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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62020CJ0604

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 20. Oktober 2022.
    ROI Land Investments Ltd gegen FD.
    Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 6 – Beklagter, der keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat – Art. 17 – Zuständigkeit bei Verbrauchersachen – Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit – Art. 21 – Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge – Begriff des Arbeitgebers – Unterordnungsverhältnis – Verordnung (EG) Nr. 593/2008 – Anwendbares Recht – Art. 6 – Individualarbeitsvertrag – Zwischen einem Arbeitnehmer und einem dritten Unternehmen geschlossene Patronatsvereinbarung, mit der die Erfüllung der Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber gesichert wird.
    Rechtssache C-604/20.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2022:807

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    20. Oktober 2022 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 6 – Beklagter, der keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat – Art. 17 – Zuständigkeit bei Verbrauchersachen – Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit – Art. 21 – Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge – Begriff des Arbeitgebers – Unterordnungsverhältnis – Verordnung (EG) Nr. 593/2008 – Anwendbares Recht – Art. 6 – Individualarbeitsvertrag – Zwischen einem Arbeitnehmer und einem dritten Unternehmen geschlossene Patronatsvereinbarung, mit der die Erfüllung der Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber gesichert wird“

    In der Rechtssache C‑604/20

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2020, in dem Verfahren

    ROI Land Investments Ltd

    gegen

    FD

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

    Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von FD, vertreten durch Rechtsanwältin N. von Kirchbach,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller, M. Wilderspin und W. Wils als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1, von Art. 17 Abs. 1 sowie von Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) sowie von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6, im Folgenden: Rom‑I-Verordnung).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ROI Land Investments Ltd (im Folgenden: ROI Land) und FD wegen der Weigerung dieser Gesellschaft – die nach einer Patronatsvereinbarung gegenüber FD für die Verpflichtungen aus einem Arbeitsvertrag zwischen FD und einer Tochtergesellschaft von ROI Land haftet –, Forderungen zu begleichen, die sich aus diesem Arbeitsvertrag ergeben.

    Rechtlicher Rahmen

    Verordnung Nr. 1215/2012

    3

    In den Erwägungsgründen 4, 14, 15 und 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

    „(4)

    Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zu gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.

    (14)

    Beklagte ohne Wohnsitz in einem Mitgliedstaat sollten im Allgemeinen den einzelstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften unterliegen, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gelten, in dem sich das angerufene Gericht befindet. Allerdings sollten einige Zuständigkeitsvorschriften in dieser Verordnung unabhängig vom Wohnsitz des Beklagten gelten, um den Schutz der Verbraucher und der Arbeitnehmer zu gewährleisten, um die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten in Fällen zu schützen, in denen sie ausschließlich zuständig sind, und um die Parteiautonomie zu achten.

    (15)

    Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.

    (18)

    Bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.“

    4

    Art. 4 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „(1)   Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.

    (2)   Auf Personen, die nicht dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, angehören, sind die für Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats maßgebenden Zuständigkeitsvorschriften anzuwenden.“

    5

    Art. 6 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „(1)   Hat der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, so bestimmt sich vorbehaltlich des Artikels 18 Absatz 1, des Artikels 21 Absatz 2 und der Artikel 24 und 25 die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Mitgliedstaats nach dessen eigenem Recht.

    (2)   Gegenüber einem Beklagten, der keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann sich unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit jede Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, in diesem Mitgliedstaat auf die dort geltenden Zuständigkeitsvorschriften … wie ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats berufen.“

    6

    In Kapitel II Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“) der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt Art. 17 Abs. 1 Buchst. c:

    „Bilden ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6 und des Artikels 7 Nummer 5 nach diesem Abschnitt,

    c)

    … wenn der andere Vertragspartner in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Mitgliedstaat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Mitgliedstaats, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.“

    7

    Im selben Abschnitt 4 bestimmt Art. 18 Abs. 1:

    „Die Klage eines Verbrauchers gegen den anderen Vertragspartner kann entweder vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet dieser Vertragspartner seinen Wohnsitz hat, oder ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des anderen Vertragspartners vor dem Gericht des Ortes, an dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.“

    8

    Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung Nr. 1215/2012 enthält u. a. deren Art. 20 und 21. Art. 20 bestimmt:

    „(1)   Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6, des Artikels 7 Nummer 5 und, wenn die Klage gegen den Arbeitgeber erhoben wurde, des Artikels 8 Nummer 1 nach diesem Abschnitt.

    (2)   Hat der Arbeitgeber, mit dem der Arbeitnehmer einen individuellen Arbeitsvertrag geschlossen hat, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats keinen Wohnsitz, besitzt er aber in einem Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus ihrem Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hätte.“

    9

    Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „(1)   Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

    b)

    in einem anderen Mitgliedstaat

    i)

    vor dem Gericht des Ortes, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, oder

    ii)

    wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet oder befand.

    (2)   Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann vor dem Gericht eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 Buchstabe b verklagt werden.“

    10

    Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „Gesellschaften und juristische Personen haben für die Anwendung dieser Verordnung ihren Wohnsitz an dem Ort, an dem sich

    a)

    ihr satzungsmäßiger Sitz,

    b)

    ihre Hauptverwaltung oder

    c)

    ihre Hauptniederlassung befindet.“

    11

    Art. 80 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] wird durch diese Verordnung aufgehoben. Bezugnahmen auf die aufgehobene Verordnung gelten als Bezugnahmen auf die vorliegende Verordnung und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle in Anhang III zu lesen.“

    Rom-I-Verordnung

    12

    Im siebten Erwägungsgrund der Rom-I-Verordnung heißt es:

    „Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der [Verordnung Nr. 44/2001] … und der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (‚Rom II‘) [(ABl. 2007, L 199, S. 40)] … im Einklang stehen.“

    13

    Art. 6 („Verbraucherverträge“) der Rom-I-Verordnung bestimmt in Abs. 1:

    „(1) Unbeschadet der Artikel 5 und 7 unterliegt ein Vertrag, den eine natürliche Person zu einem Zweck, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann („Verbraucher“), mit einer anderen Person geschlossen hat, die in Ausübung ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt („Unternehmer“), dem Recht des Staates, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern der Unternehmer

    a)

    seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit in dem Staat ausübt, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

    b)

    eine solche Tätigkeit auf irgend einer Weise auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet

    und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    14

    ROI Land, eine Gesellschaft mit Sitz in Kanada, ist im Immobiliengeschäft tätig.

    15

    FD, der seinen Wohnsitz in Deutschland hat, war für ROI Land seit September 2015 als „Deputy Vice President Investors Relations“ (stellvertretender Vizepräsident Finanzkommunikation) tätig. Nachdem FD und ROI Land beschlossen hatten, ihr Vertragsverhältnis auf eine noch zu gründende Schweizer Gesellschaft zu „überführen“, vereinbarten sie im November 2015 die rückwirkende Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

    16

    Am 14. Januar 2016 wurde dann nach Schweizer Recht die R Swiss AG gegründet. Muttergesellschaft dieser neuen Gesellschaft ist ROI Land.

    17

    Am 12. Februar 2016 schloss FD mit R Swiss einen schriftlichen Arbeitsvertrag (im Folgenden: in Rede stehender Arbeitsvertrag) über eine Tätigkeit als deren Direktor. Der Vertrag sah die Zahlung einer Antrittsprämie an FD in Höhe von 170000 US-Dollar (USD) (rund 153000 Euro) sowie – neben weiteren Leistungen – ein monatliches Entgelt von 42500 USD (rund 38000 Euro) vor. FD vereinbarte mit ROI Land ferner ein auf den 1. Oktober 2015 rückdatiertes „loan agreement“ (Darlehensvertrag), das die Gewährung eines Darlehens in Höhe von 170000 USD (rund 153000 Euro) an ihn zum Gegenstand hat. Zweck dieses Vertrags sollte es sein, die FD aus dem Arbeitsvertrag für vier Monate zustehende Vergütung in eine an ROI Land zurückzuzahlende Darlehenssumme umzuwidmen, wobei der entsprechende Betrag FD in Gestalt der von R Swiss zu leistenden Antrittsprämie unter Anwendung Schweizer Steuer- und Abgabenrechts zufließen sollte.

    18

    Am selben Tag unterzeichneten FD und ROI Land eine Vereinbarung, nach der ROI Land gegenüber FD unmittelbar für die Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag mit der R Swiss haftet (im Folgenden: Patronatsvereinbarung). Die Vereinbarung enthielt folgende Bestimmungen:

    „§ 1

    [ROI Land] hat eine Tochtergesellschaft, [R Swiss,] für den Vertrieb in Europa gegründet. Der Direktor ist die geschäftsführende Führungskraft dieses Unternehmens. In Übereinstimmung mit dieser Annahme erklärt [ROI Land] [F]olgendes:

    § 2

    [ROI Land] verfügt über die umfassende Verantwortlichkeit für die Erfüllung der Verpflichtungen in Bezug auf die Verträge [von R Swiss] aufgrund der Zusammenarbeit von dessen Direktor mit [R Swiss].“

    19

    Am 11. Juli 2016 kündigte R Swiss das Arbeitsverhältnis mit FD. FD focht diese Kündigung beim Arbeitsgericht Stuttgart (Deutschland) an, in dessen Bezirk der Ort, nämlich Stuttgart, liegt, an dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtete. Das Arbeitsgericht Stuttgart stellte durch rechtskräftiges Urteil vom 2. November 2016 die Unwirksamkeit der Kündigung fest. Zudem verurteilte es R Swiss, an FD als Antrittsprämie 255000 USD (rund 230000 Euro) sowie als Vergütung für April bis August 2016 212500 USD (rund 191000 Euro) zu zahlen. Diesem Urteil kam R Swiss nicht nach. Ein Anfang März 2017 über das Vermögen von R Swiss nach Schweizer Recht eröffnetes Konkursverfahren wurde „mangels Aktiven“ eingestellt.

    20

    FD erhob daraufhin eine weitere Klage bei den deutschen Gerichten, deren Zuständigkeit seiner Auffassung nach jedenfalls aufgrund der besonderen Zuständigkeit bei Verbrauchersachen gegeben ist. Mit dieser Klage nimmt FD ROI Land insbesondere auf Zahlung der mit dem Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 2. November 2016 gegen R Swiss titulierten Geldforderungen sowie auf Zahlung von 595000 USD (rund 536000 Euro) wegen ihm für die Monate von September 2016 bis November 2017 seitens R Swiss geschuldeter Vergütung in Anspruch. Seine Klage stützte FD auf die Patronatsvereinbarung.

    21

    Das Arbeitsgericht Stuttgart wies diese Klage mit der Begründung, dass es international nicht zuständig sei, als unzulässig ab. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Deutschland) änderte das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart auf die Berufung von FD ab und gab der Klage statt. Es bejahte dabei die Zuständigkeit der deutschen Gerichte. ROI Land legte dagegen beim vorlegenden Gericht, dem Bundesarbeitsgericht (Deutschland), Revision ein. Das Bundesarbeitsgericht fragt sich, ob die deutschen Gerichte für die Klage von FD zuständig sind und welches Recht bejahendenfalls auf das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.

    22

    Was dieses Rechtsverhältnis angeht, so weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es sich bei der Patronatsvereinbarung um einen einseitig verpflichtenden Vertrag handele, auf den sich FD berufen könne, ohne dass vorher ein Ausfall von R Swiss festgestellt werden müsse, dass ROI Land nicht in die Rechtsstellung von R Swiss als Arbeitgeberin des in Rede stehenden Arbeitsvertrags eingerückt sei und dass ohne die Patronatsvereinbarung kein Arbeitsvertrag von FD mit R Swiss zustande gekommen wäre.

    23

    Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 und Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer eine juristische Person, die nicht sein Arbeitgeber ist und die ihren Wohnsitz im Sinne von Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, die dem Arbeitnehmer gegenüber jedoch aufgrund einer Patronatsvereinbarung unmittelbar für Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag mit einem Dritten haftet, vor dem Gericht des Ortes verklagen kann, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Arbeit im Arbeitsverhältnis mit dem Dritten gewöhnlich verrichtet oder zuletzt verrichtet hat, wenn ohne die Patronatsvereinbarung der Arbeitsvertrag mit dem Dritten nicht zustande gekommen wäre?

    2.

    Ist Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass der Vorbehalt hinsichtlich Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 die Anwendung einer nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats bestehenden Zuständigkeitsregelung ausschließt, die es dem Arbeitnehmer ermöglicht, eine juristische Person, die ihm gegenüber unter wie in der ersten Frage beschriebenen Umständen für Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag mit einem Dritten unmittelbar haftet, als „Rechtsnachfolger“ des Arbeitgebers am Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsortes zu verklagen, wenn eine solche Zuständigkeit nach Art. 21 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 nicht vorliegt?

    3.

    Falls die erste Frage verneint und die zweite Frage bejaht wird:

    a)

    Ist Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass der Begriff der „beruflichen Tätigkeit“ die abhängige Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis umfasst?

    b)

    Ist bejahendenfalls Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass eine Patronatsvereinbarung, auf deren Grundlage eine juristische Person für Ansprüche eines Arbeitnehmers aus einem individuellen Arbeitsvertrag mit einem Dritten unmittelbar haftet, einen Vertrag bildet, den der Arbeitnehmer zu einem Zweck geschlossen hat, der seiner beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann?

    4.

    Sollte in Beantwortung der vorstehenden Fragen das vorlegende Gericht für die Entscheidung des Rechtsstreits international zuständig sein:

    a)

    Ist Art. 6 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen, dass der Begriff der „beruflichen Tätigkeit“ die abhängige Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis umfasst?

    b)

    Ist bejahendenfalls Art. 6 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen, dass eine Patronatsvereinbarung, auf deren Grundlage eine juristische Person gegenüber einem Arbeitnehmer für Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag mit einem Dritten unmittelbar haftet, einen Vertrag bildet, den der Arbeitnehmer zu einem Zweck geschlossen hat, der seiner beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann?

    Zu den Vorlagefragen

    Zu Frage 1

    24

    Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Arbeitnehmer eine Person mit oder ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, an die er durch keinen förmlichen Arbeitsvertrag gebunden ist, die ihm gegenüber aber aufgrund einer Patronatsvereinbarung, von der der Abschluss des Arbeitsvertrags mit einem Dritten abhing, unmittelbar für die Erfüllung der Ansprüche gegen diesen Dritten haftet, vor dem Gericht des Ortes verklagen kann, an dem oder von dem aus er zuletzt gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat.

    25

    Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/21 gehört zu Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung. Dieser Abschnitt enthält für Rechtsstreitigkeiten über Arbeitsverträge eine Reihe von Vorschriften, die, wie aus dem 18. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, die schwächere Vertragspartei durch Zuständigkeitsvorschriften schützen sollen, die für sie günstiger sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Petronas Lubricants Italy, C‑1/17, EU:C:2018:478, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    26

    Nach Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 kann ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht eines Mitgliedstaats gemäß Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung verklagt werden.

    27

    Nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 kann ein Arbeitgeber vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat.

    28

    Nach der zu Art. 19 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die in dieser Bestimmung enthaltenen Rechtsbegriffe, damit eine einheitliche Anwendung der mit der Verordnung aufgestellten Zuständigkeitsvorschriften in allen Mitgliedstaaten gewährleistet ist, autonom auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 47 und 48).

    29

    Da nach Art. 80 der Verordnung Nr. 1215/2012 die Verordnung Nr. 44/2001 durch die erstgenannte Verordnung aufgehoben und ersetzt wird, gilt die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001, soweit diese als „gleichwertig“ angesehen werden können, auch für die Verordnung Nr. 1215/2012 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Tibor-Trans, C‑451/18, EU:C:2019:635, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), zumal in deren Art. 80 klargestellt wird, dass „Bezugnahmen auf die … Verordnung [Nr. 44/2001] … als Bezugnahmen auf die … Verordnung [Nr. 1215/2012 gelten] und … nach Maßgabe der Entsprechungstabelle in Anhang III [der Verordnung Nr. 1215/2012] zu lesen [sind]“. Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 entspricht nach diesem Anhang III Art. 19 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001. Ebenso wie diese Bestimmung ist daher auch Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 autonom auszulegen.

    30

    Was Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 betrifft, so ist klarzustellen, dass diese Bestimmung, wie aus den Rn. 26 und 27 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Zuständigkeitsvorschriften für Gerichte festlegt, die mit Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber befasst werden, bei denen „ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens [bilden]“. Die Anwendung dieser Zuständigkeitsvorschriften setzt mithin ein Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber voraus.

    31

    Das wesentliche Merkmal des – anhand objektiver Kriterien definierten – Arbeitsverhältnisses besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, Bosworth und Hurley, C‑603/17, EU:C:2019:310, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    32

    Auch wenn das Fehlen eines förmlichen Vertrags dem Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses nicht entgegensteht, setzt ein Arbeitsverhältnis dennoch voraus, dass zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber ein Unterordnungsverhältnis besteht. Ob ein solches Unterordnungsverhältnis vorliegt, muss in jedem Einzelfall anhand aller Gesichtspunkte und aller Umstände geprüft werden, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, Bosworth und Hurley, C‑603/17, EU:C:2019:310, Rn. 26 und 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Insoweit ist festzustellen, dass der Umstand, dass eine Gesellschaft – wie im Ausgangsverfahren ROI Land – mit einem Arbeitnehmer lediglich eine Patronatsvereinbarung geschlossen hat, nicht bereits von vornherein ausschließt, dass sich der Arbeitnehmer gegenüber der betreffenden Gesellschaft in einem Unterordnungsverhältnis befunden hat.

    34

    Das vorlegende Gericht – das hierfür allein zuständig ist – wird nach Maßgabe aller dieser Gesichtspunkte die einschlägigen Überprüfungen hinsichtlich des Sachverhalts vorzunehmen und zu beurteilen haben, ob unter den in diesem Rechtsstreit gegebenen Umständen ein durch ein Unterordnungsverhältnis gekennzeichnetes Arbeitsverhältnis zwischen FD und ROI Land bestand.

    35

    Bei dieser Beurteilung sind insbesondere die Umstände relevant, unter denen FD mit ROI Land die Patronatsvereinbarung und mit R Swiss den in Rede stehenden Arbeitsvertrag geschlossen hat, wie etwa, dass vor dem Abschluss des in Rede stehenden Arbeitsvertrags FD durch einen anderen Arbeitsvertrag an ROI Land gebunden war und dass der in Rede stehende Arbeitsvertrag nicht zustande gekommen wäre, wenn sich ROI Land gegenüber FD nicht im Wege der Patronatsvereinbarung verpflichtet hätte, oder auch dass die Patronatsvereinbarung gerade dazu diente, zu garantieren, dass die Ansprüche von FD aus dem Arbeitsverhältnis erfüllt würden. Relevant ist auch der Umstand, dass sich durch den Abschluss der Verträge nichts an der Art der Tätigkeiten geändert hat, die FD zunächst für ROI Land und sodann für deren 100%ige Tochtergesellschaft R Swiss ausübte.

    36

    Somit ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Arbeitnehmer eine Person mit oder ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, an die er durch keinen förmlichen Arbeitsvertrag gebunden ist, die ihm gegenüber aber aufgrund einer Patronatsvereinbarung, von der der Abschluss des Arbeitsvertrags mit einem Dritten abhing, unmittelbar für die Erfüllung der Ansprüche gegen diesen Dritten haftet, vor dem Gericht des Ortes verklagen kann, an dem oder von dem aus er zuletzt gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat, wenn zwischen dieser Person und dem Arbeitnehmer ein Unterordnungsverhältnis besteht.

    Zu Frage 2

    37

    Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass der Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung es dem Gericht eines Mitgliedstaats selbst dann verwehrt, sich auf die Vorschriften dieses Mitgliedstaats über die gerichtliche Zuständigkeit zu berufen, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger wären.

    38

    Nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt sich, wenn der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vorbehaltlich des Art. 18 Abs. 1, des Art. 21 Abs. 2 und der Art. 24 und 25 der Verordnung die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Mitgliedstaats nach dessen eigenem Recht.

    39

    Nach Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 kann, worauf bereits in Rn. 26 dieses Urteils hingewiesen worden ist, ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht eines Mitgliedstaats gemäß Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung verklagt werden.

    40

    Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 gehört zu Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur besonderen, sondern abschließenden Charakter hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2008, Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline, C‑462/06, EU:C:2008:299, Rn. 18).

    41

    Demnach ist zum einen jeder Rechtsstreit über einen individuellen Arbeitsvertrag bei einem Gericht anhängig zu machen, das nach den in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehenen Zuständigkeitsvorschriften bestimmt wird, und zum anderen können diese Zuständigkeitsvorschriften nur insoweit durch andere in der Verordnung aufgestellte Zuständigkeitsvorschriften abgeändert oder ergänzt werden, als in einer Vorschrift, die zu Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung gehört, ausdrücklich auf diese verwiesen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2008, Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline, C‑462/06, EU:C:2008:299, Rn. 19).

    42

    Zum Zusammenspiel des einzelstaatlichen Rechts mit den Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung Nr. 1215/2012, wie es sich aus Art. 6 Abs. 1 der Verordnung ergibt, ist festzustellen, dass diese Bestimmung für Fälle, in denen der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, grundsätzlich die Anwendung der einzelstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften vorsieht. Die Verwendung des Ausdrucks „vorbehaltlich“ schließt von der Anwendung des einzelstaatlichen Rechts aber die Fälle aus, die unter die aufgeführten Vorschriften fallen. Wie der Generalanwalt in Nr. 83 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, handelt es sich dabei um eine abschließende Liste von Ausnahmen vom Grundsatz der Anwendung der innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften.

    43

    Diese Lesart wird durch den Zweck der Verordnung Nr. 1215/2012 bestätigt. Denn Beklagte ohne Wohnsitz in einem Mitgliedstaat unterliegen, wie sich aus Satz 1 des 14. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1215/2012 ergibt, im Allgemeinen den einzelstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gelten, in dem sich das angerufene Gericht befindet.

    44

    In Satz 2 dieses Erwägungsgrundes heißt es jedoch weiter, dass einige Zuständigkeitsvorschriften in der Verordnung unabhängig vom Wohnsitz des Beklagten gelten sollten, um den Schutz der Verbraucher und der Arbeitnehmer zu gewährleisten, um die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten in Fällen zu schützen, in denen sie ausschließlich zuständig sind, und um die Parteiautonomie zu achten. Was die Vorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Arbeitnehmer angeht, ist insoweit auf die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 abzustellen, die Zuständigkeitsvorschriften für Fälle enthalten, in denen der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat.

    45

    Wenn sich die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats nicht aus einer der in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 genannten besonderen Vorschriften wie etwa aus Art. 21 der Verordnung ergibt, steht es den Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung somit frei, bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts ihre einzelstaatlichen Vorschriften anzuwenden.

    46

    Ergibt sich die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats hingegen aus einer solchen besonderen Vorschrift, geht diese den einzelstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften vor, und zwar auch dann, wenn Letztere für den Arbeitnehmer günstiger wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Markt24, C‑804/19, EU:C:2021:134, Rn. 34).

    47

    Wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, steht diese Auslegung in Einklang mit dem im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 genannten Ziel, die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit zu vereinheitlichen, und dem im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 genannten Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften.

    48

    Somit ist auf Frage 2 zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass der Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung es dem Gericht eines Mitgliedstaats selbst dann verwehrt, sich, wenn die Anwendungsvoraussetzungen dieses Art. 21 Abs. 2 erfüllt sind, auf die Vorschriften dieses Mitgliedstaats über die gerichtliche Zuständigkeit zu berufen, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger wären. Sind hingegen weder die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 noch diejenigen der übrigen Vorschriften, die in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung aufgeführt werden, erfüllt, steht es dem Gericht nach dieser letztgenannten Bestimmung frei, bei der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit die genannten Vorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden.

    Zu den Fragen 3 und 4

    49

    Vorab ist klarzustellen, dass für das vorlegende Gericht die Beantwortung der Fragen 3 und 4 nur dann von Interesse ist, wenn es nach den Überprüfungen, die es vorzunehmen haben wird, zu dem Schluss gelangen sollte, dass zwischen FD und ROI Land kein Arbeitsverhältnis besteht, so dass der Fall von FD nicht unter Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 fiele.

    50

    Weiter ist festzustellen, dass der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen der Rom‑I-Verordnung nach deren siebten Erwägungsgrund mit der Verordnung Nr. 44/2001 im Einklang stehen sollten. Soweit die Verordnung Nr. 44/2001 durch die Verordnung Nr. 1215/2012 aufgehoben und ersetzt wurde, gilt dieses Ziel der Kohärenz auch in Bezug auf diese Verordnung (Urteil vom 10. Februar 2022, ShareWood Switzerland, C‑595/20, EU:C:2022:86, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    51

    Es bietet sich daher an, die Fragen 3 und 4 zusammen zu prüfen.

    52

    Das vorlegende Gericht möchte mit diesen Fragen im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 6 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen sind, dass der Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit nicht nur eine selbständige Tätigkeit umfasst, sondern auch eine abhängige Beschäftigung, und ob es sich bejahendenfalls, wenn im Rahmen einer solchen abhängigen Beschäftigung zwischen dem Arbeitnehmer und einer Person, die nicht der im Arbeitsvertrag genannte Arbeitgeber ist, eine Vereinbarung geschlossen wurde, nach der diese Person gegenüber dem Arbeitnehmer unmittelbar für Ansprüche gegen den Arbeitgeber aus dem Arbeitsvertrag haftet, bei einer solchen Vereinbarung um einen Vertrag handelt, der ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden ist.

    53

    Zum ersten Teil der Fragen 3 und 4, der die Frage betrifft, ob eine abhängige Beschäftigung unter den Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 6 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung fällt, ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nur Verträge, die eine Einzelperson ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen allein zu dem Zweck schließt, ihren Eigenbedarf beim privaten Verbrauch zu decken, unter die Sonderregelung fallen, die die Verordnung Nr. 1215/2012 und die Rom‑I-Verordnung zum Schutz des Verbrauchers – als dem als schwächer angesehenen Vertragspartner – vorsehen, wohingegen dieser Schutz nicht gerechtfertigt ist bei Verträgen, deren Zweck in einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2020, Personal Exchange International, C‑774/19, EU:C:2020:1015, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    54

    Nach dieser Rechtsprechung ist mithin nicht danach zu unterscheiden, ob es sich bei der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit um eine selbständige Tätigkeit oder eine abhängige Beschäftigung handelt. Es ist nach dieser Rechtsprechung lediglich zu ermitteln, ob der Vertrag ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden ist.

    55

    Eine abhängige Beschäftigung fällt also unter den Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 6 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung.

    56

    Was den zweiten Teil der Fragen 3 und 4 angeht, der die Einstufung einer Patronatsvereinbarung wie derjenigen, die zwischen FD und ROI Land geschlossen wurde, betrifft, so geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass die Patronatsvereinbarung im vorliegenden Fall untrennbar mit der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit von FD zusammenhängt: FD hätte den in Rede stehenden Arbeitsvertrag ohne die Patronatsvereinbarung nämlich nicht geschlossen.

    57

    In Anbetracht des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der in Rede stehenden Patronatsvereinbarung und dem in Rede stehenden Arbeitsvertrag kann, wie der Generalanwalt in Nr. 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht angenommen werden, dass die Patronatsvereinbarung ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden wäre.

    58

    Somit ist auf die Fragen 3 und 4 zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 6 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen sind, dass der Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit nicht nur eine selbständige Tätigkeit umfasst, sondern auch eine abhängige Beschäftigung. Bei einer zwischen dem Arbeitnehmer und einer Person, die nicht der im Arbeitsvertrag genannte Arbeitgeber ist, geschlossenen Vereinbarung, nach der diese Person gegenüber dem Arbeitnehmer unmittelbar für Ansprüche gegen den Arbeitgeber aus dem Arbeitsvertrag haftet, handelt es sich für die Anwendung dieser Vorschriften nicht um einen Vertrag, der ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden wäre.

    Kosten

    59

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

    ist wie folgt auszulegen:

    Ein Arbeitnehmer kann eine Person mit oder ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, an die er durch keinen förmlichen Arbeitsvertrag gebunden ist, die ihm gegenüber aber aufgrund einer Patronatsvereinbarung, von der der Abschluss des Arbeitsvertrags mit einem Dritten abhing, unmittelbar für die Erfüllung der Ansprüche gegen diesen Dritten haftet, vor dem Gericht des Ortes verklagen, an dem oder von dem aus er zuletzt gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat, wenn zwischen dieser Person und dem Arbeitnehmer ein Unterordnungsverhältnis besteht.

     

    2.

    Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012

    ist wie folgt auszulegen:

    Der Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung verwehrt es selbst dann dem Gericht eines Mitgliedstaats, sich, wenn die Anwendungsvoraussetzungen dieses Art. 21 Abs. 2 erfüllt sind, auf die Vorschriften dieses Mitgliedstaats über die gerichtliche Zuständigkeit zu berufen, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger wären. Sind hingegen weder die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 noch diejenigen der übrigen Vorschriften, die in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung aufgeführt werden, erfüllt, steht es dem Gericht nach dieser letztgenannten Bestimmung frei, bei der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit die genannten Vorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden.

     

    3.

    Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I)

    sind wie folgt auszulegen:

    Der Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit umfasst nicht nur eine selbständige Tätigkeit, sondern auch eine abhängige Beschäftigung. Bei einer zwischen dem Arbeitnehmer und einer Person, die nicht der im Arbeitsvertrag genannte Arbeitgeber ist, geschlossenen Vereinbarung, nach der diese Person gegenüber dem Arbeitnehmer unmittelbar für Ansprüche gegen den Arbeitgeber aus dem Arbeitsvertrag haftet, handelt es sich für die Anwendung dieser Vorschriften nicht um einen Vertrag, der ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden wäre.

     

    Jürimäe

    Safjan

    Piçarra

    Jääskinen

    Gavalec

    Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Oktober 2022.

    Der Kanzler

    A. Calot Escobar

    Die Kammerpräsidentin

    K. Jürimäe


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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