten dieser Mitgliedstaaten über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der ihm ermöglicht, sich darauf zu berufen, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist auf den zweiten dieser Mitgliedstaaten übergegangen ist.

Kosten

97

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Rechtssachen C‑323/21, C‑324/21 und C‑325/21 werden zu gemeinsamem Urteil verbunden.

 

2.

Die Art. 23 und 29 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

sind dahin auszulegen, dass,

wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem ersuchten Mitgliedstaat und einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat zu laufen begonnen hat, die Zuständigkeit für die Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs dieser Frist auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, auch wenn diese Person in der Zwischenzeit in einem dritten Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der zur Annahme eines von diesem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat geführt hat, sofern diese Zuständigkeit nicht wegen des Ablaufs einer der in diesem Art. 23 vorgesehenen Fristen auf diesen dritten Mitgliedstaat übergegangen ist.

Nach einem solchen Übergang der Zuständigkeit kann der Mitgliedstaat, in dem sich diese Person befindet, diese nicht in einen anderen Mitgliedstaat als den nunmehr zuständigen Mitgliedstaat überstellen. Er kann aber unter Beachtung der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Fristen ein Wiederaufnahmegesuch an diesen letztgenannten Mitgliedstaat richten.

 

3.

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013, gelesen im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung, sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nacheinander in drei Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, im dritten dieser Mitgliedstaaten über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der ihm ermöglicht, sich darauf zu berufen, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist auf den zweiten dieser Mitgliedstaaten übergegangen ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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