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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62021CJ0528

    Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 27. April 2023.
    M. D. gegen Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság&
    xd; Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága&
    xd; .
    Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Art. 20 AEUV – Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 5, 11 und 13 – Unmittelbare Wirkung – Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines minderjährigen Unionsbürgers ist – Gefahr für die nationale Sicherheit – Nichtberücksichtigung der individuellen Situation dieses Drittstaatsangehörigen – Weigerung, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Wirkungen des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt werden – Folgen.
    Rechtssache C-528/21.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2023:341

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

    27. April 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Art. 20 AEUV – Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 5, 11 und 13 – Unmittelbare Wirkung – Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines minderjährigen Unionsbürgers ist – Gefahr für die nationale Sicherheit – Nichtberücksichtigung der individuellen Situation dieses Drittstaatsangehörigen – Weigerung, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Wirkungen des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt werden – Folgen“

    In der Rechtssache C‑528/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 19. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. August 2021, in dem Verfahren

    M. D.

    gegen

    Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richterin L. S. Rossi, des Richters S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei,

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

    Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte im Beistand von K. A. Jáger als Sachverständigen,

    der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, A. Katsimerou, E. Montaguti, Zs. Teleki und A. Tokár, als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. November 2022

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 5, 11 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M. D. und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága (Nationale Generaldirektion der Ausländerpolizei, Regionaldirektion Budapest und Komitat Pest, Ungarn) (im Folgenden: Ausländerbehörde) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der diese Behörde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen M. D. erlassen hat.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    SDÜ

    3

    Art. 25 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 (ABl. 2010, L 85, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: SDÜ) bestimmt:

    „(1)   Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so ruft er systematisch die Daten im Schengener Informationssystem ab. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so konsultiert er vorab den ausschreibenden Mitgliedstaat und berücksichtigt dessen Interessen; der Aufenthaltstitel wird nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen.

    Wird der Aufenthaltstitel erteilt, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück, wobei es ihm unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

    (2)   Stellt sich heraus, dass der Drittausländer, der über einen von einer der Vertragsparteien erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, konsultiert die ausschreibende Vertragspartei die Vertragspartei, die den Aufenthaltstitel erteilt hat, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen.

    Wird der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht die ausschreibende Vertragspartei die Ausschreibung zurück, wobei es ihr unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

    …“

    Verordnung (EG) Nr. 1987/2006

    4

    Art. 34 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 4) bestimmt:

    „1.   Der ausschreibende Mitgliedstaat ist für die Richtigkeit und Aktualität der Daten sowie die Rechtmäßigkeit der Eingabe in das SIS II verantwortlich.

    2.   Die Änderung, Ergänzung, Berichtigung, Aktualisierung oder Löschung der Daten darf nur durch den ausschreibenden Mitgliedstaat vorgenommen werden.

    …“

    Richtlinie 2008/115

    5

    In den Erwägungsgründen 2, 22 und 24 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

    „(2)

    Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

    (22)

    In Übereinstimmung mit dem [am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen] Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 sollten die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Richtlinie insbesondere das ‚Wohl des Kindes‘ im Auge behalten. In Übereinstimmung mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sollte bei der Umsetzung dieser Richtlinie der Schutz des Familienlebens besonders beachtet werden.

    (24)

    Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta … verankert sind.“

    6

    Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

    a)

    die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

    b)

    die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“

    7

    Art. 3 Nrn. 3 und 6 der Richtlinie sieht vor:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

    3.

    ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

    deren Herkunftsland oder

    ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

    ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

    6.

    ‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht“.

    8

    Art. 5 der Richtlinie lautet:

    „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

    a)

    das Wohl des Kindes,

    b)

    die familiären Bindungen,

    c)

    den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

    und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

    9

    Art. 6 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

    „(1)   Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

    (2)   Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

    (6)   Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“

    10

    Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie lautet:

    „Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

    11

    Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

    „Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

    12

    Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

    „Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

    a)

    falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

    b)

    falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

    In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.“

    13

    Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 lautet:

    „(1)   Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.

    (2)   Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“

    Ungarisches Recht

    Gesetz Nr. I

    14

    § 33 des 2007. évi I. törvény a szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen) vom 18. Dezember 2006 (Magyar Közlöny 2007/1.) (im Folgenden: Gesetz Nr. I) bestimmt:

    „Das Recht auf Einreise und Aufenthalt der in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallenden Personen darf nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur aufgrund eines persönlichen Verhaltens des Betroffenen beschränkt werden, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die nationale Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit darstellt.“

    15

    § 42 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:

    „Die Ausweisung darf nicht gegen einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des [Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] oder einen Familienangehörigen eines solchen Staatsangehörigen angeordnet werden, der

    a)

    sich seit mehr als zehn Jahren rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet aufhält oder

    b)

    minderjährig ist, es sei denn, die Ausweisung erfolgt im Interesse des Minderjährigen.“

    Gesetz Nr. II

    16

    § 43 des A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) vom 18. Dezember 2006 (Magyar Közlöny 2007/1.) (im Folgenden: Gesetz Nr. II) sieht vor:

    „(1)   Die Ausländerbehörde erlässt ein eigenständiges Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen einen sich an einem unbekannten Ort oder im Ausland aufhältigen Drittstaatsangehörigen,

    a)

    bezüglich dessen sich Ungarn völkerrechtlich verpflichtet hat, das Einreise- und Aufenthaltsverbot durchzusetzen;

    b)

    gegen den der Rat der Europäischen Union ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot erlassen hat;

    c)

    dessen Einreise und Aufenthalt die nationale Sicherheit, die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung beeinträchtigen oder gefährden würde;

    (3)   Die Initiative für ein eigenständiges Einreise- und Aufenthaltsverbot aus dem in Abs. 1 Buchst. c … genannten Grund kann auch von den im Regierungsdekret bezeichneten Strafverfolgungsorganen in ihrem Zuständigkeitsbereich zur Erfüllung der Aufgaben ergriffen werden, die mit dem Schutz der gesetzlich festgelegten Interessen verbunden sind. Werden das eigenständige Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Ausweisung aus den in Abs. 1 Buchst. c … genannten Gründen angeordnet, so schlagen die im Regierungsdekret bezeichneten Strafverfolgungsorgane in den Fällen, die ihre Aufgaben und Zuständigkeiten berühren, die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots vor. Die Ausländerbehörde darf vom Inhalt des Vorschlags nicht abweichen.“

    17

    § 44 Abs. 1 des Gesetzes bestimmt:

    „Die Dauer des eigenständigen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 43 Abs. 1 Buchst. a und b richtet sich nach der Dauer der Verpflichtung oder des Verbots, die bzw. das der Entscheidung zugrunde liegt. Die Dauer des eigenständigen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 43 Abs. 1 Buchst. c bis f wird von der Ausländerbehörde, die die Entscheidung trifft, festgelegt, beträgt höchstens drei Jahre und kann gegebenenfalls um höchstens drei weitere Jahre verlängert werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird unverzüglich aufgehoben, wenn der Grund für seinen Erlass weggefallen ist.“

    18

    § 45 Abs. 1 des Gesetzes lautet:

    „(1)   Bevor die Ausländerbehörde gegen einen Drittstaatsangehörigen, der aufgrund seiner familiären Bindungen über einen Aufenthaltstitel verfügt, die Ausweisung anordnet, berücksichtigt sie folgende Aspekte:

    a)

    die Dauer des Aufenthalts;

    b)

    das Alter und die familiäre Situation des Drittstaatsangehörigen sowie die etwaigen Folgen seiner Ausweisung für seine Familienangehörigen;

    c)

    die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu Ungarn und das Fehlen von Beziehungen zu seinem Herkunftsland.“

    19

    § 87/B Abs. 4 des Gesetzes lautet:

    „Die mit der Sache befasste Ausländerbehörde ist in Bezug auf Fachfragen an die Stellungnahme der Fachbehörde gebunden.“

    Änderungsgesetz

    20

    § 17 des 2018 évi CXXXIII. törvény az egyes migrációs tárgyú és kapcsolódó törvények módosításáról (Gesetz Nr. CXXXIII von 2018 zur Änderung einiger die Migration betreffender Gesetze und einiger ergänzender Gesetze) vom 21. Dezember 2018 (Magyar Közlöny 2018/208.) (im Folgenden: Änderungsgesetz) trat am 1. Januar 2019 in Kraft. Er lautet:

    „Das Gesetz Nr. I wird durch folgenden § 94 ergänzt:

    ‚§ 94   (1) In Verfahren, die Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige ungarischer Staatsbürger sind, betreffen und die nach dem Inkrafttreten des [Änderungsgesetzes] eingeleitet oder wiederholt werden, sind die Bestimmungen des Gesetzes Nr. II anzuwenden.

    (4) Die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte eines Drittstaatsangehörigen, der als Familienangehöriger eines ungarischen Staatsangehörigen über eine gültige Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte verfügt, wird eingezogen,

    b)

    wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns beeinträchtigt.

    (5) Bei den in Abs. 4 Buchst. b genannten Fachfragen sind die benannten Fachbehörden nach den Vorschriften des Gesetzes Nr. II über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zur Einholung einer fachlichen Stellungnahme zu kontaktieren.

    …‘“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    21

    M. D. ist ein Drittstaatsangehöriger, der 2002 nach Ungarn eingereist ist. Er ließ sich mit seiner Mutter sowie mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen im Jahr 2016 geborenen minderjährigen Kind, die beide ungarische Staatsangehörige sind, in diesem Mitgliedstaat nieder. M. D. sorgt für den Unterhalt dieser drei Personen. Er arbeitete in einer Bäckerei, die er selbst betrieb. Er besitzt vier weitere Bäckereien in Ungarn; der Sitz seines Unternehmens ist in der Slowakei.

    22

    Am 31. Mai 2003 wurde M. D. ein Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet erteilt. Dieser Aufenthaltstitel wurde mehrfach verlängert.

    23

    Am 12. Juni 2018 stellte M. D. einen Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte, der von der in erster Instanz entscheidenden Ausländerbehörde abgelehnt wurde. Da M. D. wegen der Straftat des Einschleusens von Personen durch Beihilfe zum nicht genehmigten Grenzübertritt zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, stellte diese Behörde einen Antrag unter dem Aspekt der nationalen Sicherheit, woraufhin das Alkotmányvédelmi Hivatal (Amt für Verfassungsschutz, Ungarn) in einer Stellungnahme die Ansicht vertrat, dass das Verhalten von M. D. als tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit anzusehen sei.

    24

    Mit Entscheidung vom 27. August 2018 stellte die Ausländerbehörde fest, dass das Aufenthaltsrecht von M. D. erloschen sei. Diese Entscheidung wurde durch eine zweitinstanzliche Entscheidung derselben Behörde vom 26. November 2018 bestätigt. Beide Entscheidungen wurden auf die in der vorstehenden Randnummer angeführte Stellungnahme des Amtes für Verfassungsschutz gestützt.

    25

    Am 3. Januar 2019 erließ die Ausländerbehörde eine Rückkehrentscheidung gegen M. D. und verhängte gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren. Diese Entscheidung wurde jedoch am 18. Februar 2019 wegen Verstoßes gegen § 42 Abs. 1 des Gesetzes Nr. I zurückgenommen.

    26

    Mit Urteil vom 28. Mai 2019 hob das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) die Entscheidung der Ausländerbehörde vom 26. November 2018 auf und erstreckte die Wirkungen dieser Aufhebung auf die Entscheidung dieser Behörde vom 27. August 2018, wobei es zur Begründung anführte, dass die Behörde nicht nachgewiesen habe, dass die kumulativen Voraussetzungen nach § 33 des Gesetzes Nr. I erfüllt gewesen seien, da sie ihre Entscheidung auf eine Stellungnahme des Amtes für Verfassungsschutz gestützt habe, die an dem in Rede stehenden Verfahren nicht als Fachbehörde beteiligt gewesen sei. Außerdem habe die Ausländerbehörde nicht alle Umstände des konkreten Falles gewürdigt, was sie hätte tun müssen, auch wenn M. D. eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung dargestellt habe. Des Weiteren gab dieses Gericht der Ausländerbehörde auf, im Rahmen eines neuen Verfahrens sämtliche Umstände des konkreten Falles und insbesondere den Umstand zu prüfen, dass M. D. und seine Lebensgefährtin mit ihrem gemeinsamen minderjährigen Kind, einem ungarischen Staatsangehörigen, in Ungarn ein Familienleben begründet hätten.

    27

    Im Anschluss an dieses neue Verfahren zog die Ausländerbehörde mit Entscheidung vom 29. August 2019 die Aufenthaltskarte von M. D. ein, wobei sie sich auf eine Stellungnahme des Amtes für Verfassungsschutz und des Pest Megyei Rendőr-főkapitányság (Hauptkommissariat des Komitats Pest, Ungarn) stützte, wonach das persönliche Verhalten von M. D. eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Die in zweiter Instanz entscheidende Ausländerbehörde bestätigte diese Entscheidung und wies u. a. darauf hin, dass sie nach § 87/B Abs. 4 des Gesetzes Nr. II, der seit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes anwendbar sei, nicht von dieser Stellungnahme abweichen dürfe.

    28

    Das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) wies die von M. D. gegen diese Entscheidung erhobene Klage ab.

    29

    Die Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) bestätigte dieses Urteil und vertrat die Auffassung, dass die vorgelegten Daten ausreichend gewesen seien für den Nachweis, dass der Aufenthalt von M. D. in Ungarn eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstelle und dass angesichts des Vorliegens dieser Gefahr die Beurteilung der persönlichen Situation von M. D. nicht zu einer positiven Beurteilung von dessen Antrag habe führen können.

    30

    Am 14. Oktober 2020 erließ die Ausländerbehörde gegen M. D. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von drei Jahren und gab eine Ausschreibung in Bezug auf dieses Verbot in das Schengener Informationssystem (im Folgenden: SIS) ein.

    31

    Die Behörde vertrat die Auffassung, dass M. D. nach § 94 Abs. 1 des Gesetzes Nr. I, der durch das Änderungsgesetz in dieses Gesetz eingefügt worden sei, in den Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. II falle. Außerdem wies sie darauf hin, dass das Amt für Verfassungsschutz die Ausweisung von M. D. sowie den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen ihn für die Dauer von zehn Jahren empfehle. Sie wies außerdem darauf hin, dass M. D. von den slowakischen Behörden eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von zwei Jahren ab dem 26. Februar 2019 erteilt worden sei.

    32

    In Anbetracht dessen war die Ausländerbehörde der Ansicht, dass das Verhalten von M. D. eine Gefahr für die nationale Sicherheit Ungarns darstelle.

    33

    Dem in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten, gegen M. D. erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbot ging keine Rückkehrentscheidung voraus, da M. D. das ungarische Hoheitsgebiet am 24. September 2020 verlassen hatte.

    34

    Das vorlegende Gericht, das mit einer von M. D. gegen dieses Einreise- und Aufenthaltsverbot erhobenen Klage befasst ist, betont erstens, dass dieses Verbot, obwohl es erlassen worden sei, als M. D. sich nicht mehr in Ungarn aufgehalten habe, als Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 anzusehen sei.

    35

    Dieses Gericht weist zum einen darauf hin, dass die M. D. von den slowakischen Behörden erteilte Aufenthaltserlaubnis wegen des genannten Einreise- und Aufenthaltsverbots und der Ausschreibung von M. D. im SIS nicht habe verlängert werden können, und zum anderen darauf, dass M. D. zum Zeitpunkt der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens in Österreich gewohnt habe und nicht nach Ungarn habe zurückkehren können, da die Ausländerbehörde sich geweigert habe, der rechtskräftigen Anordnung, mit der dieses Gericht die Wirkungen des in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt habe, zu befolgen.

    36

    Zweitens führt das vorlegende Gericht aus, dass mit dem Gesetz Nr. I zwar die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) umgesetzt worden sei, der Anwendungsbereich dieses Gesetzes sich aber u. a. auf Drittstaatsangehörige erstreckt habe, die Familienangehörige eines ungarischen Staatsangehörigen seien, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht habe. So habe dieses Gesetz diesen Drittstaatsangehörigen erlaubt, sich in Ungarn unter denselben Bedingungen aufzuhalten wie Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige von Staatsangehörigen von EWR‑Mitgliedstaaten seien, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten. Mit dem am 1. Januar 2019 in Kraft getretenen Änderungsgesetz seien jedoch Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines ungarischen Staatsangehörigen seien, vom Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. I ausgenommen worden, und das Gesetz Nr. II – das bis dahin nur die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen geregelt habe, die nicht Familienangehörige eines Staatsangehörigen eines EWR-Mitgliedstaats seien – sei für ihre Einreise und ihren Aufenthalt anwendbar geworden.

    37

    Gemäß § 17 des Änderungsgesetzes gelte das Gesetz Nr. II auch für Verfahren, die, wie im vorliegenden Fall, nach dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes wiederholt worden seien. Gemäß dem Gesetz Nr. II könne die Aufenthalts- oder Daueraufenthaltskarte eines Drittstaatsangehörigen aber leichter eingezogen werden als unter der Geltung des Gesetzes Nr. I, insbesondere wenn das Verhalten des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns beeinträchtige. Daher müsse in einem solchen Fall die Ausweisung des betreffenden Drittstaatsangehörigen angeordnet werden, ohne dass dessen familiäre oder persönliche Umstände berücksichtigt würden.

    38

    Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 11. März 2021, État belge (Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen) (C‑112/20, EU:C:2021:197), entschieden habe, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 24 der Charta die Mitgliedstaaten verpflichte, vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt.

    39

    Drittens betont das vorlegende Gericht, dass die ungarischen Staatsangehörigen, die Familienangehörige von M. D. seien, ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union nicht ausgeübt hätten, so dass M. D. ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht weder auf die Richtlinie 2004/38 noch auf Art. 21 AEUV stützen könne.

    40

    Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass im Fall des sofortigen Vollzugs der aus Gründen der nationalen Sicherheit angeordneten Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen auch die Familienangehörigen dieses Drittstaatsangehörigen, die, wie im vorliegenden Fall, über die Unionsbürgerschaft verfügten, das ungarische Hoheitsgebiet verlassen müssten, da andernfalls die Familieneinheit dauerhaft aufgelöst würde, da der Grund der nationalen Sicherheit auch der Erteilung eines Visums entgegenstehe. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, könne aber die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger sei, ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen, der ein Mitglied seiner Familie sei, zu begleiten und das Gebiet der Union zu verlassen.

    41

    Keine Bestimmung des ungarischen Rechts sehe vor, dass die persönlichen und familiären Umstände vor der Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen Drittstaatsangehörige, die nicht über einen Aufenthaltstitel verfügten, zu prüfen seien. M. D. befinde sich somit nicht nur in einer ungünstigeren Lage als Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers seien, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, sondern auch in einer ungünstigeren Lage als Drittstaatsangehörige, die nicht Familienangehörige eines Unionsbürgers seien, da die Situation der letztgenannten Drittstaatsangehörigen durch die durch das Gesetz Nr. II umgesetzten Richtlinien geregelt werde, die aber nicht für Drittstaatsangehörige gälten, die wie M. D. Familienangehörige eines Unionsbürgers seien.

    42

    Viertens fragt sich das vorlegende Gericht, ob, falls die neue ungarische Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar sein sollte und es keine andere spezifische nationale Regelung gebe, § 42 Abs. 1 des Gesetzes Nr. I, der bis zum 1. Januar 2019 auf M. D. anwendbar gewesen sei, berücksichtigt werden könne, oder ob es das nationale Recht unangewendet lassen und seine Entscheidung unmittelbar auf die Richtlinie 2008/115 stützen könne.

    43

    Schließlich stellt das vorlegende Gericht fest, dass es keine Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Weigerung der Ausländerbehörde gebe, einer Anordnung wie derjenigen nachzukommen, mit der es die Aussetzung des in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen M. D. angeordnet habe.

    44

    Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 und Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7, 20, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die vorschreibt, die Änderung der Rechtsvorschrift, in deren Folge der drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers einer erheblich strengeren Verfahrensregelung unterworfen wird, auch auf in früher eingeleiteten Verfahren angeordnete wiederholte Verfahren anzuwenden, und zwar so weit, dass er seine bisherige, in Bezug auf die Dauer seines Aufenthalts erreichte Rechtsstellung, dass er nicht einmal aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Sicherheit ausgewiesen werden kann, verliert, und daraufhin aufgrund desselben Sachverhalts und Gründen der nationalen Sicherheit sein Antrag auf eine Daueraufenthaltskarte abgelehnt wird, die ihm ausgestellte Aufenthaltskarte eingezogen wird, gegen ihn sodann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt wird, ohne dass in einem Verfahren seine persönlichen und familiären Umstände abgewogen werden würden, damit zusammenhängend insbesondere der Umstand, dass es auch eine von ihm Unterhalt beziehende minderjährige Person ungarischer Staatsangehörigkeit gibt, für die infolge der Entscheidungen sich entweder der Familienverband auflöst oder die Familienangehörigen des Drittstaatsangehörigen mit Unionsbürgerschaft, unter ihnen ein minderjähriges Kind, verpflichtet wären, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen?

    2.

    Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 und Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, in deren Rahmen vor Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots die persönlichen und familiären Umstände des Drittstaatsangehörigen unter Verweis darauf nicht geprüft werden, dass der Aufenthalt eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle?

    Falls die erste oder die zweite Frage bejaht wird:

    3.

    Sind Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 20 und 47 der Charta sowie der 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, der die Verpflichtung, insbesondere das Wohl des Kindes im Auge zu behalten, vorschreibt, sowie der 24. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, der die Wahrung der Grundrechte und Grundsätze, die in der Charta verankert sind, vorschreibt, dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es aufgrund einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union feststellt, dass das mitgliedstaatliche Recht bzw. die darauf aufbauende Praxis der Ausländerbehörde gegen Unionsrecht verstößt, bei der Prüfung der Rechtsgrundlage der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im vorliegenden Fall als erworbenes Recht des Klägers berücksichtigen kann, dass der Kläger während der Geltungsdauer des Gesetzes Nr. I die notwendige Bedingung für die Anwendung des § 42 dieses Gesetzes, d. h. den mehr als zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Ungarn, erreichte, oder dass bei der Prüfung der Begründetheit der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wegen des Fehlens einer Regelung zur Abwägung der familiären und persönlichen Umstände im Gesetz Nr. II Art. 5 der Richtlinie 2008/115 unmittelbar anzuwenden ist?

    4.

    Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, nach der die Ausländerbehörde in einem Verfahren, in dem ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, von seinem Recht auf einen Rechtsbehelf Gebrauch macht, die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der der sofortige Rechtsschutz gegen die Vollstreckung des Einreise- und Aufenthaltsverbots angeordnet wird, unter Verweis darauf nicht vollstreckt, dass eine Ausschreibung zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung im SIS bereits angeordnet worden sei, so dass der drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers sein Recht auf einen Rechtsbehelf nicht persönlich ausüben kann und vor der endgültigen Entscheidung in seinem Fall während des Verfahrens nicht nach Ungarn einreisen kann, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 gewährleisteten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf ein unparteiisches Gericht, vereinbar?

    Verfahren vor dem Gerichtshof

    45

    Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

    46

    Mit Entscheidung vom 16. September 2021 hat die Fünfte Kammer auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dass dem Antrag, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, nicht stattzugeben ist.

    47

    Am 1. Oktober 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, dass die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs mit Vorrang entschieden wird.

    Zu den Vorlagefragen

    Zur Zulässigkeit

    48

    Nach Ansicht der ungarischen Regierung sind die Vorlagefragen für unzulässig zu erklären, da sie zum einen darauf abzielten, zu klären, ob das Unionsrecht dem entgegenstehe, dass M. D. das Recht auf Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet entzogen worden sei, obwohl dieser Entzug nicht Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits sei, und zum anderen darauf, die Richtlinie 2008/115 auszulegen, obwohl das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie falle, da es ergangen sei, nachdem M. D. das ungarische Hoheitsgebiet verlassen gehabt habe.

    49

    Insoweit ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    50

    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen und der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das ihm übermittelte Auskunftsersuchen zum einen, dass dieses Gericht nur die Rechtmäßigkeit des gegen M. D. verhängten Einreise- und Aufenthaltsverbots zu prüfen hat, da die Entscheidung, mit der diesem Drittstaatsangehörigen das Recht auf Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet entzogen wurde, bestandskräftig geworden ist, und zum anderen, dass dieses Einreise- und Aufenthaltsverbot für das gesamte Unionsgebiet gilt.

    51

    Daraus folgt, dass die Vorlagefragen, wie die ungarische Regierung geltend macht, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nur insoweit zweckdienlich sind, als sie das gegen M. D. verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot betreffen, und dass sie daher nur insoweit zulässig sind.

    52

    Was hingegen die Zweckdienlichkeit einer Auslegung der Richtlinie 2008/115 im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass, wenn wie in der vorliegenden Rechtssache nicht offensichtlich ist, dass die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, der Einwand der Unanwendbarkeit dieser Bestimmung auf das Ausgangsverfahren nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern den Inhalt der Fragen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juli 2022, ASADE,C‑436/20, EU:C:2022:559, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    Zur Beantwortung der Vorlagefragen

    Zur ersten und zur zweiten Frage

    53

    Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 7, 20, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet mit der Begründung zu erlassen, dass das Verhalten dieses Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstelle, ohne dass die persönliche und familiäre Situation dieses Drittstaatsangehörigen geprüft würde.

    54

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die ungarische Regierung der Ansicht ist, dass die anwendbare ungarische Regelung es erlaube, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die persönliche und familiäre Situation eines Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, bevor gegen ihn ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet erlassen wird.

    55

    Das vorlegende Gericht stellt die Vorlagefragen zur Auslegung des Unionsrechts, wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt, jedoch in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Daher muss die Prüfung eines Vorabentscheidungsersuchens in Ansehung der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung des nationalen Rechts erfolgen und nicht derjenigen, auf die sich die Regierung eines Mitgliedstaats beruft (Urteil vom 20. Oktober 2022, Centre public d’action sociale de Liège [Rücknahme oder Aussetzung einer Rückkehrentscheidung], C‑825/21, EU:C:2022:810, Rn. 35).

    56

    Daraus folgt, dass bei der Beantwortung der ersten und der zweiten Frage von der – allerdings vom vorlegenden Gericht zu überprüfenden – Prämisse auszugehen ist, dass das nationale Recht es in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht erlaubt, die persönliche und familiäre Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, bevor gegen ihn ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet erlassen wird.

    – Zu Art. 20 AEUV

    57

    Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss der Rechte verwehrt wird, die ihnen dieser Status verleiht (Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 42, und vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers), C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 37).

    58

    Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status als Unionsbürger verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, sowie vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 45).

    59

    Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Urteile vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 52, und vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    60

    Zweitens kann ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet, das gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, erlassen wird, ebenso wie die Verweigerung oder der Verlust eines Rechts zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dazu führen, dass dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, verwehrt wird, wenn dieses Einreiseverbot den Unionsbürger aufgrund des zwischen diesen Personen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses de facto zwingt, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um seinen Familienangehörigen – den Drittstaatsangehörigen, gegen den das Einreiseverbot erlassen wurde – zu begleiten (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 32).

    61

    Im vorliegenden Fall stehen dem minderjährigen Kind von M. D. ebenso wie der Mutter dieses Kindes als Unionsbürgern die in Art. 20 AEUV verankerten Rechte zu. Daher kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das gegen M. D. erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot dazu führt, dass diesen Unionsbürgern de facto der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Dies wäre dann der Fall, wenn zwischen M. D. und seinem minderjährigen Kind oder seiner Lebensgefährtin für die Zwecke der Anwendung von Art. 20 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof ein Abhängigkeitsverhältnis bestünde, das das minderjährige Kind oder die Lebensgefährtin de facto dazu zwingen würde, ebenfalls das Unionsgebiet zu verlassen (vgl. u. a. Urteile vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 65 und 71 bis 75, sowie vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 56 sowie 64 bis 69).

    62

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass M. D. nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm sein Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet entzogen wurde, über ein Recht auf Aufenthalt in der Slowakei verfügte. Diese Entziehung konnte daher das minderjährige Kind von M. D. und dessen Lebensgefährtin, die Mutter dieses Kindes, offenbar nicht de facto zwingen, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, da nichts darauf hindeutet, dass es diesen Unionsbürgern unmöglich gewesen wäre, sich rechtmäßig in der Slowakei aufzuhalten.

    63

    Auf der Grundlage der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ist daher nicht gewiss, dass der Entzug des Aufenthaltstitels von M. D. durch die ungarischen Behörden gegen Art. 20 AEUV verstoßen haben könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 34 und 35).

    64

    Dagegen haben die ungarischen Behörden M. D. durch den Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots, dessen Wirkung einen europäischen Zuschnitt hat, jedes Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten genommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 42).

    65

    Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der einen Familienangehörigen hat, der Unionsbürger sowie Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, die Einreise in das Unionsgebiet nicht verbieten kann, ohne dass das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art zwischen dem Drittstaatsangehörigen und diesem Familienangehörigen geprüft wurde. Vielmehr haben die zuständigen nationalen Behörden u. a. auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und – sofern notwendig – nach Vornahme der erforderlichen Ermittlungen zu beurteilen, ob zwischen diesen beiden Personen ein solches Abhängigkeitsverhältnis besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers), C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 53).

    66

    Drittens ist darauf hinzuweisen, dass M. D. sein Recht auf Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet mit der Begründung entzogen wurde, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, und dass der Erlass eines Verbots der Einreise in das und des Aufenthalts im Unionsgebiet gegen ihn auf denselben Grund gestützt wurde.

    67

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von Rn. 58 des vorliegenden Urteils von dem sich aus Art. 20 AEUV ergebenden abgeleiteten Aufenthaltsrecht abweichen können, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. Dies kann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche oder nationale Sicherheit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    68

    Wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darf eine solche Abweichung jedoch nicht allein auf die Vorstrafen des betreffenden Drittstaatsangehörigen gestützt werden. Sie kann sich gegebenenfalls nur aus einer konkreten Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände des konkreten Falles – im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, u. a. des Wohles des minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist – ergeben. So kann die zuständige nationale Behörde u. a. die Schwere der begangenen Straftaten und den Schweregrad der entsprechenden Verurteilungen sowie die Zeitspanne berücksichtigen, die zwischen diesen Verurteilungen und der von ihr getroffenen Entscheidung liegt. Ergibt sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Drittstaatsangehörigen und einem minderjährigen Unionsbürger daraus, dass zwischen ihnen ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht, sind auch das Alter und der Gesundheitszustand sowie die familiäre und wirtschaftliche Situation dieses minderjährigen Unionsbürgers zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    69

    Steht fest, dass zwischen dem betroffenen Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art besteht, so kann der betreffende Mitgliedstaat diesem Drittstaatsangehörigen die Einreise in das und den Aufenthalt im Unionsgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit daher nur unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände, darunter das Wohl von dessen minderjährigem Kind, das Unionsbürger ist, verbieten.

    70

    Nach alledem verwehrt es Art. 20 AEUV einem Mitgliedstaat, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen.

    – Zur Richtlinie 2008/115

    71

    Erstens ist zu prüfen, ob ein Einreiseverbot für das gesamte Unionsgebiet, das ein Mitgliedstaat gegen einen Drittstaatsangehörigen erlässt, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, wenn es, wie im vorliegenden Fall, ergeht, nachdem der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verlassen hat, ohne dass eine ihn betreffende Rückkehrentscheidung erlassen worden wäre.

    72

    Insoweit geht erstens aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass mit dieser eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Wie sich sowohl aus ihrem Titel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, werden durch diese Richtlinie „gemeinsame Normen und Verfahren“ geschaffen, die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    73

    Vorbehaltlich der in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Ausnahmen, die in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar zu sein scheinen, findet diese Richtlinie auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung. Wenn ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    74

    Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 wiederum sieht vor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    75

    Aus Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 geht jedoch hervor, dass einem Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, aber über ein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, die Möglichkeit gegeben werden muss, sich in den zuletzt genannten Mitgliedstaat zu begeben, statt ihm gegenüber von vornherein eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit erfordern dies (Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 35).

    76

    Schließlich müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ein Einreiseverbot erlassen, wenn der Drittstaatsangehörige, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist oder wenn ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt worden ist, was nach Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie der Fall sein kann, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 86). Für andere Fälle ergibt sich aus Art. 11 Abs. 1, dass die Mitgliedstaaten eine Rückkehrentscheidung mit einem solchen Einreiseverbot verbinden können.

    77

    Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass ein mögliches Einreiseverbot ein Mittel bildet, um die Effizienz der Rückkehrpolitik der Union zu erhöhen. Denn es gewährleistet, dass ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach seiner Abschiebung während eines bestimmten Zeitraums nicht legal in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zurückkehren kann (Urteil vom 17. September 2020, JZ [Freiheitsstrafe bei Verstoß gegen ein Einreiseverbot], C‑806/18, EU:C:2020:724, Rn. 32).

    78

    Zweitens bedeutet der Umstand, dass, wie im vorliegenden Fall, gegen einen Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot erlassen worden ist, ohne dass er zuvor Adressat einer Rückkehrentscheidung gewesen wäre, nicht zwangsläufig, dass dieses Einreiseverbot nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt.

    79

    Zwar ergibt sich aus Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass der Erlass eines Einreiseverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen grundsätzlich nicht denkbar ist, ohne dass gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergangen ist.

    80

    Im vorliegenden Fall geht jedoch aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Entscheidung, mit der Ungarn M. D. die Einreise in das Unionsgebiet mit der Begründung untersagte, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstelle, im Anschluss an die Entscheidung erlassen wurde, mit der dieser Mitgliedstaat ihm aus demselben Grund sein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entzogen hatte.

    81

    Aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 selbst ergibt sich aber, dass in einem solchen Fall der Mitgliedstaat, in dem sich der Drittstaatsangehörige illegal aufhält, verpflichtet ist, diesem gegenüber eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, selbst wenn der Drittstaatsangehörige über ein Recht zum Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 48).

    82

    Insoweit ist unerheblich, dass, wie die ungarische Regierung geltend gemacht hat, das Fehlen einer solchen Rückkehrentscheidung im vorliegenden Fall durch die Komplexität des durch die nationale Regelung eingeführten Entscheidungsprozesses zu erklären ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich ein Mitgliedstaat nämlich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung seiner aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (Urteile vom 8. September 2010, Carmen Media Group, C‑46/08, EU:C:2010:505, Rn. 69, und vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien [Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich], C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    83

    Daher liefe es dem Ziel und der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2008/115 zuwider, nähme man an, dass ein gegen einen Drittstaatsangehörigen aus Gründen des Schutzes der nationalen Sicherheit erlassenes Verbot der Einreise in das Unionsgebiet deshalb nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, weil gegen diesen Drittstaatsangehörigen nicht zuvor eine Rückkehrentscheidung ergangen ist.

    84

    Ginge man in einem solchen Fall davon aus, dass die Richtlinie 2008/115 auf ein solches Einreiseverbot keine Anwendung findet, würden diesem Drittstaatsangehörigen in unzulässiger Weise die materiell- und verfahrensrechtlichen Garantien vorenthalten, die die Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie zu beachten haben, wenn sie beabsichtigen, ein solches Einreiseverbot zu erlassen.

    85

    Dieses Ergebnis wird durch das Urteil vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis (C‑546/19, EU:C:2021:432), nicht in Frage gestellt, da sich die Situation in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, von der hier im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation unterscheidet. Das in jenem Urteil in Rede stehende Einreiseverbot war nämlich aufrechterhalten worden, obwohl die damit einhergehende Rückkehrentscheidung aufgehoben worden war.

    86

    Drittens genügt auch der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen wurde, nicht mehr illegal im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der diese Entscheidung erlassen hat, aufhältig war, nicht, um dieses Einreiseverbot vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 auszunehmen.

    87

    Zum einen soll nämlich, wie in Rn. 77 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ein solches Verbot den betreffenden Drittstaatsangehörigen daran hindern, nach Verlassen des Unionsgebiets in dieses zurückzukehren. Zum anderen erlaubt Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 zwar, dass gleichzeitig eine Rückkehrentscheidung ergeht und ein Einreiseverbot erlassen wird, doch verpflichtet er keineswegs dazu. Ein Einreiseverbot fällt somit nicht allein deshalb aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie heraus, weil es nach der Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erlassen wird.

    88

    Daher ist festzustellen, dass ein Einreiseverbot wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende als Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 anzusehen ist und dass beim Erlass eines solchen Einreiseverbots die in dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien zu beachten sind.

    89

    Zweitens verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115 – der eine allgemeine Regel darstellt, die für die Mitgliedstaaten verbindlich ist, sobald sie diese Richtlinie umsetzen (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 55) – die Mitgliedstaaten, das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen gebührend zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung besteht für die Mitgliedstaaten daher auch, wenn sie beabsichtigen, ein Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Richtlinie zu erlassen.

    90

    Ferner ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesem Art. 5 vor Erlass eines Einreiseverbots das Wohl des Kindes in gebührender Weise zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, État belge [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 43).

    91

    Folglich steht dieser Art. 5 dem Erlass eines Einreiseverbots im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegen, wenn nicht zuvor dessen Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden sind.

    92

    Nach alledem sind die erste und die zweite Frage wie folgt zu beantworten:

    Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen;

    Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung hätte ergehen müssen, unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung, mit der ihm aus Gründen der nationalen Sicherheit sein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats entzogen wurde, aus denselben Gründen ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet erlassen wird, ohne dass zuvor sein Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden wären.

    Zur dritten Frage

    93

    Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 20 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sich ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist, auf eine frühere nationale Regelung stützen kann, oder ob es dann verpflichtet ist, diesen Art. 5 unmittelbar anzuwenden.

    94

    Erstens kann sich der Einzelne nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteile vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 103, und vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    95

    Eine Unionsvorschrift ist zum einen unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und zum anderen hinreichend genau, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt. Außerdem kann eine Bestimmung einer Richtlinie auch dann, wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass der Durchführungsvorschriften lässt, als unbedingt und genau angesehen werden, wenn sie den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist (Urteile vom 19. Januar 1982, Becker, 8/81, EU:C:1982:7, Rn. 25, und vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 18 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    96

    Im vorliegenden Fall beruht die Frage des vorlegenden Gerichts auf der Prämisse, dass der ungarische Gesetzgeber die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Garantien verkannt hat, indem er von der zuständigen nationalen Behörde nicht verlangt, den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen sowie gegebenenfalls dessen familiäre Bindungen und das Wohl seines Kindes in gebührender Weise zu berücksichtigen, bevor er gegen diesen Drittstaatsangehörigen aus Gründen der nationalen Sicherheit ein Einreiseverbot erlässt.

    97

    Hierzu ist festzustellen, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115, soweit er die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Gesichtspunkte bei der Umsetzung dieser Richtlinie in gebührender Weise zu berücksichtigen, hinreichend genau und unbedingt ist, um anzunehmen, dass ihm unmittelbare Wirkung zukommt. Ein Einzelner kann sich daher auf diese Bestimmung berufen, und sie kann von den Verwaltungsbehörden und Gerichten der Mitgliedstaaten angewandt werden.

    98

    Insbesondere wenn ein Mitgliedstaat sein Ermessen durch den Erlass einer Regelung überschreitet, die nicht gewährleistet, dass die zuständige nationale Behörde den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen sowie gegebenenfalls dessen familiäre Bindungen und das Wohl seines Kindes in gebührender Weise berücksichtigt, muss sich dieser Drittstaatsangehörige gegenüber einer solchen Regelung unmittelbar auf Art. 5 der Richtlinie berufen können (vgl. entsprechend Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 30).

    99

    Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts u. a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Allerdings hat die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmte Grenzen und darf insbesondere nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteile vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 47, und vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    100

    Es ist auch darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61, sowie vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    101

    Wenn sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat, der Art. 5 der Richtlinie 2008/115 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, auf diese Bestimmung beruft, obliegt es diesem Gericht daher, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung des Unionsrechts, der unmittelbare Wirkung zukommt, Sorge zu tragen und, wenn es die nationale Regelung nicht im Einklang mit diesem Art. 5 auslegen kann, diejenigen nationalen Bestimmungen, die mit diesem Art. 5 unvereinbar sind, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.

    102

    Um die volle Wirksamkeit der Verpflichtung zur gebührenden Berücksichtigung des Gesundheitszustands des betreffenden Drittstaatsangehörigen sowie gegebenenfalls seiner familiären Bindungen und des Kindeswohls zu gewährleisten, hat das nationale Gericht, das mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das auf der Grundlage einer nationalen Regelung erlassen wurde, die nicht in einer Weise ausgelegt werden kann, dass sie mit den Anforderungen von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Einklang steht, zu prüfen, ob es sich darauf beschränken kann, nur den Teil dieser Regelung unangewendet zu lassen, aus dem die Unmöglichkeit folgen würde, diese Anforderungen gebührend zu berücksichtigen. Andernfalls wäre das nationale Gericht verpflichtet, diese Regelung insgesamt unangewendet zu lassen und seine Entscheidung unmittelbar auf Art. 5 zu stützen.

    103

    Dagegen kann die Art. 5 der Richtlinie 2008/115 zuerkannte unmittelbare Wirkung ein nationales Gericht, das eine gegen diesen Art. 5 verstoßende nationale Regelung unangewendet gelassen hat, nicht dazu verpflichten, eine frühere nationale Regelung anzuwenden, die zusätzliche Garantien zu den sich aus Art. 5 ergebenden Garantien gewähren würde.

    104

    Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist und die nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, diese Regelung unangewendet lassen muss, soweit sie gegen diese Bestimmung verstößt, und, wenn dies zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit dieser Bestimmung erforderlich ist, diese unmittelbar auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwenden muss.

    Zur vierten Frage

    105

    Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das SIS eingegeben worden sei.

    106

    Im vorliegenden Fall geht insbesondere aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das vorlegende Gericht am 31. März 2021 die Aussetzung der Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots angeordnet hat, und zwar sowohl wegen seiner Absicht, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, als auch wegen der nachteiligen Folgen der Vollstreckung dieses Verbots für M. D. sowie für dessen minderjähriges Kind und seine Lebensgefährtin.

    107

    Nach dieser einleitenden Klarstellung ist erstens darauf hinzuweisen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügt, um u. a. die Rechtmäßigkeit des gegen ihn erlassenen Einreiseverbots in Frage zu stellen. Nach Abs. 2 dieses Art. 13 muss es der zuständigen Behörde oder dem zuständigen Gremium, die bzw. das mit einem solchen Rechtsbehelf befasst ist, möglich sein, die Vollstreckung eines solchen Einreiseverbots einstweilig auszusetzen, sofern eine solche Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.

    108

    Somit verlangt Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 zwar nicht, dass ein Rechtsbehelf gegen ein Einreiseverbot aufschiebende Wirkung haben müsste, doch muss, wenn ein Mitgliedstaat eine solche Aussetzung kraft Gesetzes nicht vorsieht, die für die Prüfung dieses Rechtsbehelfs zuständige Behörde oder das dafür zuständige Gremium über die Möglichkeit verfügen, die Vollstreckung dieses Verbots auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Mai 2021, CPAS de Liège, C‑641/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:374, Rn. 22).

    109

    Es liefe der praktischen Wirksamkeit dieser Bestimmung zuwider, wenn es einer Verwaltungsbehörde gestattet wäre, die Anwendung einer Entscheidung zu verweigern, mit der ein Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen ein Einreiseverbot befasst ist, die Vollstreckung dieses Verbots ausgesetzt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 55 bis 59 und 66). Im Übrigen wäre das in Art. 47 der Charta verankerte und in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 konkretisierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf illusorisch, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zum Nachteil einer Partei wirkungslos bleibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 52, und vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 35 und 36).

    110

    Der Umstand, dass der betreffende Mitgliedstaat bezüglich des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots bereits eine Ausschreibung in das SIS eingegeben hat, kann die in der vorstehenden Randnummer gezogene Schlussfolgerung nicht entkräften. Nach Art. 34 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1987/2006 steht es diesem Mitgliedstaat nämlich frei, in das SIS eingegebene Daten zu löschen, u. a. nachdem eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der die Vollstreckung des Einreiseverbots, das die Ausschreibung rechtfertigte, ausgesetzt wurde.

    111

    Außerdem erfordert die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nach ständiger Rechtsprechung, dass ein mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes Gericht einstweilige Anordnungen erlassen kann, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung sicherzustellen, wenn es beschließt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Folglich wäre die Wirksamkeit des mit Art. 267 AEUV geschaffenen Systems beeinträchtigt, wenn die Verbindlichkeit dieser einstweiligen Anordnungen insbesondere von einer Behörde des Mitgliedstaats, in dem diese Anordnungen ergangen sind, missachtet werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 142).

    112

    Nach alledem ist Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das SIS eingegeben worden sei.

    Kosten

    113

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass

    er es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen.

     

    2.

    Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger

    ist dahin auszulegen, dass

    er dem entgegensteht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung hätte ergehen müssen, unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung, mit der ihm aus Gründen der nationalen Sicherheit sein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats entzogen wurde, aus denselben Gründen ein Verbot der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union erlassen wird, ohne dass zuvor sein Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden wären.

     

    3.

    Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass

    ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist und die nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, diese Regelung unangewendet lassen muss, soweit sie gegen diese Bestimmung verstößt, und, wenn dies zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit dieser Bestimmung erforderlich ist, diese unmittelbar auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwenden muss.

     

    4.

    Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

    ist dahin auszulegen, dass

    er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das Schengener Informationssystem eingegeben worden sei.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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