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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62021CJ0196

    Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 2. Juni 2022.
    SR gegen EW.
    Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Ilfov.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke – Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 – Art. 5 – Übersetzung des Schriftstücks – Übernahme der Übersetzungskosten durch den Antragsteller – Begriff des Antragstellers – Zustellung gerichtlicher Schriftstücke an Streithelfer auf Veranlassung des angerufenen Gerichts.
    Rechtssache C-196/21.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2022:427

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

    2. Juni 2022 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke – Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 – Art. 5 – Übersetzung des Schriftstücks – Übernahme der Übersetzungskosten durch den Antragsteller – Begriff des Antragstellers – Zustellung gerichtlicher Schriftstücke an Streithelfer auf Veranlassung des angerufenen Gerichts“

    In der Rechtssache C‑196/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Ilfov (Landgericht Ilfov, Rumänien) mit Entscheidung vom 4. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. März 2021, in dem Verfahren

    SR

    gegen

    EW,

    Beteiligte:

    FB,

    CX,

    IK,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer, des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),

    Generalanwalt: M. Szpunar,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von EW, vertreten durch S. Dumitrescu, Avocată,

    der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, L.‑E. Baţagoi und A. Wellman als Bevollmächtigte,

    der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und N. Vincent als Bevollmächtigte,

    der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan und S. Noë als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. 2007, L 324, S. 79).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SR und EW wegen der einvernehmlichen Auflösung ihrer Ehe sowie der Zuweisung und Ausübung der elterlichen Verantwortung für ihr minderjähriges Kind.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Die Erwägungsgründe 2 bis 4 der Verordnung Nr. 1393/2007 lauten:

    „(2)

    Für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts muss die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen, die in einem anderen Mitgliedstaat zugestellt werden sollen, zwischen den Mitgliedstaaten verbessert und beschleunigt werden.

    (3)

    Der Rat hat mit Rechtsakt vom 26. Mai 1997 … ein Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erstellt und das Übereinkommen den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfohlen. Dieses Übereinkommen ist nicht in Kraft getreten. Die bei der Aushandlung dieses Übereinkommens erzielten Ergebnisse sind zu wahren.

    (4)

    Am 29. Mai 2000 hat der Rat die Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten [(ABl. 2000, L 160, S. 37)] angenommen. Der wesentliche Inhalt des Übereinkommens hat in jene Verordnung Eingang gefunden.“

    4

    In Art. 2 dieser Verordnung heißt es:

    „(1)   Jeder Mitgliedstaat benennt die Amtspersonen, Behörden oder sonstigen Personen, die für die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke, die in einem anderen Mitgliedstaat zuzustellen sind, zuständig sind, im Folgenden ‚Übermittlungsstellen‘ genannt.

    (2)   Jeder Mitgliedstaat benennt die Amtspersonen, Behörden oder sonstigen Personen, die für die Entgegennahme gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke aus einem anderen Mitgliedstaat zuständig sind, im Folgenden ‚Empfangsstellen‘ genannt.

    …“

    5

    Art. 5 der Verordnung bestimmt:

    „(1)   Der Antragsteller wird von der Übermittlungsstelle, der er das Schriftstück zum Zweck der Übermittlung übergibt, davon in Kenntnis gesetzt, dass der Empfänger die Annahme des Schriftstücks verweigern darf, wenn es nicht in einer der in Artikel 8 genannten Sprachen abgefasst ist.

    (2)   Der Antragsteller trägt etwaige vor der Übermittlung des Schriftstücks anfallende Übersetzungskosten unbeschadet einer etwaigen späteren Kostenentscheidung des zuständigen Gerichts oder der zuständigen Behörde.“

    6

    Art. 8 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

    „Die Empfangsstelle setzt den Empfänger unter Verwendung des Formblatts in Anhang II davon in Kenntnis, dass er die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks bei der Zustellung verweigern oder das Schriftstück der Empfangsstelle binnen einer Woche zurücksenden darf, wenn das Schriftstück nicht in einer der folgenden Sprachen abgefasst oder keine Übersetzung in einer der folgenden Sprachen beigefügt ist:

    a)

    einer Sprache, die der Empfänger versteht,

    oder

    b)

    der Amtssprache des Empfangsmitgliedstaats oder, wenn es im Empfangsmitgliedstaat mehrere Amtssprachen gibt, der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Ortes, an dem die Zustellung erfolgen soll.“

    Rumänisches Recht

    7

    Art. 61 der Legea nr. 134/2010 privind Codul de procedură civilă (Gesetz Nr. 134/2010 über die Zivilprozessordnung) vom 1. Juli 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 247 vom 10. April 2015) bestimmt:

    „(1)   Wer ein Interesse hat, kann in einem Verfahren zwischen den ursprünglichen Parteien als Streithelfer auftreten.

    (3)   Eine Streithilfe ist akzessorisch, wenn sie nur die Verteidigung einer der Parteien unterstützt.“

    8

    Art. 64 des Gesetzes sieht vor:

    „(1)   Das Gericht stellt den Antrag auf Zulassung als Streithelfer und Kopien der dem Antrag beigefügten Unterlagen den Parteien zu.

    (2)   Nach Anhörung des Streithelfers und der Parteien entscheidet das Gericht über die grundsätzliche Zulässigkeit der Streithilfe durch mit Gründen versehenen Beschluss.

    …“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    9

    SR und EW sind Mutter und Vater eines minderjährigen Kindes.

    10

    Zu einem in der Vorlageentscheidung nicht angegebenen Zeitpunkt beantragten sowohl SR als auch EW bei der Judecătoria Buftea (Amtsgericht Buftea, Rumänien) die Auflösung ihrer Ehe, die Zuweisung der elterlichen Verantwortung für ihr Kind und die Festlegung der Modalitäten für deren Ausübung.

    11

    Mit Urteil vom 4. Juli 2016 erklärte dieses Gericht die Ehe von SR und EW für einvernehmlich aufgelöst. Es legte auch den Aufenthaltsort des Kindes am Wohnort der Mutter fest und entschied, dass die elterliche Verantwortung von beiden Elternteilen gemeinsam ausgeübt wird. Es wurde eine Besuchsregelung getroffen, um die persönlichen Beziehungen zwischen Vater und Kind aufrechtzuerhalten. Außerdem verurteilte das Gericht EW zur Zahlung von Kindesunterhalt.

    12

    Sowohl EW als auch SR haben gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Tribunalul Ilfov (Landgericht Ilfov, Rumänien), Berufung eingelegt.

    13

    EW beantragt in erster Linie, das Urteil wegen Unzuständigkeit des Gerichts aufzuheben und, hilfsweise, es in Bezug auf den Aufenthaltsort des Kindes und die Zahlung von Kindesunterhalt teilweise abzuändern.

    14

    SR beantragt, dass die elterliche Verantwortung ihr allein zugewiesen, die zugunsten von EW festgelegte Besuchsregelung aufgehoben und die Höhe des zu seinen Lasten festgesetzten Unterhalts geändert wird und die Kosten neu verteilt werden.

    15

    Am 5. Juli 2018 haben der Bruder FB, die Schwester CX und der Großvater väterlicherseits IK des Kindes beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung von EW zugelassen zu werden. Diese Streithelfer wohnen in Frankreich.

    16

    Mit Beschluss vom 15. September 2020 hat das vorlegende Gericht im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Anträge auf Zulassung als Streithelfer entschieden, dass SR und EW zu gewährleisten haben, dass die vom vorlegenden Gericht angeordneten Ladungen, die FB, CX und IK gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 zuzustellen sind, ins Französische übersetzt werden.

    17

    SR und EW haben sich geweigert, die Kosten der französischen Übersetzung dieser Verfahrensschriftstücke vorzustrecken, da sie ihrer Ansicht nach vom vorlegenden Gericht zu tragen sind. Bei der Anwendung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 sei das vorlegende Gericht als „Antragsteller“ anzusehen.

    18

    Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass sich der Begriff „Antragsteller“ im Sinne von Art. 5 der Verordnung Nr. 1393/2007 nicht auf ein Gericht beziehen könne. Ein Gericht könne nämlich nur als Übermittlungsstelle im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung oder als Empfangsstelle im Sinne von deren Art. 2 Abs. 2 handeln. Hier handele das vorlegende Gericht als Übermittlungsstelle, die für die Übermittlung der fraglichen gerichtlichen Schriftstücke, die in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Frankreich, zuzustellen seien, zuständig sei.

    19

    Aus Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 gehe hervor, dass der Begriff des Antragstellers ebenso wie der des Empfängers offenkundig vom Anwendungsbereich der Begriffe der Übermittlungsstelle und der Empfangsstelle ausgeschlossen seien. Da im Ausgangsverfahren das vorlegende Gericht die Übermittlungsstelle sei, könne es daher nicht als Antragsteller angesehen werden.

    20

    Der Antragsteller im Sinne der Verordnung Nr. 1393/2007 sei die Person, die den Antrag gestellt und ein Interesse daran habe, dass eine Zustellung gemäß dieser Verordnung vorgenommen werde, damit das gerichtliche Verfahren abgeschlossen werden könne. Im vorliegenden Fall handele es sich um SR und EW, da jede dieser Parteien beim vorlegenden Gericht Berufung eingelegt habe und daher grundsätzlich ein Interesse daran habe, dass das Berufungsverfahren abgeschlossen werden könne.

    21

    Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Ilfov (Landgericht Ilfov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Wenn das erkennende Gericht über die Ladung der Streithelfer in einem Zivilverfahren entscheidet und diese anordnet, ist dann das mitgliedstaatliche Gericht, das über die Ladung der Streithelfer oder der Prozesspartei in dem bei diesem Gericht anhängigen Verfahren entscheidet, „Antragsteller“ im Sinne von Art. 5 der Verordnung Nr. 1393/2007?

    Zur Vorlagefrage

    Zur Zulässigkeit

    22

    Die rumänische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da die Darstellung des Sachverhalts durch das vorlegende Gericht nicht erkennen lasse, ob sich im Ausgangsverfahren die Frage, ob die Übersetzung des Verfahrensschriftstücks erforderlich sei, und damit die Frage, ob dafür Kosten anfielen, konkret stellten.

    23

    Genauer gesagt gebe das vorlegende Gericht nicht an, ob die Ladungen den Streithelfern bereits zugestellt worden seien und ob diese die Annahme mit der Begründung verweigert hätten, dass sie nicht in einer Sprache abgefasst seien, die sie verstünden oder hinsichtlich deren zu erwarten sei, dass sie sie verstünden. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage hypothetisch und folglich unzulässig.

    24

    Der Gerichtshof habe bereits klargestellt, dass nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 die Übermittlungsstelle den Antragsteller auf die Gefahr einer etwaigen Verweigerung der Annahme durch den Empfänger eines nicht in einer der in Art. 8 der Verordnung genannten Sprachen abgefassten Schriftstücks hinzuweisen habe. Nach dem Urteil vom 16. September 2015, Alpha Bank Cyprus (C‑519/13, EU:C:2015:603, Rn. 35), obliege jedoch dem Antragsteller die Entscheidung, ob eine Übersetzung des betreffenden Schriftstücks erforderlich sei, deren Kosten er im Übrigen nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung zu tragen habe.

    25

    Insoweit ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 139 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    26

    Ferner führt wegen der Zusammenarbeit, die das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens bestimmt, das Fehlen bestimmter vorheriger Feststellungen durch das vorlegende Gericht nicht zwingend zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, wenn sich der Gerichtshof trotz dieser Unzulänglichkeiten in der Lage sieht, dem vorlegenden Gericht anhand der in der Akte enthaltenen Angaben eine sachdienliche Antwort zu geben (Urteil vom 2. April 2020, Reliantco Investments und Reliantco Investments Limassol Sucursala Bucureşti, C‑500/18, EU:C:2020:264, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    27

    Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof über ausreichende Anhaltspunkte, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben. Aus den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen von EW geht nämlich hervor, dass das vorlegende Gericht den Streithelfern bereits im Jahr 2019 Verfahrensschriftstücke zugestellt hat, deren Annahme die Streithelfer gemäß der Verordnung Nr. 1393/2007 mit der Begründung verweigert hätten, dass diese Schriftstücke in rumänischer Sprache abgefasst seien. Da sie diese Sprache nicht beherrschten, hätten sie beantragt, die Verfahrensschriftstücke in einer französischen Übersetzung zu erhalten.

    28

    Mit diesen von EW dargelegten Tatsachen lässt sich somit der vom vorlegenden Gericht geschilderte Sachverhalt – soweit erforderlich – vervollständigen, und damit bestätigen sie die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage, da ausgeschlossen ist, dass diese als hypothetisch angesehen werden kann.

    29

    Unter diesen Umständen ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

    Zur Beantwortung der Vorlagefrage

    30

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das die Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke an Dritte anordnet, die beantragt haben, in dem Verfahren als Streithelfer zugelassen zu werden, als der „Antragsteller“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

    31

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung der Antragsteller etwaige vor der Übermittlung des Schriftstücks anfallende Übersetzungskosten unbeschadet einer etwaigen späteren Kostenentscheidung des zuständigen Gerichts oder der zuständigen Behörde trägt.

    32

    Insoweit ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1393/2007 keine Definition des Begriffs des Antragstellers enthält.

    33

    Mangels einer solchen Definition ist Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 im Licht seines Zusammenhangs und der mit dieser Verordnung verfolgten Ziele auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2015, Alpha Bank Cyprus, C‑519/13, EU:C:2015:603, Rn. 28, sowie entsprechend zur Verordnung Nr. 1348/2000 Urteil vom 8. Mai 2008, Weiss und Partner, C‑14/07, EU:C:2008:264, Rn. 45). Auch die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift des Unionsrechts kann relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    34

    Erstens ist zur systematischen und historischen Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 festzustellen, dass diese Bestimmung schon ihrem Wortlaut nach zwischen dem Antragsteller, der etwaige vor der Übermittlung des Schriftstücks anfallende Übersetzungskosten trägt, und dem zuständigen Gericht bzw. der zuständigen Behörde unterscheidet, das bzw. die im Übermittlungsmitgliedstaat angerufen worden ist und später gegebenenfalls eine Kostenentscheidung erlassen kann.

    35

    Diese Unterscheidung zwischen dem Antragsteller und dem angerufenen nationalen Gericht ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung Nr. 1393/2007, insbesondere aus dem Urteil vom 16. September 2015, Alpha Bank Cyprus (C‑519/13, EU:C:2015:603, Rn. 41 bis 43), in dem der Gerichtshof hervorgehoben hat, dass das im Übermittlungsmitgliedstaat angerufene Gericht zum einen über inhaltliche Fragen zu entscheiden hat, sofern der Antragsteller und der Empfänger des Schriftstücks darüber unterschiedlicher Auffassung sind, und zum anderen für einen ausgewogenen Schutz der jeweiligen Rechte der betroffenen Parteien, nämlich des Antragstellers und des Empfängers des Schriftstücks, Sorge tragen muss.

    36

    Eine ähnliche Unterscheidung geht aus dem Beschluss vom 28. April 2016, Alta Realitat (C‑384/14, EU:C:2016:316, Rn. 75), hervor, in dem der Gerichtshof die Möglichkeit in Erwägung gezogen hat, dass das angerufene Gericht vor Einleitung des Verfahrens zur Zustellung des Schriftstücks eine erste vorläufige Beurteilung der Sprachkenntnisse des Empfängers vorzunehmen hat, um im Einvernehmen mit dem Antragsteller zu bestimmen, ob eine Übersetzung des Schriftstücks erforderlich ist.

    37

    Desgleichen ist festzustellen, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 eine Unterscheidung vornimmt, die der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten entspricht, wenn er bestimmt, dass der Antragsteller von der Übermittlungsstelle davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Empfänger die Annahme des übermittelten Schriftstücks verweigern darf, wenn es nicht in einer der in Art. 8 der Verordnung genannten Sprachen abgefasst ist. Übermittlungsstellen sind nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Amtspersonen, Behörden oder sonstige Personen, die für die Übermittlung gerichtlicher oder außergerichtlicher Schriftstücke, die in einem anderen Mitgliedstaat zuzustellen sind, zuständig sind. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall als Übermittlungsstelle handelt.

    38

    Ferner ergibt sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1393/2007, dass in der durch sie aufgehobenen Verordnung Nr. 1348/2000 der wesentliche Inhalt des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Eingang gefunden hat, das mit Rechtsakt des Rates der Europäischen Union vom 26. Mai 1997 (ABl. 1997, C 261, S. 1) angenommen wurde.

    39

    Der Erläuternde Bericht zu diesem Übereinkommen (ABl. 1997, C 261, S. 26), der für die Auslegung der Verordnung Nr. 1393/2007 relevant ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2015, Tecom Mican und Arias Domínguez, C‑223/14, EU:C:2015:744, Rn. 40, sowie entsprechend zur Verordnung Nr. 1348/2000 Urteil vom 8. Mai 2008, Weiss und Partner, C‑14/07, EU:C:2008:264, Rn. 53), bestätigt die Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007, nach der die Kosten der Übersetzung eines Schriftstücks nicht dem angerufenen Gericht auferlegt werden können.

    40

    Der Kommentar zu Art. 5 Abs. 2 des genannten Übereinkommens, dessen Wortlaut im Wesentlichen mit dem von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 übereinstimmt, in dem Erläuternden Bericht stellt nämlich klar, dass „mit dem Begriff ‚Antragsteller‘ in jedem Fall die an der Übermittlung des Schriftstücks interessierte Partei gemeint ist. Es kann sich daher nicht um ein Gericht handeln.“

    41

    Demnach ergibt sich aus der systematischen und historischen Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007, dass ein Gericht, wenn es die Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke an Dritte anordnet, die beantragen, in dem Verfahren als Streithelfer zugelassen zu werden, hinsichtlich der Übernahme etwaiger vor der Übermittlung dieser Schriftstücke anfallender Übersetzungskosten nicht als „Antragsteller“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

    42

    Zweitens wird diese Feststellung durch die teleologische Auslegung der Verordnung Nr. 1393/2007 bestätigt.

    43

    Der Gerichtshof hat nämlich zu den Zielen der Verordnung Nr. 1393/2007 bereits ausgeführt, dass mit dieser Verordnung, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, innerhalb der Union ein Mechanismus für die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen geschaffen werden soll, der das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts bezweckt. Mit dem Ziel, die Wirksamkeit und die Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren zu verbessern und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, stellt die Verordnung daher den Grundsatz einer direkten Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke zwischen den Mitgliedstaaten auf, was eine Beschleunigung und Vereinfachung der Verfahren bewirkt (Urteil vom 16. September 2015, Alpha Bank Cyprus, C‑519/13, EU:C:2015:603, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 28. April 2016, Alta Realitat, C‑384/14, EU:C:2016:316, Rn. 47 und 48).

    44

    Allerdings hat der Gerichtshof auch für Recht erkannt, dass die Verordnung Nr. 1393/2007 in der Weise auszulegen ist, dass in jedem Einzelfall ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Antragstellers und denen des Empfängers des Schriftstücks gewährleistet ist, indem die Ziele der Wirksamkeit und der Schnelligkeit der Übermittlung von Verfahrensschriftstücken mit dem Erfordernis der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Verteidigungsrechte des Empfängers dieser Schriftstücke in Einklang gebracht werden (Urteil vom 16. September 2015, Alpha Bank Cyprus, C‑519/13, EU:C:2015:603, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 28. April 2016, Alta Realitat, C‑384/14, EU:C:2016:316, Rn. 51).

    45

    Zudem hat der Gerichtshof zwar festgestellt, dass es einerseits, damit der Empfänger des Schriftstücks von seinen Verteidigungsrechten tatsächlich Gebrauch machen kann, unabdingbar ist, dass das betreffende Schriftstück in einer Sprache abgefasst ist, die er versteht, und dass andererseits den Antragsteller nicht die negativen Folgen einer bloß hinhaltenden und offensichtlich missbräuchlichen Verweigerung der Annahme eines nicht übersetzten Schriftstücks treffen dürfen, wenn feststeht, dass dessen Empfänger die Sprache, in der dieses Schriftstück abgefasst ist, versteht. Es ist daher Sache des Gerichts, vor dem der Rechtsstreit im Übermittlungsmitgliedstaat anhängig ist, die Interessen beider Parteien bestmöglich zu wahren, insbesondere unter Prüfung aller schlüssigen Tatsachen und Beweismittel, mit denen konkret der Nachweis für die Sprachkenntnisse des Empfängers erbracht wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 28. April 2016, Alta Realitat, C‑384/14, EU:C:2016:316, Rn. 78 und 79).

    46

    Eine Auslegung, nach der das im Übermittlungsmitgliedstaat angerufene Gericht als Antragsteller im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 anzusehen wäre, liefe jedoch der Pflicht dieses Gerichts zuwider, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Antragstellers und denen des Empfängers des Schriftstücks zu gewährleisten. Die Einhaltung dieser Pflicht setzt nämlich zwingend voraus, dass sich die Stelle, der die Pflicht obliegt, in Bezug auf die jeweiligen Interessen des Antragstellers und des Empfängers in einer Position der Unparteilichkeit befindet. Folglich kann diese Stelle nicht mit einem der Beteiligten, nämlich dem Antragsteller, zusammenfallen.

    47

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, wenn es die Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke an Dritte anordnet, die beantragen, in dem Verfahren als Streithelfer zugelassen zu werden, nicht als der „Antragsteller“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

    Kosten

    48

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, wenn es die Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke an Dritte anordnet, die beantragen, in dem Verfahren als Streithelfer zugelassen zu werden, nicht als der „Antragsteller“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

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