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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62019CC0561

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Bobek vom 15. April 2021.
    Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi SpA gegen Rete Ferroviaria Italiana SpA.
    Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Umfang der Vorlagepflicht der in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gerichte – Ausnahmen von dieser Pflicht – Kriterien – Frage nach der Auslegung des Unionsrechts, die von den Parteien des nationalen Verfahrens gestellt wird, nachdem der Gerichtshof in diesem Verfahren ein Vorabentscheidungsurteil erlassen hat – Keine Angabe der Gründe, aus denen sich die Notwendigkeit einer Antwort auf die Vorlagefragen ergibt – Teilweise Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens.
    Rechtssache C-561/19.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2021:291

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MICHAL BOBEK

    vom 15. April 2021 ( 1 )

    Rechtssache C‑561/19

    Consorzio Italian Management,

    Catania Multiservizi SpA

    gegen

    Rete Ferroviaria Italiana SpA

    (Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Staatsrat, Italien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 Abs. 3 AEUV – Einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können – Vorlagepflicht – Umfang – Ausnahmen und Kriterien nach dem Urteil CILFIT u. a.“

    Inhaltsübersicht

     

    I. Einleitung

    1.

    Anders als die nationalen letztinstanzlichen Gerichte werden Studierende des Europarechts für das Urteil CILFIT u. a. vermutlich immer eher Sympathie gehabt haben ( 2 ). Im Lauf der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden die Herzen vieler Europarechtsstudenten wahrscheinlich mit einem plötzlichen Anflug von Freude und Erleichterung geklopft haben, wenn sie „Urteil CILFIT“, „Ausnahmen von der Vorlagepflicht“ und „Diskussion“ auf ihrem Prüfungs- oder Übungsblatt gelesen haben. Die Frage nach der Durchführbarkeit der nach dem Urteil CILFIT geltenden Ausnahmen von der Verpflichtung, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einzureichen, insbesondere der Ausnahme in Bezug auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels des nationalen letztinstanzlichen Gerichts, ist nämlich vielleicht nicht die anspruchsvollste Erörterungsaufgabe. Müssen diese Gerichte wirklich (alle) gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des Unionsrechts miteinander vergleichen? Wie sollen sie, praktisch betrachtet, bestimmen, ob die Frage für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof gleichermaßen offenkundig ist?

    2.

    Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Ausnahmen von dieser Pflicht und vor allem ihre Durchsetzung sind seit Jahren, bildlich gesprochen, schlafende Hunde des Unionsrechts. Wir wissen alle, dass sie da sind. Wir können alle über sie diskutieren oder gar akademische Aufsätze über sie schreiben. Im echten Leben aber weckt man sie am besten nicht. Pragmatisch (oder zynisch) gesagt, funktioniert das gesamte Vorabentscheidungssystem, weil niemand das Urteil CILFIT wirklich anwendet, jedenfalls nicht wörtlich. Oft ist es besser, sich einen Hund vorzustellen, als es mit dem lebenden Tier zu tun zu haben.

    3.

    Aus einer Reihe von Gründen, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen werde, trage ich dem Gerichtshof den Vorschlag vor, dass es an der Zeit ist, die Rechtssache CILFIT zu überprüfen. Mein Vorschlag hierfür ist eher einfach und geht dahin, die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie die von ihr geltenden Ausnahmen so anzupassen, dass sie den Anforderungen des gegenwärtigen unionsrechtlichen Gerichtssystems entsprechen und dann realistisch angewendet (sowie möglicherweise zu gegebener Zeit durchgesetzt) werden können.

    4.

    Der vorgeschlagene Anpassungsvorgang erfordert jedoch einen erheblichen Paradigmenwechsel. Die Grundgedanken und Ausrichtung der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen sollten sich wegbewegen vom Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall, der in Form eines subjektiven gerichtlichen Zweifel bestehen und festgestellt werden muss, hin zu einem objektiveren Gebot der Gewährleistung einer in der gesamten Union einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Mit anderen Worten sollte die Vorlagepflicht nicht in erster Linie auf die richtigen Antworten, sondern vielmehr auf die Ermittlung der richtigen Fragen ausgerichtet sein.

    II. Rechtlicher Rahmen

    5.

    Art. 267 AEUV bestimmt:

    „Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

    a)

    über die Auslegung der Verträge,

    b)

    über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union,

    Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

    Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

    …“

    6.

    Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bestimmt:

    „Wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.“

    III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

    7.

    An das Consorzio Italian Management und die Catania Multiservizi SpA (im Folgenden zusammen: Berufungskläger) wurde am 23. Februar 2006 von der Rete Ferroviaria Italiana SpA (im Folgenden: RFI) ein Auftrag für „Reinigungsdienstleistungen, Dienstleistungen zur Erhaltung des Erscheinungsbilds der Räumlichkeiten und anderer der Öffentlichkeit zugänglicher Flächen sowie Nebendienstleistungen in Bahnhöfen, Anlagen, Büros und Werkstätten an verschiedenen Orten im Amtsbezirk der Direzione compartimentale movimento di Cagliari [(Bezirksdirektion für Verkehr Cagliari, Italien])“ vergeben.

    8.

    Dieser Vertrag enthielt eine Klausel, mit der Preisanpassungen eingeschränkt wurden. Während der Ausführung des Auftrags ersuchten die Berufungskläger RFI um eine Anpassung der Auftragsvergütung wegen einer angeblichen durch einen Anstieg der Personalkosten bedingten Erhöhung der Auftragskosten. RFI lehnte dies ab.

    9.

    Die Berufungskläger erhoben Klage gegen RFI vor dem Tribunale amministrativo regionale per la Sardegna (Regionales Verwaltungsgericht Sardinien, Italien, im Folgenden: TAR). Mit Urteil vom 11. Juni 2014 wies das TAR die Klage ab. Es stellte fest, dass Art. 115 des Decreto legislativo (Gesetzesvertretendes Dekret) Nr. 163/2006 nicht auf Tätigkeiten anwendbar sei, die zu den besonderen Sektoren gehörten, wie etwa Reinigungsleistungen, wenn sie notwendige Bestandteile des Eisenbahntransportnetzes seien. Das TAR stellte außerdem fest, dass die Preisanpassung nach Art. 1664 des Codice Civile (Zivilgesetzbuch) nicht zwingend vorgeschrieben sei und die Parteien von dieser Regelung abweichen könnten.

    10.

    Gegen dieses Urteil legten die Berufungskläger beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) Berufung ein. Sie machten geltend, dass Art. 115 des Decreto legislativo Nr. 163/2006 oder, hilfsweise, Art. 1664 des Zivilgesetzbuchs anwendbar sei. Außerdem verstoße die nationale Regelung gegen die Richtlinie 2004/17/EG ( 3 ), soweit sie dazu führe, dass Preisanpassungen im Verkehrssektor und bei den entsprechenden Reinigungsverträgen ausgeschlossen seien. Diese Regelung habe zu einem ungerechten und unverhältnismäßigen vertraglichen Ungleichgewicht und letztlich zu einer Änderung der Regeln über die Funktionsweise des Marktes geführt. Wäre die Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen, dass sie eine Preisanpassung bei allen in den besonderen Sektoren geschlossenen und ausgeführten Aufträgen ausschlösse, wäre sie damit ungültig.

    11.

    Vor diesem Hintergrund legte der Consiglio di Stato (Staatsrat) dem Gerichtshof am 24. November 2016 die beiden folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vor:

    1.

    Ist eine Auslegung des innerstaatlichen Rechts, nach der eine Preisanpassung bei Verträgen in Bezug auf die besonderen Sektoren, insbesondere hinsichtlich Verträgen mit einem anderen Gegenstand als denen, auf die sich die Richtlinie 2004/17 bezieht, die jedoch eine instrumentelle Verbindung mit solchen Verträgen aufweisen, ausgeschlossen ist, mit dem Unionsrecht (insbesondere mit Art. 3 Abs. 3 EUV, den Art. 26, 56 bis 58 und 101 AEUV, Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Richtlinie 2004/17) vereinbar?

    2.

    Ist die Richtlinie 2004/17 (sofern davon ausgegangen wird, dass sich der Ausschluss von Preisanpassungen bei sämtlichen im Bereich der besonderen Sektoren geschlossenen und angewandten Verträgen unmittelbar aus dieser Richtlinie ergibt) „angesichts der Ungerechtigkeit, der Unverhältnismäßigkeit, der Verzerrung des vertraglichen Gleichgewichts und damit der Regeln eines effizienten Marktes“ mit den Grundsätzen der Europäischen Union (insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 EUV und den Art. 26, 56 bis 58 und 101 AEUV sowie Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) vereinbar?

    12.

    Der Gerichtshof antwortete mit Urteil vom 19. April 2018 ( 4 ). Zur ersten Frage stellte der Gerichtshof fest, dass das vorlegende Gericht in keiner Weise erläutert habe, inwiefern die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 EUV sowie der Art. 26, 56 bis 58 und 101 AEUV für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits relevant sein solle. Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gelte, ebenso wie die anderen Bestimmungen der Charta, ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union; dies sei im Ausgangsverfahren nicht der Fall gewesen. Der Gerichtshof erklärte die erste Frage somit im Hinblick auf diese Bestimmungen für unzulässig ( 5 ).

    13.

    Im Hinblick auf die Richtlinie 2004/17 und die ihr zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze, insbesondere den Gleichbehandlungs- und den Transparenzgrundsatz, stellte der Gerichtshof jedoch fest, dass sie dahin auszulegen seien, dass sie nationalen Rechtsvorschriften, nach denen eine regelmäßige Preisanpassung nach der Vergabe von öffentlichen Aufträgen in den in der Richtlinie genannten Sektoren nicht vorgesehen sei, nicht entgegenstünden. Aufgrund dieser Antwort kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die zweite Frage hypothetischer Natur sei.

    14.

    Nach Verkündung des Urteils des Gerichtshofs beantragten die Berufungskläger am 28. Oktober 2018 beim Consiglio di Stato (Staatsrat) zu Beginn der öffentlichen Sitzung vom 14. November 2018, dem Gerichtshof neue Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Sie machen im Wesentlichen geltend, der Gerichtshof habe mit seinem Urteil nicht dazu Stellung genommen, ob Reinigungsdienstleistungen in einer instrumentellen Verbindung zu einer Verkehrsdienstleistung stünden oder nicht. Der Gerichtshof sei davon ausgegangen, dass das Vertragsverhältnis, wie in der ursprünglichen Ausschreibung angegeben, nicht verlängert werden könne. Dies entspreche jedoch nicht der Sachlage in Italien, wo Dienstleistungsverträge von der öffentlichen Verwaltung oft auf unbestimmte Zeit verlängert würden, wodurch ein vertragliches Ungleichgewicht entstehe. Die Berufungskläger führen zur Stützung ihres Standpunkts die Erwägungsgründe 9, 10 und 45 sowie Art. 57 der Richtlinie 2004/17 an.

    15.

    Nach Auffassung des Consiglio di Stato (Staatsrat), der wiederum das im Ausgangsverfahren vorlegende Gericht ist, haben die Berufungskläger somit neue Vorabentscheidungsfragen gestellt. Das vorlegende Gericht möchte indes wissen, ob es dem Gerichtshof diese Fragen unter den Umständen des Ausgangsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen muss. Die Vorlageverpflichtung eines letztinstanzlichen Gerichts könne nicht losgelöst von einem System „verfahrensrechtlicher Schranken“ gelten, das die Parteien dazu anhalte, dem nationalen Gericht „abschließend“ diejenigen Aspekte des nationalen Rechts vorzutragen, die ihrer Ansicht nach gegen das Unionsrecht verstießen. Andernfalls würden wiederholte oder ständige Vorschläge für Vorabentscheidungsfragen – abgesehen davon, dass hiervon in missbräuchlicher Weise Gebrauch gemacht werden könnte, was im äußersten Fall einen „Verfahrensmissbrauch“ darstellen könne – letztlich infolge der Vorlagepflicht dazu führen, dass das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz bedeutungslos und der Grundsatz des zügigen und effektiven Abschlusses von Verfahren beeinträchtigt würde.

    16.

    Vor diesem tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Ist ein innerstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können, gemäß Art. 267 AEUV grundsätzlich verpflichtet, eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts auch in den Fällen zur Vorabentscheidung vorzulegen, in denen ihm diese Frage von einer der Parteien des Verfahrens nach ihrer ersten verfahrenseinleitenden Handlung oder der Einlassung auf das Verfahren vorgeschlagen wurde, oder nachdem die Sache erstmals in die Beratung gegangen ist oder auch nachdem bereits ein erstes Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet wurde?

    2.

    Sind – mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen – die Art. 115, 206 und 217 des Decreto legislativo Nr. 163/2006 in ihrer Auslegung durch die nationale Verwaltungsrechtsprechung, soweit sie Preisanpassungen bei Verträgen in Bezug auf die sogenannten besonderen Sektoren, insbesondere solchen, die einen anderen Gegenstand haben als diejenigen, auf die sich die Richtlinie 2004/17 bezieht, aber zu diesen eine instrumentale Verbindung aufweisen, ausschließen, mit dem Recht der Europäischen Union (insbesondere Art. 4 Abs. 2, Art. 9, Art. 101 Abs. 1 Buchst. e, Art. 106, Art. 151, Art. 152, Art. 153 und Art. 156 AEUV, der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989, auf die Art. 151 verweist, den Art. 2 und 3 EUV sowie Art. 28 der Charta) vereinbar?

    3.

    Sind mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen die Art. 115, 206 und 217 des Decreto legislativo Nr. 163/2006, in ihrer Auslegung durch die nationale Verwaltungsrechtsprechung, soweit sie Preisanpassungen bei Verträgen in Bezug auf die besonderen Sektoren, insbesondere solchen, die einen anderen Gegenstand haben als diejenigen, auf die sich die Richtlinie 2004/17 bezieht, aber zu diesen eine instrumentale Verbindung aufweisen, ausschließen, mit dem Recht der Europäischen Union (insbesondere Art. 28 der Charta, dem in den Art. 26 und 34 AEUV verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung sowie dem auch in Art. 16 der Charta verankerten Grundsatz der unternehmerischen Freiheit) vereinbar?

    17.

    Die Berufungskläger, RFI, die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten haben neben der deutschen und der französischen Regierung alle an der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 2020 teilgenommen.

    IV. Würdigung

    18.

    Wie vom Gerichtshof erbeten, wird in den vorliegenden Schlussanträgen der Schwerpunkt auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts gelegt. Diese Frage umfasst zwei Ebenen. Einerseits könnte die erste Frage ihrem Wortlaut nach vielleicht einfach dahin verstanden werden, ob ein nationales letztinstanzliches Gericht zu einer Vorlage in einer konkreten Sachverhaltsgestaltung verpflichtet ist, die drei Merkmale aufweist: i) Die Frage wird von einer der Parteien aufgeworfen, ii) die Frage wird nach der ersten verfahrenseinleitenden Handlung einer Partei und iii) sogar nach einem bereits erfolgten ersten Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof aufgeworfen. Diese Fragen sind unschwer zu beantworten. Die Antworten ergeben sich nämlich aus der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs (wie nachstehend in Abschnitt A dargelegt werden wird).

    19.

    Andererseits würde eine solche Antwort den vom vorlegenden Gericht tatsächlich angesprochenen Fragestellungen meines Erachtens nicht gerecht. Das Gericht weist darauf hin, dass es weitere Fragestellungen der Parteien gebe, über die in der Tat aufgrund der vom Gerichtshof bereits gegebenen Antwort entschieden werden könne. Es gebe jedoch auch neue Fragestellungen, die nicht in dieser Weise beantwortet werden könnten. Was diese weiteren Fragestellungen angehe, sei es selbst ein nach nationalem Recht letztinstanzliches Gericht und als solches verpflichtet, den Gerichtshof anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts stelle ( 6 ).

    20.

    An dieser Stelle tritt die sich aus der ersten Frage ergebende umfassendere Fragestellung voll hervor: Gilt die den letztinstanzlichen Gerichten obliegende Vorlagepflicht in sämtlichen Fällen, in denen Zweifel im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall fortbestehen, unabhängig davon, ob in derselben Rechtssache bereits ein Vorabentscheidungsersuchen gestellt wurde oder nicht? Welchen genauen Umfang haben die Vorlagepflicht und die von ihr geltenden Ausnahmen, insbesondere in Fällen wie demjenigen des Ausgangsverfahrens?

    21.

    Diese Frage möchte ich beantworten, indem ich zunächst die derzeitigen Konturen der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen skizziere (B). Anschließend werde ich die verschiedenen, durch diese Rechtsprechung aufgeworfenen Probleme erörtern, die sodann die Gründe dafür liefern werden, warum ich vorschlage, dass der Gerichtshof die Vorlagepflicht in anderem Licht neu fasst (C). Schließlich werde ich abschließend einen konkreten Vorschlag hierzu machen (D).

    A.   Ebenen

    22.

    Die vom vorlegenden Gericht angeführten Merkmale beziehen sich auf drei Punkte: i) die Rolle der Parteien bei der Stellung einer Frage, ii) den Zeitpunkt der Frage in Bezug auf die verschiedenen Abschnitte, die ein nationales Gerichtsverfahren umfassen kann, und iii) die Möglichkeit eines zweiten Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen desselben Verfahrens. Würden diese drei Punkte als drei gesonderte Fragen und nicht als drei Facetten ein und derselben Frage verstanden, könnte ihre Beantwortung leicht aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden.

    1. Äußere Ebene: Die Entscheidung ist immer Sache des nationalen Gerichts

    23.

    Erstens ist die Frage, ob ein vorlegendes Gericht eine Entscheidung des Gerichtshofs zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält, ausschließlich Sache der Entscheidung dieses Gerichts. Zwar wird ein nationales Gericht, ebenso wie jedes andere Gericht, die Beteiligten zu der Möglichkeit der Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung sicherlich anhören. Die nach Art. 267 AEUV eingerichtete unmittelbare Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist jedoch in Form eines Verfahrens ausgestaltet, das der Parteiherrschaft entzogen ist ( 7 ). Allein deshalb, weil eine Partei des Ausgangsrechtsstreits bestimmte Fragen des Unionsrechts aufwirft, muss das betreffende Gericht somit noch nicht davon ausgehen, dass sich eine Frage im Sinne von Art. 267 AEUV stellt, so dass ein Vorabentscheidungsersuchen zwingend erforderlich ist ( 8 ). Dies bedeutet umgekehrt auch, dass ein nationales Gericht von Amts wegen ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof richten darf ( 9 ).

    24.

    Zweitens ist es ebenso allein Sache des nationalen Gerichts, darüber zu entscheiden, wann ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet werden soll ( 10 ). Das nationale Gericht hat die besseren Voraussetzungen für die Beurteilung der Frage, in welchem Verfahrensstadium es einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf ( 11 ). Für den Gerichtshof ist lediglich erforderlich, dass der Rechtsstreit zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens anhängig ist ( 12 ).

    25.

    Zwar kann es aus der Perspektive des Gerichtshofs und seines Bestrebens um eine möglichst umfassende Unterstützung des vorlegenden Gerichts nur begrüßenswert sein, wenn das nationale Gericht sich zu einer Vorlage an den Gerichtshof erst dann entscheidet, wenn ein Rechtsstreit und alle seine Folgen sich im Verfahren vor diesem Gericht vollständig konkretisiert haben. So mag es in bestimmten Fällen im Interesse einer geordneten Rechtspflege erforderlich sein, dass der Gerichtshof erst angerufen wird, nachdem beide Parteien eines Rechtsstreits vom vorlegenden Gericht angehört worden sind. Dies stellt jedoch keineswegs eine als solche vom Gerichtshof aufgestellte Voraussetzung dar ( 13 ).

    26.

    Ebenso dürften meines Erachtens nationale Regelungen oder Bestimmungen vom Gerichtshof nicht zu beanstanden sein, die eine Verfahrenskonzentration, insbesondere bei Rechtsmittelgerichten oder Obersten Gerichten, erforderlich oder verpflichtend machen, indem sie die Parteien verpflichten, neue oder weitere Einlassungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Abschnitt des gerichtlichen Verfahrens vorzutragen. Allerdings hat der Gerichtshof in der Vergangenheit im Allgemeinen Bedenken geäußert, wenn solche Fristen oder Regelungen zur Verfahrenskonzentration es den nationalen Gerichten faktisch unmöglich machen sollten, Fragen der Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Unionsrecht aufzugreifen ( 14 ).

    27.

    Zum Grundgedanken der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf diesem Gebiet gehört somit, zu gewährleisten, dass nationale Verfahrensregelungen der Geltendmachung unionsrechtlicher Fragen nicht entgegenstehen, sondern dass ein etwaiges Vorabentscheidungsersuchen zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens gestellt werden kann. Praktisch wird dies wohl dazu führen, dass einschränkende nationale Regelungen möglicherweise unangewendet bleiben müssen ( 15 ).

    28.

    Im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist es jedoch offenbar ein anderer Hintergrund, vor dem die Frage nach einer etwaigen Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV „auch in den Fällen [aufkommen konnte], in denen [dem nationalen Gericht die] Frage von einer der Parteien des Verfahrens nach ihrer ersten verfahrenseinleitenden Handlung oder der Einlassung auf das Verfahren vorgeschlagen wurde, oder nachdem die Sache erstmals in die Beratung gegangen ist“. In der vorliegenden Rechtssache gibt es nämlich im nationalen Recht dem Anschein nach keine einschränkende Regelung, so dass die Parteien offenbar Gesichtspunkte, die bereits Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens waren, im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht (erneut) erörtern können. Es wäre jedoch, vorsichtig formuliert, sehr ungewöhnlich, sich jetzt auf die oben genannte „möglichkeitserhaltende“ Rechtsprechung stützen zu wollen, wonach kategorisch stets darauf beharrt wurde, dass es nationalen Richtern völlig frei stehen muss, jeden Aspekt des Unionsrechts in jedem Stadium des Verfahrens aufzugreifen, um auf einmal zum gegenteiligen Ergebnis zu kommen, nämlich, dass nach einer auf der nationalen Ebene angekommenen Entscheidung des Gerichtshofs jede nach nationalem Recht zulässige weitere Erörterung ausgeschlossen wäre.

    29.

    Drittens wäre dies auch kaum mit dem herkömmlichen Ansatz des Gerichtshofs in Bezug auf das dritte, vom vorlegenden Gericht herausgestellte Element in Einklang zu bringen, nämlich mit der Möglichkeit einer weiteren Frage. Insoweit hat der Gerichtshof stets darauf beharrt, dass es den nationalen Gerichten unbenommen bleibt, den Gerichtshof zu befassen, wenn sie es für angebracht halten, ohne dass der Umstand, dass die Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht wird, bereits vom Gerichtshof ausgelegt worden sind, einer neuerlichen Entscheidung des Gerichtshofs entgegenstünde ( 16 ).

    30.

    Dies gilt auch innerhalb ein und desselben nationalen Verfahrens. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „[ist e]ine solche Vorlage … gerechtfertigt, wenn das nationale Gericht beim Verständnis oder bei der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es dem Gerichtshof eine neue Rechtsfrage stellt oder wenn es ihm neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu beantworten“ ( 17 ). Eine erneute Vorlage ist somit stets möglich, und zwar sowohl zu denselben Bestimmungen des Unionsrechts als auch zu etwaigen anderen Bestimmungen oder Fragestellungen innerhalb desselben Verfahrens.

    31.

    Folglich ist die kurze Antwort auf die erste Frage, dass ein Vorabentscheidungsersuchen jederzeit, unabhängig von einer innerhalb desselben Verfahrens ergangenen früheren Vorabentscheidung des Gerichtshofs, gestellt werden kann, solange das vorlegende Gericht die Antwort des Gerichtshofs zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Diese Entscheidung hat stets das nationale Gericht aufgrund eines vernünftigen Zweifels zu treffen, den es in Bezug auf die richtige Anwendung des Unionsrechts in der bei ihm anhängigen Rechtssache möglicherweise weiterhin hat.

    2. Tiefere Ebene: Sind wirklich alle Fragen vorzulegen?

    32.

    Kurz zusammengefasst bleibt dies alles in der ausschließlichen Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts und seiner Beurteilung des (subjektiven) Bedarfs, den Gerichtshof um weitere Hinweise zu ersuchen. Ist das jedoch wirklich die Antwort? Oder ist diese Aussage vielmehr die Beschreibung des Problems? Sollte in Fällen wie demjenigen der vorliegenden Rechtssache wirklich noch eine Vorlagepflicht bestehen?

    33.

    In diesem Kontext betrachtet, dringt die erste Frage des vorlegenden Gerichts auf eine andere, wesentlich tiefere Ebene vor. Dies wird dadurch noch weiter hervorgehoben, dass alle drei Merkmale, die im vorstehenden Abschnitt als eigenständige Fragen erörtert wurden, im Ausgangsverfahren gleichzeitig vorliegen. Es stellt sich daher die Frage, ob das vorlegende Gericht trotz all dieser Umstände noch der Vorlagepflicht unterliegt.

    34.

    Diese Frage kann daher meines Erachtens in der im vorstehenden Abschnitt skizzierten Weise nicht sachdienlich beantwortet werden. Sie kann meines Erachtens auch nicht in der Weise beantwortet werden, dass die vorliegende Rechtssache lediglich die Bindungswirkung und die Beachtung eines früheren Urteils des Gerichtshofs betreffe. Zwar ist sicherlich bereits seit dem Urteil Da Costa ( 18 ), später bestätigt durch das Urteil CILFIT ( 19 ), geklärt, dass die Wirkung einer vom Gerichtshof gegebenen Auslegung nach Art. 267 AEUV den inneren Grund dieser Verpflichtung entfallen und sie somit sinnlos erscheinen lassen kann ( 20 ). Dies gilt erst recht, wenn die gestellte Frage tatsächlich im Rahmen desselben nationalen Verfahrens bereits Gegenstand einer Vorabentscheidung war ( 21 ).

    35.

    Das vorlegende Gericht hat jedoch klargestellt, dass es sich zum Teil auch mit neuen, weiteren Gesichtspunkten der Rechtssache zu befassen habe, auf die der Gerichtshof zuvor nicht eingegangen sei. Es geht hier somit nicht darum, dass eine frühere Entscheidung des Gerichtshofs nicht beachtet würde.

    36.

    Vor diesem Hintergrund ist nicht feststellbar, dass das Unionsrecht der italienischen Praxis entgegenstünde, den Parteien die Gelegenheit zu geben, zu einer Antwort Stellung zu nehmen, die von einem übergeordneten Gericht auf ein in diesem Verfahren gestelltes Ersuchen hin ergangen ist. In der mündlichen Verhandlung hat die italienische Regierung erklärt, dass diese Praxis nicht nur bei einer Antwort des Gerichtshofs, sondern auch bei Antworten des nationalen Verfassungsgerichts auf eine von einem nationalen Richter gestellte Frage nach der Verfassungsmäßigkeit Anwendung finde. In diesen Fällen erhielten die Parteien des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme dazu, welche Folgen sich aus den von einem übergeordneten Gericht gegebenen Hinweisen für ihren Vortrag ergäben.

    37.

    Zusammenfassend dürfte meines Erachtens, soweit der Gerichtshof nicht Selbstverständlichkeiten wiederholen will, ohne sich mit der tieferen Ebene der vorliegenden Rechtssache zu befassen, oder einige der soeben skizzierten Aspekte in eher grundlegender Weise einer Neubewertung unterziehen will, in der vorliegenden Rechtssache eine Auseinandersetzung mit dem Wesen und dem Umfang der Vorlagepflicht angezeigt sein. Die Beteiligten haben hierzu unterschiedliche Ansichten vertreten.

    38.

    Die Berufungskläger und die Beklagte des Ausgangsrechtsstreits legen in ihren Stellungnahmen den Schwerpunkt hauptsächlich auf die Fragen 2 und 3. Was die erste Frage angeht, halten die Berufungskläger Vorabentscheidungsersuchen für überflüssig, soweit es eine ständige Rechtsprechung gebe, es sei denn die einschlägigen Präzedenzentscheidungen seien veraltet oder es gebe neues Vorbringen im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht, wie dies im Ausgangsverfahren der Fall sei. Die Beklagte ist der Ansicht, dass das vorlegende Gericht keine neuen Fragen hätte vorlegen sollen, da die Auslegung der in Rede stehenden unionsrechtlichen Vorschriften eindeutig gewesen und durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits geklärt gewesen sei.

    39.

    Die deutsche, die französische und die italienische Regierung sowie die Kommission behandeln die erste Frage sämtlich eingehender und tragen mehrere Standpunkte vor. Die deutsche Regierung und die Kommission sehen keinen Grund, das Urteil CILFIT in irgendeiner Weise einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Nach Ansicht der deutschen Regierung haben sich die CILFIT‑Kriterien bewährt und sollten beibehalten werden.

    40.

    Die italienische Regierung hat sich für eine bessere Ausgewogenheit zwischen Vorlagepflicht geordneter Rechtspflege ausgesprochen. Nach ihrer Ansicht soll nur dann ein Verstoß eines letztinstanzlichen Gerichts gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV vorliegen, wenn es von den Beteiligten aufgeworfene Fragen zum Unionsrecht ohne Angabe von Gründen unberücksichtigt lasse oder für unbegründet erkläre. Diese Begründung sei entscheidend. Sie könne sogar die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für eine von ihren letztinstanzlichen Gerichten unterlassene Vorlage mindern.

    41.

    Nach Ansicht der französischen Regierung sollten die CILFIT‑Kriterien im Licht des übergreifenden Zwecks von Art. 267 AEUV und des derzeitigen Stands des Unionsrechts unter Berücksichtigung der eingetretenen strukturellen Veränderungen (neu) ausgelegt werden. Die Vorlagepflicht solle sich auf wichtige Auslegungsfragen und auf Fragen konzentrieren, die innerhalb der Union zu unterschiedlichen Auslegungen führen könnten, und nicht unbedingt auf Einzelfälle innerhalb der Mitgliedstaaten. Bei Fragen zur Anwendung des Unionsrechts solle die Vorlagepflicht nicht gelten. An dieser Pflicht solle nur bei allgemeinen Fragen oder bei Fragen festgehalten werden, die zwar einzelfallbezogener seien, bei denen der Gerichtshof jedoch einen allgemeinen Rahmen für die Prüfung oder Kriterien für die rechtliche Beurteilung festlege. Die letztinstanzlichen Gerichte könnten zwar weiterhin entscheiden, auch Fragen anderer Art vorzulegen, die nationalen Gerichte sollten jedoch die sich aus einer geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis einer Entscheidung innerhalb angemessener Frist ergebenden Anforderungen berücksichtigen, insbesondere dann, wenn in ein und demselben Verfahren bereits eine erste Vorabentscheidung des Gerichtshofs ergangen sei.

    B.   Urteil CILFIT (und seine Nachfolge)

    42.

    Nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sind einzelstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, verpflichtet, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen.

    43.

    Es besteht somit nach dem Wortlaut des Vertrags eindeutig eine Pflicht letztinstanzlicher Gerichte ( 22 ), dem Gerichtshof Fragen im Sinne von Art. 267 Abs. 1 AEUV vorzulegen. Der Rest wurde, wie bei vielen anderen Bestimmungen des Primärrechts, schlicht durch die Rechtsprechung entwickelt.

    44.

    Als Erstes unterscheidet der Wortlaut des Vertrags hinsichtlich des Umfangs der Vorlagepflicht nicht zwischen Fragen nach der Auslegung und Fragen nach der Gültigkeit. Für Fragen nach der Gültigkeit hat der Gerichtshof jedoch klargestellt, dass alle nationalen Gerichte, d. h. nicht nur letztinstanzliche Gerichte, vorbehaltlos verpflichtet sind, solche Fragen dem Gerichtshof vorzulegen. Die nationalen Gerichte sind nicht befugt, selbst die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane festzustellen ( 23 ). Das Erfordernis der Einheitlichkeit ist besonders zwingend, wenn es um die Gültigkeit einer Unionshandlung geht. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten über die Gültigkeit von Unionshandlungen wären geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung selbst zu gefährden und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen ( 24 ).

    45.

    Diese Gesichtspunkte stellen Fragen nach der Gültigkeit von Unionsrechtsakten auf eine andere, eigene Schiene. Ebenso wie sich der Grund dafür, dass für alle nationalen Gerichte eine kategorische Pflicht zur Vorlage jeder Frage nach der Gültigkeit an den Gerichtshof besteht, von den Gründen dafür, dass eine Vorlagepflicht für Fragen nach der Auslegung besteht, unterscheidet, gilt dies, und darauf kommt es an, auch für die hiervon geltenden Ausnahmen. Die Ausnahmen nach der CILFIT‑Rechtsprechung gelten nicht für die Pflicht zur Vorlage einer Frage nach der Gültigkeit ( 25 ).

    46.

    Es sollte bereits an dieser Stelle betont werden, dass die folgende Erörterung in den vorliegenden Schlussanträgen ausschließlich Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung des Unionsrechts betrifft.

    47.

    Als Zweites ist richtigerweise anzuerkennen, dass Art. 267 Abs. 3 AEUV seinem Wortlaut nach eine kategorische Pflicht zur Vorlage für nationale letztinstanzliche Gerichte regelt, die ohne jede Ausnahme gilt: „Wird eine derartige Frage … gestellt, …so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet“. Die Ausnahmen nach der CILFIT‑Rechtsprechung für Fragen nach der Auslegung sind insoweit tatsächlich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellt worden.

    48.

    Diesen Punkt erwähne ich sicherlich nicht, um damit anzudeuten, dass diese Ausnahmen falsch oder unrechtmäßig seien. Im Gegenteil sind sie vielmehr zwingend. Ich möchte dies indes als Vorbemerkung zu der folgenden Erörterung herausstreichen, um damit hervorzuheben, dass, soweit es um das Wesen und den Umfang der Vorlagepflicht oder die von ihr geltenden Ausnahmen geht, das Argument, dass „dies nicht zu ändern ist, weil es so im Vertrag steht“, eher seltsam erscheint. Welche genaue Tragweite die Verpflichtung zur Vorlage zur Vorabentscheidung hat, bleibt nach dem Wortlaut von Art. 267 AEUV bemerkenswert offen. Was die von dieser Pflicht geltenden Ausnahmen angeht, ist dem Vertrag überhaupt nichts zu entnehmen. Genauer gesagt, könnte man, wenn man ein notorischer Wortlautanhänger sein wollte, sogar jedwede Ausnahme von der Vorlagepflicht nach dem Wortlaut von Art. 267 AEUV für ausgeschlossen halten.

    1. Gründe für die Vorlagepflicht

    49.

    Allgemein „[begründet d]as in Art. 267 AEUV vorgesehene System … eine direkte und enge Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, in deren Rahmen diese an der ordnungsgemäßen Anwendung und einheitlichen Auslegung des Unionsrechts sowie am Schutz der den Einzelnen von dieser Rechtsordnung gewährten Rechte mitwirken“ ( 26 ).

    50.

    Der Vertrag verlangt jedoch von den nationalen letztinstanzlichen Gerichten im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mehr als von einem Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV. Es muss also weitere, strukturelle Gründe dafür geben, warum letztinstanzliche Gerichte, über die allen nationalen Gerichten offenstehende Ermessensentscheidung über eine Vorlage hinaus, einer Pflicht zur Vorlage unterliegen.

    51.

    Der strukturelle Grund für die für letztinstanzliche Gerichte geltende Verpflichtung wurde schon früh im Urteil Hoffmann-Laroche benannt, nämlich dahin, zu „verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des [Unions]rechts nicht im Einklang steht“ ( 27 ). Mit anderen Worten liegt der besondere Zweck von Art. 267 Abs. 3 AEUV in der Notwendigkeit, zu „verhindern, dass es innerhalb der [Union] zu voneinander abweichenden Gerichtsentscheidungen über Fragen des [Unions]rechts kommt“ ( 28 ). Die Beschränkung dieser Verpflichtung auf letztinstanzliche Gerichte ist insbesondere dadurch begründet, dass „ein letztinstanzliches Gericht definitionsgemäß die letzte Instanz [ist], vor der der Einzelne die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehenden Rechte geltend machen kann. Die letztinstanzlichen Gerichte haben die Aufgabe, die einheitliche Auslegung von Rechtsvorschriften auf einzelstaatlicher Ebene zu gewährleisten.“ ( 29 )

    52.

    Neben dem Bestreben, das nationale Gericht bei der richtigen Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall zu unterstützen, worin der übergeordnete Grundgedanke von Art. 267 AEUV liegen dürfte, wird somit der Grundgedanke der Vorlagepflicht in systematischer, struktureller Weise formuliert, nämlich dahin, Abweichungen in der Rechtsprechung in der Union zu verhindern. Dieses Ziel lässt sich nämlich nachvollziehbarerweise am besten auf der Ebene der nationalen Gerichte verfolgen, denen regelmäßig auch die Aufgabe zugewiesen ist, die Einheitlichkeit auf der nationalen Ebene zu gewährleisten.

    53.

    Es ist jedoch richtigerweise anzuerkennen, dass der Grund für die Vorlagepflicht in den Feststellungen (und in der Anwendungspraxis) des Gerichtshofs im Laufe der Jahre nicht immer so kohärent zum Ausdruck gekommen ist. Es ist gelegentlich von einheitlicher Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ( 30 ), gelegentlich von ordnungsgemäßer Anwendung und einheitlicher Auslegung ( 31 ) und gelegentlich gar nur von einheitlicher Anwendung ( 32 ) die Rede.

    54.

    Dies mögen nur unbewusste Änderungen der verwendeten Formulierung sein. In anderen Fällen weisen sie jedoch auf tiefer greifende Abweichungen hin. Sie sind Anzeichen für ein ständiges Spannungsverhältnis im Hinblick auf die Frage, inwieweit die Verpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anders auszulegen ist als die Möglichkeit nach dessen Abs. 2.

    55.

    Die Möglichkeit nach Art. 267 Abs. 2 AEUV dient, ebenso wie der übergreifende Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens, zweifellos dazu, die nationalen Gerichte bei der Lösung von Einzelfällen zu unterstützen, die Gesichtspunkte des Unionsrechts betreffen. Dieser einzelfallbezogene „Mikrozweck“ dient sicherlich, langfristig betrachtet, dem systematischeren „Makrozweck“ des Vorabentscheidungsverfahrens. Er bildet schrittweise ein System von Präzedenzentscheidungen (oder, in der Formulierung des Gerichtshofs, eine ständige Rechtsprechung) heraus, die dazu beiträgt, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in der gesamten Union zu gewährleisten.

    56.

    Kann aber die Verpflichtung zur Vorlage als bloße Erweiterung der Möglichkeit einer Vorlage als Versuch verstanden werden, die Fälle zu bestimmen, in denen etwas, das seine Grundlage in der Option zur Vorlage hat, auf einmal zu einer strukturellen Verpflichtung wird, so dass der einzelne nationale Richter, der möglicherweise „subjektive Zweifel“ haben mag, sich auf einmal mit einem „objektiven Bedarf“ nach Unterstützung durch den Gerichtshof konfrontiert sieht?

    2. Ausnahmen von der Verpflichtung

    57.

    Dem Urteil CILFIT lag ein Rechtsstreit zwischen Wollimporteuren und dem italienischen Gesundheitsministerium über die Entrichtung von Gebühren für die gesundheitspolizeiliche Untersuchung von Wolle, die aus nicht der (damaligen) Gemeinschaft angehörenden Ländern eingeführt wurde, zugrunde. Die Importeure beriefen sich auf eine Bestimmung einer Verordnung, nach der es den Mitgliedstaaten untersagt ist, auf bestimmte eingeführte Waren tierischen Ursprungs Abgaben mit gleicher Wirkung wie Zölle zu erheben. Das Gesundheitsministerium hielt dem entgegen, dass Wolle nicht unter den Vertrag falle und daher nicht von dieser Verordnung erfasst sei.

    58.

    Vor diesem Hintergrund legte die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) eine Frage nach der Auslegung des damaligen Art. 177 Abs. 3 des EWG-Vertrags (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) im Wesentlichen dahin vor, ob die Vorlagepflicht automatisch bestehe oder davon abhänge, dass ein vernünftiger Auslegungszweifel bestehe. Nach Ansicht des Gesundheitsministeriums war die Auslegung der Verordnung so offenkundig, dass nicht einmal die Möglichkeit eines Auslegungszweifels in Betracht zu ziehen und daher ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof nicht erforderlich sei. Die betroffenen Importeure machten geltend, dass, da vor einem Obersten Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angegriffen werden könnten, eine Frage bezüglich der Auslegung einer Verordnung aufgeworfen worden sei, dieses Gericht sich seiner Verpflichtung zur Anrufung des Gerichtshofs nicht entziehen könne.

    59.

    In seinem Urteil verwies der Gerichtshof zunächst auf den Zweck der Vorlagepflicht, durch die „die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollen. … Artikel 177 Absatz 3 soll insbesondere verhindern, dass es innerhalb der Gemeinschaft zu voneinander abweichenden Gerichtsentscheidungen über Fragen des Gemeinschaftsrechts kommt. … die Tragweite der Verpflichtung [ist] daher anhand dieser Ziele … zu beurteilen“ ( 33 ).

    60.

    Anschließend stellte der Gerichtshof anhand dieser Ziele fest, dass die Vorlagepflicht nicht absolut gilt. Er legte drei Ausnahmen von der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte fest.

    61.

    Erstens sind die letztinstanzlichen Gerichte nicht zur Vorlage einer Frage nach der Auslegung verpflichtet, „wenn die Frage nicht entscheidungserheblich ist, d. h., wenn die Antwort auf diese Frage, wie auch immer sie ausfällt, keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben kann“ ( 34 ).

    62.

    Ich würde mich der Ansicht anschließen, dass durchaus darüber diskutiert werden kann, ob es sich hierbei tatsächlich um eine Ausnahme von einer Pflicht oder vielmehr um die Bestätigung des Nichtbestehens einer Pflicht handelt. Wenn es keine (entscheidungserhebliche) Frage des Unionsrechts gibt, wonach sollte dann zu fragen sein oder gefragt werden können? Wenn es der gestellten Frage an Entscheidungserheblichkeit für den Ausgang des Ausgangsverfahrens mangelt, besteht nicht nur keine Pflicht, die Frage vorzulegen, sondern eine solche Frage wäre vielmehr schlicht unzulässig ( 35 ).

    63.

    Allerdings sollte die erste „Ausnahme“ meines Erachtens richtigerweise in ihrem zeitlichen Kontext verstanden werden. Der Gerichtshof stellte dort erstmals fest, dass, entgegen dem Wortlaut von Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Voraussetzung nach dessen Abs. 2 dort ebenfalls gilt. Vielleicht noch wichtiger ist jedoch, dass durch die Schaffung eines Bindeglieds zwischen diesen beiden Absätzen des Art. 267 AEUV die erste Ausnahme strukturell mit dem Einzelfall und dem Mikrozweck des Vorabentscheidungsersuchens verbunden wurde, nämlich die nationalen Gerichte (erster wie auch letzter Instanz) bei der Entscheidung über einen bei ihnen anhängigen konkreten Rechtsstreit, soweit sich eine Frage des Unionsrechts stellt, zu unterstützen.

    64.

    Zweitens besteht keine Vorlagepflicht, wenn „die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist“ ( 36 ), sowie, „wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind“ ( 37 ).

    65.

    Unter diese zweite Ausnahme, die umgangssprachlich (auch in anderen Sprachen) als „acte éclairé“ bezeichnet wird, fallen Fallgestaltungen, in denen bereits eine Präzedenzentscheidung des Gerichtshofs vorliegt. Sie entwickelte sich als Erweiterung der Tragweite des Urteils Da Costa, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „die Wirkung, die von einer durch den Gerichtshof … in einem früheren Verfahren gegebenen Auslegung ausgeht, … den inneren Grund [der Vorlagepflicht] entfallen und sie somit sinnlos erscheinen lassen [kann]“ ( 38 ).

    66.

    Drittens stellte der Gerichtshof schließlich fest, dass keine Vorlagepflicht besteht, wenn „die richtige Anwendung des [Unions]rechts derartig offenkundig [ist], dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“ ( 39 ). Dies war im Wesentlichen die Geburtsstunde der (wohl) geläufigsten Ausnahme, nämlich der Ausnahme des „fehlenden vernünftigen Zweifels“ oder (auch in anderen Sprachen) der „acte clair“-Ausnahme.

    67.

    Der Gerichtshof führte anschließend mehrere Voraussetzungen auf, die ein nationales Gericht als erfüllt ansehen muss, um zu dem Schluss gelangen zu können, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel im Hinblick auf die Auslegung der in Rede stehenden Vorschrift des Unionsrechts bleibt. Es mag unterschiedliche Ansichten darüber geben können, ob die Voraussetzung, dass das nationale Gericht „überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“ ( 40 ), eine dieser besonderen Voraussetzungen darstellt oder ob es sich hierbei vielmehr um eine Art allgemeines Kriterium handelt, das näher konkretisiert, bei welcher Fallgestaltung kein vernünftiger Zweifel besteht.

    68.

    Auch wenn angenommen wird, dass es sich um ein „allgemeines“ Kriterium handelt, hat der Gerichtshof indes anschließend weitere Merkmale des Gemeinschaftsrechts aufgeführt, die das nationale Gericht vor einer solchen Schlussfolgerung in Betracht ziehen soll. Hierzu gehört, dass i) „die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift … einen Vergleich ihrer Sprachfassungen [erfordert]“ ( 41 ), ii) „Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und in den verschiedenen nationalen Rechten nicht unbedingt den gleichen Inhalt haben müssen“ ( 42 ) und iii) „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts … in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen [ist]“ ( 43 ).

    3. Spätere Anwendungspraxis (des Gerichtshofs)

    69.

    Über die Jahre hinweg hat es nicht an Beiträgen des Schrifttums ( 44 ) oder gar der Gerichte ( 45 ) zur Erörterung der Frage gemangelt, ob die Ausnahmen nach der CILFIT‑Rechtsprechung, insbesondere die den acte clair betreffenden Aspekte, wirklich als Voraussetzungen im Sinne von Prüfungskriterien für die nationalen letztinstanzlichen Gerichte zu verstehen seien oder ob sie eher als „allgemeine Anleitung“ oder „Richtschnur“ ( 46 ) zu betrachten und nicht wörtlich zu nehmen seien.

    70.

    Maßgebend ist insoweit die hierzu ergangene spätere Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst. Zwei aus dieser Rechtsprechung hervorgehende Gesichtspunkte verdienen besondere Aufmerksamkeit. Zum einen hat der Gerichtshof das Urteil CILFIT zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich überprüft oder nuanciert, obwohl er hierzu mehrfach von mehreren Generalanwälten aufgefordert wurde. Zum anderen könnte, soweit es um Rechtssachen geht, in denen die CILFIT‑Kriterien tatsächlich angewendet wurden, die Ansicht vertreten werden, dass die Anwendungspraxis des Gerichtshofs sich, insbesondere im letzten Jahrzehnt, etwas geändert hat.

    71.

    Erstens wollte in der Rechtssache Intermodal Transports ( 47 ) das vorlegende Gericht klären lassen, ob es Fragen nach der Auslegung der Kombinierten Nomenklatur (KN) in dem Fall stellen müsse, dass ein Betroffener in einem Rechtsstreit über die Einreihung einer bestimmten Ware in die KN sich auf die Ansicht einer Zollbehörde beruft, die diese in einer einem Dritten erteilten verbindlichen Zolltarifauskunft für eine ähnliche Ware zum Ausdruck gebracht hat, und das Gericht der Auffassung ist, dass diese verbindliche Zolltarifauskunft nicht mit der KN in Einklang steht. Einfach ausgedrückt: Hat ein Gericht vernünftige Zweifel, wenn es eine andere Rechtsauffassung hat als die Behörde eines anderen Mitgliedstaats?

    72.

    Der Gerichtshof hat entschieden, dass die dritte CILFIT‑Ausnahme (acte clair) auch bei einer abweichenden Auslegung des Unionsrechts durch eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats noch erfüllt sein könne. Er stellte fest, dass der Umstand, dass die Zollbehörden eines anderen Mitgliedstaats eine Zolltarifauskunft erteilt haben, die eine andere Auslegung der KN wiederzugeben scheint als die Auslegung, für die das vorlegende Gericht sich in Bezug auf ein ähnliches, in diesem Rechtsstreit streitiges Erzeugnis meint entscheiden zu müssen, „dieses Gericht sicherlich dazu veranlassen [muss], bei seiner Beurteilung, ob es an einem vernünftigen Zweifel in Bezug auf die richtige Anwendung der KN fehlt, besonders sorgfältig zu sein“ ( 48 ). Das Vorliegen einer solchen verbindlichen Zolltarifauskunft als solches kann das vorlegende Gericht jedoch nicht daran hindern, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die richtige Anwendung einer Tarifposition der KN derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt ( 49 ).

    73.

    Zweitens wurde vom vorlegenden Gericht (Hoge Raad der Nederlanden) in der Rechtssache X und van Dijk ( 50 ) gefragt, ob der Hoge Raad, trotz des Umstands, dass von einem niedrigeren Gericht der Niederlande ein Vorabentscheidungsersuchen zu derselben Fragestellung vorgelegt worden sei, befugt sei, über einen Rechtsstreit zu entscheiden, ohne dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen und ohne die Antworten auf die von diesem niedrigeren Gericht gestellten Fragen abzuwarten.

    74.

    Der Gerichtshof hat klargestellt, dass das Bestehen von Auslegungszweifeln eines niedrigeren Gerichts eines Mitgliedstaats nicht ausschließe, dass für ein letztinstanzliches Gericht desselben Staats ein acte clair vorliegt. Er betonte zunächst, dass „es allein Sache der einzelstaatlichen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, [ist,] in eigener Verantwortung und unabhängig zu beurteilen, ob sie es mit einem Acte clair zu tun haben“ ( 51 ). „Da[, so der Gerichtshof weiter,] der Umstand, dass ein niedrigeres Gericht dem Gerichtshof eine Vorlagefrage zur gleichen Problematik gestellt hat, wie sie sich in dem Rechtsstreit vor dem in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gericht stellt, als solcher nicht bedeutet, dass die Voraussetzungen des Urteils [CILFIT] nicht mehr erfüllt werden können, so dass das letztgenannte Gericht entscheiden könnte, von einer Anrufung des Gerichtshofs abzusehen und die bei ihm aufgeworfene Frage in eigener Verantwortung zu entscheiden, ist davon auszugehen, dass ein solcher Umstand das oberste einzelstaatliche Gericht auch nicht zwingt, die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage des niedrigeren einzelstaatlichen Gerichts abzuwarten“ ( 52 ).

    75.

    Drittens wandten sich die Kläger in der Rechtssache Ferreira Da Silva e Brito ( 53 ) mit einer gegen den portugiesischen Staat gerichteten Klage aus außervertraglicher Haftung gegen die Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne der Richtlinie 2001/23/EG ( 54 ) durch das Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof, Portugal). Sie machten geltend, das Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof) hätte seiner Vorlagepflicht nachkommen und dem Gerichtshof eine Frage hierzu vorlegen müssen. Das vorlegende Gericht fragte den Gerichtshof, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen sei, dass das Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof) in Anbetracht des Umstands, dass die nationalen Instanzgerichte, die mit der Sache befasst gewesen seien, einander widersprechende Entscheidungen erlassen hätten, verpflichtet sei, dem Gerichtshof eine Frage nach der zutreffenden Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne der Richtlinie 2001/23 zur Vorabentscheidung vorzulegen.

    76.

    Der Gerichtshof hat klargestellt, dass „[i]nsoweit … das bloße Vorliegen sich widersprechender Entscheidungen anderer einzelstaatlicher Gerichte kein ausschlaggebendes Kriterium für das Bestehen der in Art. 267 Abs. 3 AEUV genannten Pflicht darstellen [kann]. Das letztinstanzliche Gericht kann nämlich in Bezug auf eine unionsrechtliche Bestimmung der Ansicht sein, dass ungeachtet einer bestimmten Auslegung, zu der Instanzgerichte gelangt sind, die davon verschiedene Auslegung, die es vorzunehmen beabsichtigt, ohne jeden vernünftigen Zweifel geboten ist.“ ( 55 ) Anders als im Urteil X und van Dijk war der Gerichtshof jedoch in Anbetracht des konkret vorliegenden Sachverhalts der Ansicht, dass aufgrund der sich widersprechenden Strömungen in der Rechtsprechung auf nationaler Ebene sowie der immer wieder auftretenden Schwierigkeiten bei der Auslegung dieses Begriffs in den verschiedenen Mitgliedstaaten ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegen muss, um die Gefahr einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts auszuschließen ( 56 ).

    77.

    Viertens ist der Gerichtshof im Urteil Association France Nature Environnement ( 57 ) zwar auf die Frage des vernünftigen Zweifels nicht ausdrücklich eingegangen, hat jedoch eine Anwendung der CILFIT‑Ausnahmen (und zwar konkret sowohl die des acte clair als auch die des acte éclairé) ausgeschlossen. In dem konkreten Kontext, dass ein letztinstanzliches Gericht von der Ausnahmebefugnis Gebrauch machen will, die es ihm gestattet, zu entscheiden, bestimmte Wirkungen eines mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Rechtsakts aufrechtzuerhalten, hielt der Gerichtshof an einer strengen Auslegung der Vorlagepflicht fest.

    78.

    Der Gerichtshof verwies zunächst auf die Kriterien für das Vorliegen eines „acte clair“ ( 58 ) und führte aus, dass, „[w]as eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens anbelangt, … festzustellen [ist], dass vor dem Hintergrund, dass die Frage nach der Möglichkeit für ein nationales Gericht, bestimmte Wirkungen einer Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts zeitlich zu begrenzen, die unter Verstoß gegen die in [einer Richtlinie] vorgesehenen Pflichten … erlassen wurde, seit dem [ersten] Urteil … nicht Gegenstand einer anderen Entscheidung des Gerichtshofs war ( 59 ), und eine solche Möglichkeit die Ausnahme darstellt, … das nationale Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen muss, wenn es den geringsten Zweifel hinsichtlich der richtigen Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts hat“ ( 60 ). „Insbesondere könnte das nationale Gericht, da die Ausübung dieser Ausnahmebefugnis die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts beeinträchtigen kann, nur dann von seiner Pflicht, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, entbunden werden, wenn es davon überzeugt ist, dass hinsichtlich der Ausübung der Ausnahmebefugnis kein vernünftiger Zweifel besteht. Außerdem ist das Fehlen eines solchen Zweifels substantiiert nachzuweisen.“ ( 61 )

    79.

    Bei Betrachtung dieser Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit sind mindestens drei Aspekte festzuhalten.

    80.

    Erstens wird in allen Rechtssachen zwar auf das Urteil CILFIT verwiesen und werden in einigen sogar die dort genannten Ausnahmen herangezogen, aber in keiner von ihnen die CILFIT‑Kriterien tatsächlich angewandt. Man mag die Ansicht vertreten, dass es sich um tatsächliche Umstände handelte, die von den nationalen Gerichten anzuwenden seien. Dies ist jedoch nicht ganz zutreffend, denn in diesen Rechtssachen wurde die Frage, ob das vorlegende Gericht die CILFIT‑Ausnahmen, zumeist diejenige des acte clair, unter den gegebenen Umständen anwenden durfte, vom Gerichtshof selbst geprüft. Der Gerichtshof nimmt eine solche Bewertung zwar eindeutig vor, wendet gleichwohl aber seine eigenen Prüfungskriterien offenbar selbst nicht an.

    81.

    Zweitens zeigt die oben angeführte Rechtsprechung sehr gut die Schwierigkeit, die sich in der Anwendungspraxis aus der mangelnden begrifflichen Klarheit im Hinblick auf die „Subjektivität/Objektivität“ des Bestehens „eines vernünftigen Zweifels“ ergibt. Handelt es sich um einen reinen subjektiven Zweifel, d. h. einen aus Sicht des nationalen Gerichts bestehenden Zweifel? Oder ist dieser Zweifel nur subjektiv, solange er nicht durch gewichtige objektive Anhaltspunkte widerlegt wird? Oder muss der Richter tatsächlich subjektiv davon ausgegangen sein, dass objektive Zweifel bestanden? Die ersten beiden Rechtssachen, Intermodal Transports und X und Van Dijk, sprechen eher für einen subjektiven Ansatz und somit für eine Übertragung (die Entscheidung kann letztlich am besten der nationale Richter treffen). Dagegen sprechen die anderen beiden Rechtssachen, Ferreira Da Silva e Brito und Association France Nature Environnement, stark für einen objektiven Ansatz (aufgrund der objektiven Umstände hätte der Richter eine bessere Entscheidung treffen müssen).

    82.

    Drittens führt eine solche Verlagerung der Prüfung natürlich zu etwas unterschiedlichen Ergebnissen. Zwar ist sicherlich jeder Fall seinem Sachverhalt nach anders. Allgemein betrachtet, ist jedoch nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie beispielsweise die Urteile X und van Dijk und Ferreira Da Silva e Brito miteinander in Einklang zu bringen sein sollen. Es wäre anzunehmen, dass vernünftige Zweifel bestehen dürften (und somit kein acte clair vorliegen dürfte), wenn es einander objektiv widersprechende Ansichten zur Auslegung derselben Bestimmungen gibt. Allerdings ließe sich, wenn man Gesichtspunkte der förmlichen Zuständigkeit oder der Gewaltenteilung in die Betrachtung einbezieht, das Urteil Intermodal Transports davon unterscheiden: Selbst wenn es zwischen Rechtsordnungen abweichende Rechtsauslegungen ein und desselben Unionsrechtsakts gibt, handelt es sich dabei doch „nur“ um das Werk von Behörden und nicht um gerichtliche Entscheidungen.

    83.

    Sowohl in der Rechtssache X und van Dijk als auch in der Rechtssache Ferreira Da Silva e Brito gab es jedoch voneinander abweichende gerichtliche Entscheidungen zu denselben Aspekten des Unionsrechts innerhalb der jeweiligen Rechtsordnungen. Da diese beiden Rechtssachen verschiedene Verfahren innerhalb dieser Mitgliedstaaten betrafen, ließe sich kaum die Ansicht vertreten, dass die eine oder die andere einen „einmaligen Fehler“ eines Instanzgerichts darstellte, der lediglich von einem letztinstanzlichen Gericht habe korrigiert werden müssen. Es gab objektiv unterschiedliche Auslegungen derselben Rechtsvorschriften in verschiedenen Verfahren innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats.

    84.

    Wiederum: Jeder Fall liegt seinem Sachverhalt nach anders. Es könnten somit möglicherweise relevante tatsächliche Unterschiede zwischen den beiden Rechtssachen feststellbar sein, die ein unterschiedliches Ergebnis rechtfertigen. Das interessanteste unter ihnen ist vielleicht der Ansatz, dass die Rechtssache X und van Dijk eine anerkannte unterschiedliche Auslegung nur innerhalb ein und derselben nationalen Rechtsordnung betraf, während diese Unterschiedlichkeit in der Rechtssache Ferreira Da Silva e Brito nicht nur innerhalb eines Mitgliedstaats, sondern offenbar auch innerhalb der Union insgesamt bestand. Wie der Gerichtshof im letztgenannten Urteil festgestellt hat, habe nämlich „die Auslegung des Begriffs ‚Betriebsübergang‘ zu zahlreichen Fragen einer Vielzahl nationaler Gerichte geführt …, die sich gezwungen sahen, den Gerichtshof anzurufen. Diese Fragen belegen nicht nur das Vorhandensein von Auslegungsschwierigkeiten, sondern auch, dass auf Unionsebene die Gefahr von Divergenzen in der Rechtsprechung besteht.“ ( 62 )

    85.

    War es tatsächlich die Absicht des Gerichtshofs, das Urteil CILFIT plötzlich wörtlich zu nehmen, d. h., dass ein nationales Gericht „überzeugt [sein muss], dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“ ( 63 ), im Gegensatz zu einander widersprechenden Entscheidungen zu unionsrechtlichen Fragen innerhalb desselben Mitgliedstaats? Die Möglichkeit eines solchen Verständnisses ist einladend. Dahinter verbirgt sich indes eine sehr wichtige Annahme, nämlich die, dass es Sache der jeweiligen obersten nationalen Gerichte sei, „ihre Angelegenheiten selbst zu regeln“ und die nationale Rechtsprechung zu vereinheitlichen. Die Vorlagepflicht bestünde nur dann, wenn es Auslegungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten gäbe ( 64 ).

    86.

    Es bleibt jedoch dabei, dass insgesamt betrachtet die im vorliegenden Abschnitt skizzierte jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht leicht in Einklang zu bringen ist. Dies hat mehrere Autoren im Schrifttum zu Spekulationen darüber veranlasst, ob der Gerichtshof die CILFIT‑Kriterien für einen acte clair, eher stillschweigend, gelockert hat ( 65 ). Diese Sichtweise wird offenbar von einigen nationalen Gerichten geteilt ( 66 ).

    87.

    Zusammenfassend ist schon durch die skizzierte Vielfalt in der Rechtsprechung für sich genommen eine Stellungnahme (der Großen Kammer) des Gerichtshofs zur Klarstellung der Frage gerechtfertigt, welchen Umfang die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV genau hat und welche möglichen Ausnahmen von dieser Pflicht genau gelten.

    C.   Probleme mit dem Urteil CILFIT

    88.

    Im vorliegenden Abschnitt möchte ich auf die Probleme eingehen (C), die meines Erachtens für die im folgenden Abschnitt (D) vertretene Überprüfung des Urteils CILFIT maßgebend sein sollten. Die Probleme ordne ich in vier Kategorien ein: diejenigen, die konzeptioneller Art sind und im Urteil CILFIT von Anfang an bestanden und ihm eigen waren (1), diejenigen, die sich auf die Handhabbarkeit der CILFIT‑Kriterien beziehen (2), diejenigen, die die systematische Inkonsistenz der CILFIT‑Kriterien mit anderen Verfahrensarten und Rechtsbehelfen des Unionsrechts betreffen (3), und schließlich diejenigen, die sich später aus der nachfolgenden Fortentwicklung des Unionsrechts und des Gerichtssystems der Union ergeben haben (4).

    1. Konzeptionelle Probleme

    89.

    Die Originalvorlage und ‑gestaltung des Urteils CILFIT weist eine Reihe von Mängeln auf. Deshalb waren die CILFIT‑Kriterien schon von ihrer Einführung an konzeptionell problematisch.

    90.

    Als Erstes und vor allem ist das zu nennen, was ich als „Hoffmann-Laroche-CILFIT‑Bruch“ bezeichnen möchte. Einfach ausgedrückt passen die Grundgedanken der CILFIT‑Ausnahmen nicht zum Wesen der Verpflichtung, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, im Sinne des Urteils Hoffmann-Laroche.

    91.

    Seit dem Urteil Hoffmann-Laroche im Jahr 1977 hat der Gerichtshof stets betont, dass der Zweck der Vorlagepflicht darin bestehe, zu verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine Rechtsprechung herausbildet, die mit derjenigen in anderen Mitgliedstaaten oder auch derjenigen des Gerichtshofs nicht im Einklang steht ( 67 ). Der Grundgedanke dieser Vorlagepflicht ist eindeutig struktureller Natur und auf eine einheitliche Auslegung in der gesamten Union ausgerichtet. Ihre Voraussetzungen und ihr Wesen sind offenbar objektiv und auf die Rechtsprechung im Allgemeinen, also nicht lediglich auf den dem vorlegenden Gericht vorliegenden Einzelfall ausgerichtet: Es soll keine Abweichungen in der nationalen Rechtsprechung (in den anderen damaligen Amtssprachen „la jurisprudence“; „guirisprudenza“ oder „rechtspraak“) geben ( 68 ).

    92.

    Etwa fünf Jahre später jedoch, als die Ausnahmen von dieser Verpflichtung im Urteil CILFIT benannt wurden, wurden die für diese Ausnahmen maßgebenden Grundgedanken in erster Linie auf den Einzelfall und die subjektiven gerichtlichen Bedenken in diesem konkreten Fall ausgerichtet. Die einzige echte Ausnahme, die strukturelle oder systematische Aspekte mit einbezieht, die vom nationalen Richter einen Blick über die einzelne Rechtssache hinaus verlangen, ist diejenige des acte éclairé, also des Vorliegens einer einschlägigen Präzedenzentscheidung. Dagegen bezieht sich die erste Ausnahme (Bestätigung der Entscheidungserheblichkeit der Frage) ausschließlich auf den konkreten Fall. Vor allem wird die Ausnahme des acte clair als seltsame Kombination einzelfallbezogener Merkmale verstanden, von denen einige objektiv und allgemein, die meisten jedoch subjektiv sind.

    93.

    Hier liegt meines Erachtens das eigentliche Problem. Normalerweise wäre zu erwarten, dass die Ausnahmen von einer Pflicht deren übergreifende Grundgedanken und Zweck widerspiegeln. Sie müssten gewissermaßen die andere Seite derselben sprichwörtlichen Medaille bilden. Jedoch sind die Ausnahmen letztlich von der Pflicht, die sie herbeiführen sollen, losgelöst. Das Urteil CILFIT gab zwar vor, den Zielen des Urteils Hoffmann-Laroche folgen zu wollen ( 69 ), gestaltete die Ausnahmen jedoch nach ganz anderen Grundgedanken aus.

    94.

    Zweitens und beiläufig ist festzuhalten, dass auch der entstehungsgeschichtliche Ursprung der dritten Ausnahme (acte clair) die Zweifel an der systematischen Geeignetheit dieses speziellen rechtlichen Transplantats bestätigen dürfte. Im Urteil CILFIT folgte der Gerichtshof im Wesentlichen dem Vorbringen der Beklagten und offenbar der Ansicht des vorlegenden Gerichts und machte sie sich zu eigen: Die Auslegung der in Rede stehenden Verordnung war „so offenkundig, dass nicht einmal die Möglichkeit eines Auslegungszweifels in Betracht komme und … daher ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof nicht erforderlich sei“ ( 70 ). In seinem Urteil übernahm der Gerichtshof diesen Ansatz weitgehend, schränkte ihn jedoch durch Hinzufügung von „vernünftig“ zur näheren Bezeichnung der Art des Auslegungszweifels etwas ein.

    95.

    Dass diese Ausnahme im Zusammenhang mit einem konkreten Rechtsstreit entstand, ist für sich genommen unproblematisch. Fraglich ist eher die Übertragbarkeit einer speziell französischen Lehre, die zu einem anderen Zweck in einen ganz anderen Zusammenhang entwickelt wurde, in ein unionsrechtliches Verfahren sui generis ( 71 ). Die anschließend als „Lehre vom acte clair“ bekannt gewordene Theorie wurde im französischen Recht in verschiedenen Zusammenhängen angewandt, insbesondere in die Auslegung von Verträgen betreffenden Fällen. Während ihre Auslegung grundsätzlich ausschließlich dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten vorbehalten war (und den nationalen Gerichten lediglich die Anwendung dieser Auslegung auf den Einzelfall oblag), wandten die französischen Gerichte diese Theorie zur Stärkung der gerichtlichen Auslegungsbefugnisse zulasten derjenigen der Exekutive an ( 72 ). Ab 1964 begann der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), sie im Kontext der Vorlagepflicht anzuwenden, um die Letztere zu seinen eigenen Gunsten einzuschränken ( 73 ). Vermutlich in dem Bestreben, die nationale Anwendung der Praxis des acte clair unter Kontrolle zu bringen, übernahm der Gerichtshof sie als eigene Praxis und transplantierte damit ein Instrument in die Unionsrechtsordnung, das in seinem ursprünglichen System eine ganz andere Funktion hatte.

    96.

    Drittens bliebe es, selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass solche transfunktionalen rechtlichen Transplantate tatsächlich ohne Gefährdung der Gesundheit des (Empfänger‑)Patienten möglich seien, dabei, dass das, was in die (damalige Gemeinschafts‑)Rechtsordnung transplantiert worden war, schlicht eine andere Funktion hatte. Die CILFIT‑Ausnahmen, insbesondere diejenige des acte clair, blieben auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf den Ausgang eines Einzelfalls ausgerichtet. Sprachlich blieb es bei der richtigen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts im konkreten Fall.

    97.

    Das Erfordernis einer Kontrolle der richtigen Rechtsanwendung in jedem Einzelfall ist jedoch eine sehr große Herausforderung. Dieses Ideal ist selbst in hierarchisch geprägten nationalen Systemen, die sich auf eine umfassende Einzelkontrolle der Richtigkeit von Einzelfallentscheidungen stützen und in denen die höheren Gerichte jährlich Tausende oder eher Zehntausende von Entscheidungen überwachen, sehr schwer zu erreichen. Stärker gleichrangig geprägten Systemen der gerichtlichen Kontrolle, die sich umfassend auf die Wirkung von Präzedenzentscheidungen stützen und in denen einer einzigen einschlägigen Vorentscheidung Gewicht zukommen kann, ist dieser ideale und systematische Grundgedanke jedoch fremd ( 74 ). Meines Erachtens mag diskutiert werden können, wie nahe das gegenwärtige Gerichtssystem des Unionsrechts dem letztgenannten gleichrangigen Ideal kommt. Jedenfalls aber liegen sicherlich Welten zwischen ihm und dem erstgenannten, hierarchischen Modell.

    98.

    Schließlich haben die CILFIT‑Ausnahmen von der Vorlagepflicht die Tendenz, die Grenze zwischen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu verwischen, womit die richtige Aufgabenteilung nach Art. 267 AEUV unterstrichen wird. Wenn Voraussetzung für eine Ausnahme von der Vorlagepflicht der Nachweis des Fehlens eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts in einem konkreten Fall ist, wo verläuft dann, zumindest annäherungsweise, die Grenze zwischen den Aufgaben des Gerichtshofs und denjenigen der nationalen Gerichte?

    2. Handhabbarkeit

    99.

    Es besteht keine Notwendigkeit, die Debatte darüber wieder aufleben zu lassen, ob die CILFIT‑Kriterien, insbesondere diejenigen zum Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Auslegung und Anwendung des Unionsrechts im konkreten Fall (die Acte-clair-Ausnahme), Prüfungskriterien darstellen oder lediglich eine Richtschnur sind. Tatsächlich funktionieren sie weder auf die eine noch auf die andere Weise. Sind sie Prüfungskriterien, sind sie nie vollständig abzuarbeiten. Sind sie eine Richtschnur, bringt dies untrennbar die Auswahlproblematik mit sich, welche Richtschnur im Einzelfall anzuwenden ist. Das letztgenannte Problem wird dann selbstverständlich zum Zeitpunkt der etwaigen Durchsetzung der Vorlagepflicht akut: Wenn es keine eindeutigen Kriterien gibt, wie sollte diese Pflicht dann jemals durchgesetzt werden können, ohne dass diese Durchsetzung willkürlich wäre?

    100.

    Von mehreren Generalanwälten ist in der Vergangenheit darauf hingewiesen worden, dass die Kriterien nicht handhabbar seien. Interessant ist im Übrigen auch, dass diese Kriterien von den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR), auch in Rechtsordnungen, die die Vorlagepflicht tatsächlich durchsetzen, nicht angewendet worden sind.

    101.

    Erstens haben mehrere meiner geschätzten Vorgänger, bekannterweise beginnend mit Generalanwalt Jacobs Bedenken im Kontext der zolltariflichen Einordnung bestimmter Kleidungsstücke für Frauen als Schlafanzüge, die mit der Acte-clair-Ausnahme verbundenen praktischen Schwierigkeiten beanstandet. In der Rechtssache Wiener lehnte Generalanwalt Jacobs die Ansicht ab, dass „die nationalen Gerichte nach dem Urteil CILFIT verpflichtet sind, eine Maßnahme der Gemeinschaft in jeder der … offiziellen Sprachen der Gemeinschaft zu prüfen … Dies würde in vielen Fällen für die nationalen Gerichte einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten“, und hielt es insoweit für eher befremdlich, von nationalen Gerichten zu verlangen, sich an ein Verfahren zu halten, „das der Gerichtshof selbst offensichtlich selten anwendet“ ( 75 ). Er führte weiter aus, dass, „[b]ei einer wörtlichen Auslegung des Urteils CILFIT … alle gemeinschaftsrechtlichen Fragen … von allen letztinstanzlichen Gerichten vorgelegt werden [müssten]“ ( 76 ).

    102.

    Generalanwältin Stix-Hackl kam in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Intermodal Transports zu dem Schluss, dass dann, wenn die nationalen Gerichte verpflichtet wären, eine Vorschrift des damaligen Gemeinschaftsrechts in jeder der offiziellen Sprachen der Gemeinschaft zu prüfen, „den nationalen Gerichten eine praktisch untragbare Bürde auferleg[t würde]“ ( 77 ). Ihrer Ansicht nach können die CILFIT‑Kriterien nicht als „eine Art schematisch anzuwendende Entscheidungsanleitung“ verwendet werden ( 78 ). Generalanwalt Ruiz-Jarabo betonte in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Gaston Schul die Notwendigkeit, das Urteil CILFIT insgesamt zu überprüfen, und stellte insoweit fest, dass „der vorgeschlagene Prüfungsmaßstab schon zu der Zeit, als er erstmals formuliert wurde, nicht handhabbar [war], [sich] aber in der Realität des Jahres 2005 … als unsinnig [erweist]“ ( 79 ). Generalanwalt Wahl suchte in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache X und van Dijk die Bedeutung zu betonen, die dem eigenen Spielraum zukomme, den die nationalen letztinstanzlichen Gerichte bei der Beurteilung haben müssten, ob die Vorlagepflicht bestehe; er war insoweit der Ansicht, die CILFIT‑Kriterien seien als Richtschnur anzusehen, und kam zu dem Schluss, dass, „[wenn] ein innerstaatliches letztinstanzliches Gericht von der Richtigkeit seiner eigenen Rechtsauffassung so überzeugt [ist], dass es die unionsrechtliche Frage auch in eigener Verantwortung selbst lösen kann (und möglicherweise dann dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden kann), ohne den Gerichtshof anzurufen, … es dazu auch berechtigt [ist]“ ( 80 ).

    103.

    Es besteht meines Erachtens keine Notwendigkeit, die oben angeführten von den Generalanwälten bereits so eloquent vorgebrachten Argumente zu wiederholen oder darzulegen, warum und inwieweit die CILFIT‑Kriterien, wenn sie jedes für sich wörtlich genommen werden, in keiner Weise handhabbar sind. Wie nämlich von Generalanwalt Wahl treffend und schlagfertig auf den Punkt gebracht, „wäre die Wahrscheinlichkeit, es mit einem ‚wirklichen‘Acte clair zu tun zu haben, ungefähr so groß, wie einem Einhorn zu begegnen“ ( 81 ).

    104.

    Einfach ausgedrückt, sind die CILFIT‑Kriterien für das Vorliegen der Acte‑clair-Ausnahme unausweichlich mit dem oben bereits hervorgehobenen konzeptionellen Problem belastet ( 82 ). Zum einen gibt es ein ordentliches Maß an nicht ermittelbarer und somit nicht überprüfbarer Subjektivität: Die nationalen Gerichte müssen „überzeugt“ sein, dass in der Angelegenheit nicht nur „auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“, sondern sie auch „für die Entscheidung über eine Rechtssache erforderlich“ ist, und müssen insoweit subjektiv „vernünftigen Zweifel“ haben. Zum anderen sind diese, objektiv formulierten Aspekte schlicht unerreichbar, jedenfalls für sterbliche nationale Richter, die nicht über die Fähigkeiten, Zeit und Mittel von Dworkins Richter Herkules verfügen (Vergleich [aller] Sprachfassungen; Auslegung jeder Bestimmung des Unionsrechts im Licht des Unionsrechts in seiner Gesamtheit bei gleichzeitiger perfekter Kenntnis seines Entwicklungsstands zum Zeitpunkt der Auslegung dieser Bestimmung).

    105.

    Zweitens werden die CILFIT‑Kriterien für einen „acte clair“, in Anbetracht des vorstehenden Abschnitts nachvollziehbarerweise von letztinstanzlichen nationalen Gerichten im Rahmen der Prüfung der dritten Ausnahme von der Vorlagepflicht kaum kohärent und systematisch angewandt ( 83 ). Zwar gibt es selbstverständlich Fälle, in denen letztinstanzliche nationale Gerichte auf das Urteil CILFIT Bezug nehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit auch die in diesem Urteil genannten Kriterien, insbesondere die besonderen Anforderungen an das Vorliegen eines acte clair, tatsächlich als solche angewandt würden ( 84 ). Es gibt Fälle, in denen die nationalen Gerichte die CILFIT‑Kriterien durch ihre eigenen Kriterien und Maßstäbe ersetzen. Beispielsweise sind die französischen Obergerichte vielfach der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Vorlagepflicht erfüllt sind, wenn es „ernsthafte Schwierigkeiten“ bei der Auslegung des Unionsrechts gibt, und lockern die Vorlagepflicht damit gegenüber dem, was aus dem Wortlaut und der Ratio des Urteils CILFIT folgt, stark auf ( 85 ). Ebenso stützen auch andere Obergerichte die Vorlagepflicht unabhängig davon, ob Auslegungszweifel bestehen, auf die Art der gestellten Frage ( 86 ).

    106.

    Drittens gibt es einige Mitgliedstaaten, in denen die Einhaltung der Vorlagepflicht von den Verfassungsgerichten im Wege einer individuellen Verfassungsbeschwerde, mit der das Recht auf den gesetzlichen Richter oder ein faires Verfahren geltend gemacht wird, überprüft wird ( 87 ). Der in diesen Rechtsordnungen angelegte allgemeine Maßstab ist jedoch tatsächlich weniger streng als derjenige nach dem Urteil CILFIT und basiert auf Begriffen einer offenkundig unvertretbaren oder willkürlichen Auslegung des Unionsrechts, häufig in Verbindung mit der Pflicht zur angemessenen Begründung, warum eine Vorlage an den Gerichtshof nicht erforderlich war ( 88 ).

    107.

    Es mag die Ansicht vertreten werden, dass nationale Verfassungsgerichte die Verpflichtung zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anhand ihrer nationalen Maßstäbe und Begriffe der Verfassungsmäßigkeit und des Grundrechtsschutzes überprüfen. Dies gilt sicherlich im Hinblick darauf, ob die Ermittlung des einschlägigen nationalen Rechts als solche (Recht auf den gesetzlichen Richter, auf ein faires Verfahren, auf ein rechtsstaatliches Verfahren oder Sonstiges) in der nationalen Rechtsordnung ein garantiertes Recht ist. Etwas ganz anderes ist die Frage des internen Maßstabs, d. h. der konkreten Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein Vorabentscheidungsersuchen gestellt werden sollte. Im Hinblick auf den letztgenannten Punkt kann sicherlich angenommen werden, dass den nationalen Verfassungsvorschriften hierzu nichts zu entnehmen ist. Soweit es allerdings um die wirksame Durchsetzung der Pflicht geht, ist offenbar tatsächlich keines der nationalen Verfassungsgerichte dem Urteil CILFIT gefolgt.

    108.

    Viertens verweist der EGMR auf die CILFIT‑Kriterien, soweit er die Nichtvorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof durch nationale letztinstanzliche Gerichte im Rahmen des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) prüft. Der EGMR hat beispielsweise festgestellt, dass in der Rechtssache Dhahbi/Italien ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag, weil das innerstaatliche Gericht nicht begründet hatte, warum es von der Vorlage einer Frage an den Gerichtshof abgesehen hatte. Er stellte fest, dass der italienische Kassationsgerichtshof auf das Ersuchen des Beschwerdeführers auf Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens nicht eingegangen sei und weder erläutert habe, warum die gestellte Frage eine Vorlage an den Gerichtshof nicht rechtfertige, noch auf seine Rechtsprechung Bezug genommen habe ( 89 ). Der EGMR war in anderer Sache jedoch der Auffassung, dass eine zusammenfassende Begründung für die Ablehnung eines Vorabentscheidungsersuchens ausreiche, soweit das nationale Gericht bereits in einem anderen Teil seines Urteils zu dem Schluss gekommen sei, dass ein solches Ersuchen überflüssig sei ( 90 ). Der EGMR hat ebenfalls entschieden, dass ein nationales letztinstanzliches Gericht dann, wenn es die Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung tatsächlich ablehne oder unterlasse, diese Entscheidung anhand der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgesehenen Ausnahmen begründen müsse. Es müsse insbesondere angeben, aus welchen Gründen es die Frage für unerheblich halte, ob die fragliche Rechtsvorschrift des Unionsrechts bereits vom Gerichtshof ausgelegt worden sei oder ob die richtige Anwendung des Unionsrechts so offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibe ( 91 ).

    109.

    Allgemein wird bei der Überprüfung durch den EGMR zwar auf die Entscheidung CILFIT Bezug genommen, der Schwerpunkt jedoch weiterhin auf die Begründung einer eine Vorlage ablehnenden nationalen Entscheidung gelegt. Der EGMR prüft also, ohne zum Inhalt oder gar auf die Ebene einer eingehenden Prüfung der nach dem Urteil CILFIT tatsächlich aufgestellten Anforderung des fehlenden „vernünftigen Zweifels“ vorzudringen, ob die nationalen letztinstanzlichen Gerichte hinreichend erläutert haben, warum sie die CILFIT‑Kriterien als erfüllt ansehen, ohne selbst in der Sache zu prüfen, ob dies wirklich der Fall ist.

    110.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Fehlen vernünftiger Vorgaben zum Grundgedanken oder zur Anwendung der Kriterien des Urteils CILFIT nicht nur in der (überraschend einhelligen) Kritik früherer Generalanwälte über Jahre hinweg zum Ausdruck kommt. Dies ergibt sich auch einfach daraus, dass unter denjenigen, denen die Anwendung dieser Verpflichtung obliegt, insbesondere denjenigen, die sie tatsächlich durchsetzen, offenbar niemand den Vorgaben des Gerichtshofs folgt. Dies liegt meines Erachtens nicht daran, dass sie die Rechtsprechung des Gerichtshofs in irgendeiner Weise außer Acht lassen wollten. Vielmehr liegt darin ein natürlicher Selbsterhaltungsmechanismus. Impossibilium nulla est obligatio.

    3. Systematische Kohärenz der unionsrechtlichen Rechtsbehelfe

    111.

    Es gibt noch ein weiteres Argument dafür, warum das Urteil CILFIT überprüft werden muss: die systematische, horizontale Kohärenz der unionsrechtlichen Rechtsbehelfe. Im Kern geht es darum, dass die CILFIT‑Kriterien von den eigenen Mitteln des Unionsrechts zur Durchsetzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV merkwürdig losgelöst sind.

    112.

    Zwar gibt es derzeit keinen konkreten unionsrechtlichen Rechtsbehelf, der den Beteiligten zur Verfügung stünde, falls ihrer Ansicht nach gegen ihr Recht verstoßen wurde, eine Frage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof vorlegen zu lassen ( 92 ). Dies folgt logisch aus dem vom Gerichtshof stets bekräftigten Standpunkt, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens kein automatisches Recht auf Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens haben, da Art. 267 AEUV keinen Rechtsbehelf darstelle, der den Beteiligten eines bei einem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits zur Verfügung steht ( 93 ). In Anbetracht der (mittlerweile) gefestigten nationalen Verfassungsrechtsprechung ( 94 ) sowie der Rechtsprechung des EGMR ( 95 ), wonach es bei Erfüllung der (objektiven) Kriterien für das Vorliegen einer Vorlagepflicht ein ihrem Recht auf ein faires Verfahren innewohnenendes (subjektives) Recht der Parteien dieses Verfahrens gebe, dass ihre Sache dem Gerichtshof vorgelegt werde, kann gleichwohl davon ausgegangen werden, dass dies vielleicht nicht der einzige mögliche Ansatz ist ( 96 ).

    113.

    In Ermangelung eines „unmittelbaren“ Rechtsbehelfs könnte die mögliche Durchsetzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV unter Umständen Gegenstand entweder einer Staatshaftung oder einer Vertragsverletzungsklage sein. Genau an dieser Stelle werden die Dinge jedoch kompliziert.

    114.

    Zum einen besteht seit dem Urteil Köbler die Möglichkeit, vor einem nationalen Gericht den Ersatz des Schadens zu verlangen, der auf die Verletzung individueller Rechte durch eine Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts zurückzuführen ist ( 97 ). Eine solche Klage kann nur Erfolg haben, wenn die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Das gilt auch für die Haftung des Staates für Schäden, die durch eine Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts verursacht wurden ( 98 ).

    115.

    Es gibt jedoch zwei Probleme. Erstens ist Art. 267 Abs. 3 AEUV keine Vorschrift, die „bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen“, so dass die Nichtbeachtung der Vorlagepflicht für sich genommen keine Staatshaftung auslösen kann. Zweitens spielen unabhängig davon die CILFIT‑Kriterien bei der Beurteilung, ob ein Verstoß gegen andere Vorschriften des Unionsrechts vorliegt ( 99 ), zumindest objektiv betrachtet, als Teil der Beurteilung des Verstoßes gegen andere Normen des Unionsrechts gar keine Rolle. Der Maßstab in diesen Fällen ist ein offenkundiger Verstoß gegen das geltende Recht, der zu einem hinreichend qualifizierten Verstoß führen kann ( 100 ).

    116.

    Zum anderen gibt es das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV. Was über Jahre hinweg nur eine theoretische Möglichkeit war ( 101 ), wurde im Jahr 2018 in vollem Umfang eingeführt. In seinem Urteil Kommission/Frankreich ( 102 ) stellte der Gerichtshof im Tenor fest, dass ein Mitgliedstaat konkret dadurch gegen das Unionsrecht verstieß, dass ein letztinstanzliches Gericht dem Gerichtshof kein (einziges) Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hatte, um seiner Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in einer Situation nachzukommen, in der die Auslegung der fraglichen materiell-rechtlichen Vorschriften des Unionsrechts nicht so offenkundig war, dass sie keinen Raum für Zweifel ließ.

    117.

    Zu diesem Ergebnis gelangte der Gerichtshof unter Verweis auf das Urteil CILFIT ( 103 ) oder zumindest auf die darin aufgestellte allgemeine Voraussetzung des Fehlens eines vernünftigen Zweifels. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass der Conseil d’État (Staatsrat) sich dafür entschieden hatte, von einem früheren, Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs betreffenden Urteil des Gerichtshofs abzuweichen, weil sich die fragliche Regelung des Vereinigten Königreichs von der französischen Regelung unterscheide, obwohl „[e]r … nicht sicher sein [konnte], dass der Gerichtshof ohne Weiteres zu demselben Schluss gelangen würde“ ( 104 ). Der Gerichtshof entschied somit, dass der Conseil d’État (Staatsrat) dadurch, dass er in zwei Rechtssachen kein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hatte, „einen Ansatz gewählt [hat], der auf einer Auslegung der Art. 49 und 63 AEUV beruht, die in Widerspruch zu der steht, die im vorliegenden Urteil vorgenommen worden ist. Demnach konnte zum Zeitpunkt der Entscheidung des Conseil d’État (Staatsrat) ein vernünftiger Zweifel hinsichtlich der Auslegung dieser Vorschriften nicht ausgeschlossen werden.“ ( 105 )

    118.

    Drei Gesichtspunkte des letztgenannten Urteils sind erwähnenswert. Erstens war es in diesem Vertragsverletzungsverfahren zweifelsfrei Sache des Gerichtshofs selbst, das Urteil CILFIT anzuwenden. Der Gerichtshof beließ es in dem Urteil jedoch dabei, den im Urteil CILFIT niedergelegten allgemeinen Prüfungsmaßstab lediglich zu benennen, ohne konkrete Kriterien durchzugehen oder sie anzuwenden. Auffällig ist, dass nicht nur hierzu möglicherweise im Widerspruch stehende einschlägige Urteile der letztinstanzlichen Gerichte anderer Mitgliedstaaten oder gar anderer französischer Gerichte, sondern auch die hierzu ergangene frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst, allerdings mit Ausnahme einer einschlägigen Präzedenzentscheidung, unerörtert bleiben.

    119.

    Zweitens steht die damit letztlich erfolgte Bekräftigung einer „strengeren CILFIT‑Rechtsprechung“, zumindest ihrer Ratio nach, in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der hierzu ergangenen jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie insbesondere in den vorstehend erörterten Rechtssachen X und van Dijk und Ferreira Da Silva e Brito zum Ausdruck kommt ( 106 ). Während insbesondere im Urteil X und van Dijk offenbar ein Vorgehen mit leichter Hand zur neuen Regel wurde, wurde aus dieser leichten Hand unvermittelt wieder ein fester Griff.

    120.

    Drittens wird all dies bei einigen Akteuren wahrscheinlich einen etwas bitteren Nachgeschmack in Gestalt einer kaum zu vertretenden Selektivität im Hinblick darauf hinterlassen, was warum und inwieweit tatsächlich angewendet und durchgesetzt wird. Dies unterstellt in keiner Weise, dass es nicht im vollen Ermessen der Kommission stehe, was im Übrigen ständiger Rechtsprechung entspricht, zu entscheiden, ob sie eine Klage nach Art. 258 AEUV erhebt ( 107 ). Es soll ebenso wenig das Ergebnis des Urteils Kommission/Frankreich in Frage stellen: Gewiss, sollte die CILFIT‑Rechtsprechung jetzt ernst genommen werden, dann gäbe es in der Tat einen vernünftigen Zweifel im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Urteil Kommission/Frankreich ( 108 ).

    121.

    Der Punkt ist ein anderer, nämlich der allgemeine Mangel an (horizontaler) Konsistenz bei der Ahndung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV als Frage des Unionsrechts. Die eigene Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Umfang dieser Pflicht, jedenfalls die jüngere Rechtsprechung, steht offenbar mit der jüngst (wieder‑)entdeckten Durchsetzung dieser Pflicht nach Art. 258 AEUV nicht in Einklang und ist völlig losgelöst von der Staatshaftung. Sollten dies indes nicht Facetten ein und derselben Verpflichtung zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sein?

    4. Fortentwicklung des Unionsrechts und Gerichtssystems der Union

    122.

    Es besteht meines Erachtens keine Notwendigkeit, Selbstverständlichkeiten eingehend zu erörtern: Wie sehr hat sich allein die Union über die letzten 40 Jahre verändert? Von einer jüngsten Ausnahme abgesehen, hat sich der Kreis der Mitgliedstaaten ständig erweitert. Ebenso erhöht hat sich die Zahl der Amtssprachen und die Zahl der Gerichte, die den Gerichtshof anrufen können. Umfang und Breite des Unionsrechts selbst sind in ihrer gegenwärtigen Form schlicht nie da gewesen. Nach der Vollendung des Binnenmarkts und nicht weniger als fünf aufeinanderfolgenden Vertragsänderungen ist es schwierig geworden, einen Bereich zu finden, in dem es keine Unionsregelung gäbe oder die Unterstützung des Gerichtshofs bei der Auslegung nicht erforderlich wäre. Diese Umstände führen zu einer unglaublichen Vielzahl neuer Vorabentscheidungsersuchen, während die justiziellen Ressourcen des Gerichtshofs nicht unbegrenzt sind.

    123.

    Mitten in dieser grundlegend veränderten Rechtslandschaft steht der unbewegliche Titan eines längst vergangenen Zeitalters, die CILFIT‑Rechtsprechung mit ihrem Beharren darauf, dass letztinstanzliche Gerichte in jedem Fall, in dem eine Form eines vernünftigen Zweifels besteht, ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegen. Es besteht meines Erachtens keine Notwendigkeit, alle systematischen Änderungen einzeln nacheinander durchzugehen, um die sich aus ihnen ergebende Veränderung der Ausgangslage für die Grundgedanken der CILFIT‑Rechtsprechung aufzuzeigen ( 109 ). Stattdessen möchte ich vielmehr, im Ergebnis, auf eine andere, tiefer greifende Frage hinweisen.

    124.

    So wie das Umfeld sich geändert hat und das System gereift ist, hat sich auch das Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens weiterentwickelt. Ein ursprünglich als Verfahren einer Partnerschaft und justiziellen Zusammenarbeit unter Gleichen verstandenes Verfahren hat sich schrittweise und wohl unausweichlich zu einem solchen entwickelt, das stärker das Aufstellen von Leitentscheidungen im Sinne einer systematischen Einheitlichkeit in den Vordergrund rückt. Zwar bleiben die Formulierungen „Unterstützung“ und „Partnerschaft“ erhalten, altgedientere und umsichtigere Beobachter des Systems haben jedoch eine Reihe von vertikalen Aspekten bemerkt, die schrittweise eingeführt werden.

    125.

    Dies rückt den Makro- (oder öffentlichen) Zweck der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Form der Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung und Weiterentwicklung des Rechts stärker in den Vordergrund. Sicherlich gibt es immer den Einzelfall und die Mikro- (oder private) Dimension eines Rechtsstreits und wird es diese immer geben. Der Blick richtet sich jedoch zunehmend, zumal in einem Verfahren wie dem Vorabentscheidungsverfahren, in dem über den Sachverhalt und den Einzelfall das vorlegende Gericht zu entscheiden hat, über den Rand der konkreten Rechtssache hinaus.

    126.

    Um eine weitere systematische Parallele zu ziehen, wurde mit dem vor Kurzem eingeführten Art. 58a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ein Filtermechanismus für Rechtsmittel vom Gericht zum Gerichtshof in bestimmten Bereichen eingerichtet. Ein solches Rechtsmittel bedarf zu seiner Prüfung in der Sache einer Zulassung durch den Gerichtshof, die nur dann erfolgt, wenn damit „eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird“ ( 110 ). Wenn dies für Direktklagen gilt, über die allein der Gerichtshof der Union als ausschließliches Gericht entscheidet, so dass der Rechtsstreit vor beiden Unionsgerichten in erster Linie zur Entscheidung des Einzelfalls dient, müssten dieselben Grundgedanken dann nicht erst recht für Vorabentscheidungen gelten?

    127.

    Schließlich geht mit der Reifung eines Gerichtssystems auch eine Reifung seiner Bestandteile einher. Heute sind die nationalen Gerichte mit dem Unionsrecht im Allgemeinen und mit dem Vorabentscheidungsverfahren im Besonderen sehr viel besser vertraut. Es gibt einzelne Ausnahmen und wird sie immer geben. Ein möglicher (widerwilliger) Baum darf jedoch nicht den (einsichtigen) Wald überschatten. Die nationalen letztinstanzlichen Gerichte, insbesondere diejenigen, denen strukturell die Aufgabe zugewiesen ist, die Einheitlichkeit und die einheitliche Anwendung des Rechts in ihrer jeweiligen Rechtsordnung zu gewährleisten, sind privilegierte Partner des Gerichtshofs bei der Ermittlung von Rechtssachen mit struktureller Bedeutung für die Unionsrechtsordnung. Muss dem (oft mehr geforderte als bestehende) gegenseitigen Vertrauen nicht auch vertikal Bedeutung zukommen?

    128.

    Dass die nationalen letztinstanzlichen Gerichte mit dem Vorabentscheidungsverfahren umgehen können, wird gegenwärtig meines Erachtens auf eher unorthodoxe Weise, nämlich dadurch, belegt, dass sie der CILFIT‑Rechtsprechung nicht folgen. So ketzerisch es auch klingen mag, beweisen die nationalen letztinstanzlichen Gerichte dadurch, dass sie in einer Weise Zurückhaltung üben und von ihrem Ermessen Gebrauch machen, die mit den vom Gerichtshof im Urteil CILFIT genannten Kriterien unvereinbar ist, in der Tat ein sehr gutes Verständnis des wahren Wesens des Systems. Man stelle sich nur einmal das umgekehrte Szenario vor, nämlich dass die nationalen letztinstanzlichen Gerichte (oder einige von ihnen) dem Beispiel des braven Soldaten Švejk ( 111 ) folgen und das Urteil CILFIT tatsächlich wortwörtlich auf alle bei ihnen anhängigen Rechtssachen anwenden würden. Das jährliche Verfahrensregister des Gerichtshofs hätte plötzlich mehrere Nullstellen mehr am Ende, und das System bräche innerhalb kurzer Zeit zusammen.

    5. Zwischenergebnis

    129.

    Die CILFIT‑Rechtsprechung ist nicht nur immer schon problematisch gewesen, was ihre Handhabbarkeit angeht, sondern war vor allem (oder zuvörderst) auch fehlerhaft konzipiert. Das Wesen der CILFIT‑Ausnahmen passt nicht zum Wesen der Vorlagepflicht nach dem Urteil Hoffmann-Laroche, die mit ihr durchgesetzt werden sollte. Eine Pflicht, die festgelegt wurde, um die einheitliche Auslegung der Rechtsprechung überall in der Union zu gewährleisten, kann nicht dem Maßstab des Fehlens subjektiver Zweifel im Hinblick auf die richtige Auslegung des Unionsrechts im konkreten Fall unterworfen werden.

    130.

    Alle anderen im vorliegenden Abschnitt skizzierten Fragestellungen sind zum Teil Folge dieses konzeptionellen Bruchs, bringen indes selbst noch weitere Probleme mit sich. Die CILFIT‑Kriterien werden somit weder vom Gerichtshof selbst noch von den nationalen Gerichten, einschließlich der sie tatsächlich durchsetzenden nationalen oder internationalen Gerichte, angewandt. Sie bleiben außerdem losgelöst von anderen unionsrechtlichen Methoden zur Durchsetzung der den letztinstanzlichen Gerichten obliegenden Vorlagepflicht. Dies ist in gewisser Weise kaum überraschend: Da die CILFIT‑Rechtsprechung (nach ihrem gegenwärtigen Stand) vernünftigerweise nicht durchgesetzt werden kann, müssen andere Maßstäbe eingeführt werden.

    D.   Vorschlag

    131.

    Meines Erachtens sollte der Gerichtshof als ersten Schritt den Zweck und den Umfang der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, wie sie bereits im Urteil Hoffmann-Laroche festgestellt worden sind, bestätigen. Im zweiten Schritt jedoch muss das Urteil CILFIT überprüft werden, um die möglichen Ausnahmen mit dieser Pflicht in Einklang zu bringen.

    132.

    Im Urteil Hoffmann-Laroche wurde festgestellt, dass das Ziel der Vorlagepflicht darin bestehe, „zu verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts nicht im Einklang steht“ ( 112 ). Diesem Grundgedanken folgend, können drei Punkte herausgestellt werden. Erstens ist das, was erreicht werden muss, die einheitliche Auslegung, nicht die richtige Anwendung. Zweitens muss der Schwerpunkt auf „einer Rechtsprechung“, nicht auf der Richtigkeit des Ergebnisses in jedem Einzelfall liegen. Drittens geht es um Abweichungen in der Rechtsprechung in einem Mitgliedstaat und natürlich erst recht in der Union insgesamt. Logischerweise müssen beide Arten von Abweichungen vermieden werden: Unter dem Gesichtspunkt der systematischen Kohärenz des Unionsrechts gäbe es dann, wenn ein Mitgliedstaat oder Teile dessen oder auch ein Zuständigkeitssystem innerhalb dieses Mitgliedstaats nach anderen Regeln funktionieren, als sie in anderen Teilen der Union angewandt werden, keine einheitliche Auslegung innerhalb der Union.

    133.

    Mit anderen Worten muss sich die Ausrichtung der Vorlagepflicht verlagern, und zwar vom Fehlen eines subjektiven vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts in Bezug auf das Ergebnis des konkreten Falls hin zu einer festgestellten objektiven Abweichung in der Rechtsprechung auf der nationalen Ebene, durch die die einheitliche Auslegung des Unionsrechts innerhalb der Union gefährdet wird. So bewegt sich die Ausrichtung auch weg davon, die richtige Antwort in der beim nationalen Gericht anhängigen Rechtssache festzustellen, und hin dazu, zu ermitteln, welches die richtigen Fragen sind.

    134.

    Diesem Grundgedanken folgend, würde ich vorschlagen, dass nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, die Rechtssache dem Gerichtshof vorlegen muss, wenn i) sie eine allgemeine Frage der Auslegung des Unionsrechts (und nicht seiner Anwendung) aufwirft, ii) für sie objektiv mehr als eine vernünftigerweise mögliche Auslegung in Betracht kommt und iii) deren Beantwortung sich nicht aus der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten lässt (oder bei der das vorlegende Gericht von dieser Rechtsprechung abweichen möchte).

    135.

    So gefasst, enthält die Vorlagepflicht in sich bereits ihre eigenen Ausnahmen. Die mögliche(n) Ausnahme(n) von der Vorlagepflicht kommt/kommen nur zur Anwendung, wenn eine der drei kumulativen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Frage der Auslegung des Unionsrechts, für die die Vorlagepflicht gilt, nicht erfüllt ist. Sollte jedoch nach Auffassung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts auch dann, wenn sich ihm im Ausgangsverfahren eine Frage der Auslegung des Unionsrechts stellt, eine der drei Voraussetzungen nicht erfüllt sein, ist dieses Gericht verpflichtet, eindeutig zu benennen, welche der drei Voraussetzungen nicht erfüllt sein soll, und dies zu begründen.

    136.

    Bevor ich auf diese drei Voraussetzungen näher eingehe, möchte ich auf zwei wichtige Gesichtspunkte hinweisen.

    137.

    Zum einen ist ein letztinstanzliches Gericht durch das Fehlen einer Pflicht zur Vorlage in einem bestimmten Fall nach Art. 267 Abs. 3 AEUV keineswegs daran gehindert, den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 2 AEUV um Unterstützung zu ersuchen, wenn es dies für notwendig erachten sollte, um über den bei ihm anhängigen Einzelfall zu entscheiden. Das Fehlen einer Verpflichtung, etwas zu tun, schließt die Möglichkeit, dies zu tun, nicht aus. Eine Rechtssache, die vielleicht nicht unter die Verpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV fällt, kann gleichwohl noch unter dessen Abs. 2 fallen: „Ein einzelstaatliches Gericht …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln … angefochten werden können“, ist und bleibt jedenfalls „[e]in einzelstaatliches Gericht“. Das Erstgenannte ist eine logische Teilgruppe des Letztgenannten.

    138.

    Zum anderen sei noch einmal daran erinnert, dass alles, was bisher gesagt wurde, und alles, was folgt, ausschließlich Vorabentscheidungsfragen zur Auslegung betrifft. Die Verpflichtung zu einer Vorlage betreffend die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts unterliegt weiterhin einer strengen Vorlagepflicht ohne Ausnahmen ( 113 ).

    1. Eine allgemeine oder verallgemeinerungsfähige Frage nach der Auslegung von Unionsrecht

    139.

    Diese Voraussetzung ist auf den ersten Blick selbstverständlich. Es mag vertreten werden, dass dies das sei, worum es in einem Vorabentscheidungsverfahren immer gehe. Die Realität stellt sich jedoch etwas differenzierter dar. Das gelegentliche Beharren des Gerichtshofs auf dem Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts in der beim letztinstanzlichen Gericht anhängigen Rechtssache hat eine Reihe von Gerichten dazu veranlasst, dem Gerichtshof auch Tatsachenfragen und eher konkrete Fragen vorzulegen. Drei Beispiele mögen dieses Phänomen veranschaulichen.

    140.

    Als Erstes hat der Gerichtshof in einem frühen Stadium, beginnend mit dem Urteil Wallentin-Hermann, den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ( 114 ) ausgelegt und dort festgestellt, dass „außergewöhnliche Umstände“ begrifflich ein „Vorkommnis betreffen, das … nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist und … von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist“ ( 115 ). Zwar besteht die Wahrscheinlichkeit, dass es noch eine Reihe weiterer Fälle gibt, die die genaue Tragweite dieser Definition bestätigen und näher konkretisieren. Sind jedoch alle neuen Sachverhaltskonstellationen, die jeweils lediglich die Frage aufwerfen, ob ein bestimmter Sachverhalt (premissa minor) ebenfalls unter die im Unionsrecht bereits bestehende Auslegungsdefinition (premissa maior) subsumiert werden kann, wirklich Fälle der Auslegung von Unionsrecht? In einer Reihe von späteren Rechtssachen wurde der Gerichtshof ersucht, u. a. die folgenden Umstände als „außergewöhnliche Umstände“ einzustufen: eine Kollision eines Flugzeugs mit einem Vogel ( 116 ); die Schließung eines Teils des europäischen Luftraums nach dem Ausbruch eines isländischen Vulkans ( 117 ), das störende Verhalten eines Fluggasts, das es rechtfertigte, dass der Bordkommandant den betreffenden Flug umleitete, „sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht zum Auftreten dieses Verhaltens beigetragen oder unter Berücksichtigung der Anzeichen für ein solches Verhalten nicht versäumt hat, angemessene Maßnahmen zu ergreifen“ ( 118 ), oder die Beschädigung des Reifens eines Flugzeugs durch einen Fremdkörper, wie einen auf dem Rollfeld eines Flughafens umherliegenden Gegenstand ( 119 ).

    141.

    Als Zweites sind auch im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zum Begriff „Benutzung von Fahrzeugen“ im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2009/103/EG ( 120 ) mehrere Urteile des Gerichtshofs ergangen. Nach dessen Auffassung fällt unter diesen Begriff jede Benutzung eines Fahrzeugs, die dessen gewöhnlicher Funktion entspricht ( 121 ), d. h. jede Verwendung dieses Fahrzeugs als Transportmittel ( 122 ). Im Anschluss wurde der Gerichtshof jedoch um Bestätigung ersucht, ob die folgenden tatsächlichen Umstände ebenfalls als „Benutzung von Fahrzeugen“ anzusehen sind: „Manöver …, das ein Traktor im Hof eines Bauernhofs ausführt, um seinen Anhänger in eine Scheune zu fahren“ ( 123 ), „eine Situation, in der ein landwirtschaftlicher Traktor an einem Unfall beteiligt ist, seine Hauptfunktion im Zeitpunkt des Eintritts dieses Unfalls jedoch nicht darin bestand, als Transportmittel zu dienen, sondern vielmehr darin, als Arbeitsmaschine die für den Betrieb einer Pumpe einer Spritzvorrichtung für Pflanzenschutzmittel erforderliche Antriebskraft zu erzeugen“ ( 124 ), „ein Fall, in dem der Mitfahrer eines auf einem Parkplatz geparkten Fahrzeugs beim Öffnen der Tür dieses Fahrzeugs an das daneben geparkte Fahrzeug stößt und es beschädigt“ ( 125 ), oder „ein Sachverhalt …[,] in dem ein in einer Privatgarage eines Hauses abgestelltes, entsprechend seiner Funktion als Beförderungsmittel verwendetes Fahrzeug Feuer fing, durch das ein Brand, dessen Ursache beim Schaltkreis des Fahrzeugs lag, ausgelöst und das Haus beschädigt wurde, … wenn das Fahrzeug seit mehr als 24 Stunden vor Brandentstehung nicht bewegt worden war“ ( 126 ).

    142.

    Als Drittes kann abschließend auch der Begriff „Arbeitszeit“ in der Richtlinie 2003/88/EG ( 127 ) als veranschaulichendes Beispiel dienen. Nach ständiger Rechtsprechung besteht die wesentliche Voraussetzung für die Einstufung als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 darin, dass sich der Arbeitnehmer an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort die geeigneten Leistungen erbringen zu können. Diese Verpflichtungen, aufgrund deren der betroffene Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort während der Bereitschaftszeiten nicht frei bestimmen kann, sind als Bestandteil der Wahrnehmung seiner Aufgaben anzusehen ( 128 ). Ausgehend von dieser allgemeinen Definition ist der Gerichtshof wiederum zur Stellungnahme dazu aufgefordert worden, ob bestimmte, in tatsächlicher Hinsicht genau definierte Fälle tatsächlich unter diese Definition fallen, in denen es um verschiedene Formen von Nacht- oder Bereitschaftsdiensten von ärztlichem oder sonstigem Notfallpersonal ging. So hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Zeit des Bereitschaftsdiensts Arbeitszeit darstelle, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich im Gesundheitszentrum aufzuhalten ( 129 ), und zwar auch dann, wenn es dem Betroffenen in Zeiten, in denen er nicht in Anspruch genommen wird, gestattet ist, sich an seiner Arbeitsstelle auszuruhen ( 130 ), oder dass unter den Begriff „Arbeitszeit“ auch der Fall fällt, dass „ein [Feuerwehrmann] verpflichtet ist, die Zeit des Bereitschaftsdienstes zu Hause zu verbringen, für seinen Arbeitgeber verfügbar zu sein und sich innerhalb von acht Minuten an seinem Arbeitsplatz einfinden zu können“ ( 131 ).

    143.

    Zwar hat der Gerichtshof zweifelsfrei in allen diesen Bereichen den nationalen Gerichten eine sachdienliche Antwort gegeben. Ich kann mich jedoch wiederum Generalanwalt Jacobs nur darin anschließen, dass „detaillierte Antworten auf sehr spezifische Fragen die einheitliche Anwendung nicht stets fördern. Solche Antworten werden möglicherweise lediglich Anlass für weitere Fragen sein.“ ( 132 )

    144.

    In meinen jüngsten Schlussanträgen in der Rechtssache Van Ameyde España, die ebenfalls die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung betrifft und vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) vorgelegt wurde, habe ich versucht, konkreter darzulegen, wo die (naturgemäß eher schwer greifbare) Grenze zwischen der Auslegung und der Anwendung des Unionsrechts liegen könnte. Auf diese Schlussanträge kann ich als echte Fallstudie nur verweisen ( 133 ). Zur ersten Voraussetzung dahin, wo die Vorlagepflicht richtigerweise bestehen sollte, möchte ich Folgendes hinzufügen.

    145.

    Die Vorlagepflicht sollte immer dann bestehen, wenn ein nationales letztinstanzliches Gericht mit einer Frage nach der Auslegung des Unionsrechts konfrontiert ist, die mit einem angemessenen und geeigneten Abstraktionsgrad formuliert ist. Dieser Abstraktionsgrad wird logischerweise durch den Anwendungsbereich und den Zweck der betreffenden Rechtsvorschrift bestimmt. Im besonderen Kontext (unbestimmter) Rechtsbegriffe des Unionsrechts hat der Gerichtshof die Aufgabe, diesen Begriff auszulegen. Seine Anwendung, einschließlich der Subsumtion konkreter Tatsachen unter diese Definition, ist eine Frage der Anwendung des Unionsrechts.

    146.

    Zwar kann eine bloße Anwendung rasch zu einer Auslegung werden, beispielsweise wenn das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersuchen würde, die bereits gegebene Definition zu verengen, auszuweiten, einzuschränken oder von ihr abzuweichen. Wird dies jedoch tatsächlich mit dem Ersuchen begehrt, sollte das vorlegende Gericht diesen Aspekt eindeutig benennen und erläutern, warum es gerade in der vorgelegten Rechtssache nicht lediglich um eine weitere Bestätigung (und damit um die Anwendung) der bereits geklärten premissa maior geht.

    147.

    Außerdem sollte die begehrte Auslegung in diesem Sinne und in diesem Maße allgemeine oder verallgemeinerungsfähige Auswirkungen haben. Eine solche Auslegungsfrage sollte eine allgemeine, sich möglicherweise wiederkehrend stellende Frage der Auslegung des Unionsrechts betreffen. Ich möchte betonen, dass dies nicht ein Kriterium im Zusammenhang mit der rechtlichen Bedeutung oder Wichtigkeit der Vorlagefrage ist. Es ist eine andere, viel einfachere Frage, die sich dem nationalen Gericht stellt: Ist die Frage, mit der ich mich jetzt konfrontiert sehe, geeignet, sich erneut zu stellen, sei es in einem bei mir oder in einem bei meinen Kollegen in anderen Mitgliedstaaten anhängigen Verfahren? Sollte ich im Interesse einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts den Gerichtshof um Klärung ersuchen?

    148.

    Ein solcher Denkansatz trägt nicht nur zur Formulierung der vorzulegenden Frage mit geeignetem Abstraktionsgrad bei, denn er zwingt dazu, allgemeine, übergreifende Probleme zu benennen, sondern auch dazu, sehr eng gegrenzte, vereinzelte oder einmalige Fälle auszuscheiden, die, auch wenn sie möglicherweise eine Frage der Auslegung des Unionsrechts aufwerfen, einfach keine allgemeinen, strukturellen Auswirkungen haben. Jedenfalls kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass der Mehrheit der nationalen letztinstanzlichen Gerichte ein derartiges Denken sehr vertraut ist, wenngleich vielleicht in erster Linie im Rahmen ihrer eigenen Rechtsordnungen. Eine ähnliche Art des Denkens und Erwägens sollte einfach auch auf der breiteren, größeren Ebene der Unionsrechtsordnung Anwendung finden.

    149.

    Zusammenfassend schlage ich sicherlich nicht vor, sich des einen Einhorns zu entledigen, um es sofort durch ein anderes zu ersetzen ( 134 ), nämlich die Vorstellung, dass zwischen dem Punkt, an dem die Auslegung endet, und dem Punkt, an dem die Anwendung beginnt, und umgekehrt, eine klare Grenze verliefe. Die Vorlagepflicht soll indes gewährleisten, dass das Unionsrecht einheitlich ausgelegt wird, und nicht, dass es richtig angewendet wird. Die angestrebte Einheitlichkeit bezieht sich somit nicht und bezog sich auch zu keinem Zeitpunkt auf die Ebene der einzelnen Ergebnisse in jedem Einzelfall, sondern auf die Ebene der anzuwendenden Rechtsvorschriften. Daraus folgt logischerweise, dass bei den Rechtsvorschriften ein angemessenes Maß an Einheitlichkeit besteht, während bei den konkreten Ergebnissen Diversität möglich ist.

    2. Weitere vernünftigerweise mögliche Auslegungen

    150.

    Ist es objektiv möglich, das Unionsrecht in einem bestimmten Punkt unterschiedlich auszulegen? Notwendiger Teil aller Voraussetzungen für die Vorlagepflicht wird stets eine Prüfung der Alternativen sein. Im Gegensatz zu der – ihrem Wesen nach innerlichen und subjektiven – Ungewissheit in Form eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf den Ausgang eines Einzelfalls werden derartige Erwägungen durch das Bestehen plausibler Alternativen auf eine äußerlichere und objektivere Grundlage gestellt. Daher der Vorschlag der Neuausrichtung weg von einem bloßen „Ich weiß es nicht“ hin zu einem „Dies sind die Alternativen, unter denen ich entscheiden kann“.

    151.

    Hinzuweisen ist auf die Bedeutung der Adjektive „möglich“ oder „plausibel“. Es soll sicherlich nicht die Ansicht vertreten werden, dass ein vorlegendes Gericht die Alternativen umfassend darstellen, seine Entscheidung damit begründen oder auch nur erläutern müsste, welcher es den Vorzug gibt ( 135 ). Zur Rechtfertigung einer Vorlagepflicht muss jedoch mehr als ein bloßer subjektiver Zweifel oder gar Nichtwissen gegeben sein.

    152.

    Sobald dem nationalen letztinstanzlichen Gericht jedoch zwei oder mehr mögliche Auslegungen vorgeschlagen werden, wird die Vorlagepflicht streng. Letztlich ist diese Pflicht ursprünglich gerade aus diesem Grund eingeführt worden: Sie greift, wenn die Wahl zwischen einer Reihe von Optionen „auf dem Tisch liegt“. Die folgenden Fallgestaltungen sind besonders relevant, um zu veranschaulichen, wann eine solche Situation eintreten kann.

    153.

    Erstens gibt es Beispiele dafür, dass in rechtskräftigen Entscheidungen nationaler Gerichte verschiedenen Auslegungen derselben Regelung gefolgt wurde. Jedes andere letztinstanzliche Gericht, das mit einem denselben Aspekt des Unionsrechts betreffenden Rechtsstreit befasst ist und Abweichungen in der Auslegung derselben Rechtsvorschrift festgestellt hat, ist zur Vorlage verpflichtet, um zu klären, welche Richtung der Rechtsprechung tatsächlich richtig ist. Es kommt nicht darauf an, ob eine solche Abweichung in ein und demselben Mitgliedstaat oder in mehreren Mitgliedstaaten festgestellt wird. Meines Erachtens ist in der Tat auch nicht ersichtlich, warum eine Abweichung zwischen bestimmten Richtungen innerhalb einer nationalen Rechtsprechung nicht ausreichen sollte, um insoweit objektiv von einer unterschiedlichen Rechtsprechung innerhalb der Union ausgehen zu können ( 136 ), sofern es sich nicht um eine ganz spezielle Variante einer umgekehrten Diskriminierung handeln sollte. Der dem Urteil Hoffmann-Laroche zugrunde liegende Grundgedanke ist nämlich der, dass es „in irgendeinem Mitgliedstaat“ eine Abweichung vom gemeinsamen Ansatz gebe, und zwar aus gutem Grund: Es kann keine einheitliche Auslegung geben, wenn Teile eines Mitgliedstaats einfach ihren eigenen Weg gehen?

    154.

    Den Schwerpunkt würde ich jedoch auf rechtskräftige Entscheidungen auf der nationalen Ebene legen. Worum es geht, ist ein zum Ausdruck kommender Unterschied in der Auslegung auf horizontaler Ebene, sei es innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats (verschiedene Berufungsgerichte, Kammern oder Spruchkörper der höchsten Gerichte) oder zwischen den Mitgliedstaaten. Dies mag nicht unbedingt für ein und denselben Verfahrenszug, in dem die Entscheidung noch aussteht, gelten. In einem solchen Fall, in dem sich beispielsweise die Auslegung durch das erstinstanzliche Gericht von derjenigen durch das Berufungsgericht unterscheidet und die Rechtssache nun bei einem obersten Gericht anhängig ist, könnte es auch zwei oder mehr Auffassungen zu derselben Regelung geben. Dies bedeutet indes, anders als bei unterschiedlichen Auslegungen zwischen einzelnen rechtskräftigen Entscheidungen verschiedener Gerichte, nicht ohne Weiteres auch, dass es mehr vernünftige und plausible Möglichkeiten gibt, dieselbe Rechtsnorm des Unionsrechts auszulegen. Innerhalb ein und desselben Verfahrens lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass ein Gericht schlicht fehlerhaft entschieden hat. Dagegen ist eine Abweichung der Rechtsprechung zwischen verschiedenen Verfahren kein Fehler mehr, sondern ein strukturelles Problem für das Unionsrecht ebenso wie für das nationale Recht.

    155.

    Zweitens sind alle anderen Fälle, selbst einschließlich desjenigen unterschiedlicher Auslegungen innerhalb ein und desselben Verfahrenszugs, dann einfach anhand des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. Gab es im Verfahren vor dem letztinstanzlichen Gericht tatsächlich plausible Alternativen im Hinblick auf die Auslegung derselben Regelungen, unabhängig davon, woher sie sich auftaten? Sie mögen in den Stellungnahmen der Parteien vorgetragen worden sein, sie mögen von den verschiedenen am nationalen Verfahren beteiligten Akteuren stammen, oder sie könnten sich vielmehr aus den verschiedenen vorangegangenen Urteilen innerhalb desselben Verfahrens ergeben, soweit die dortigen Abweichungen keinen Fehler darstellten, sondern vielmehr Ausdruck plausibler Alternativen waren.

    156.

    Außerdem können derartige Zweifel im Hinblick auf die Wahl unter möglichen Auslegungen ein und derselben Regelung selbstverständlich immer vom vorlegenden Gericht selbst ausgehen. Angesichts aller vorstehenden Ausführungen im vorliegenden Abschnitt möchte ich jedoch einen recht wichtigen Punkt hervorheben: Realität und Realismus. Man kann von nationalen letztinstanzlichen Gerichten kaum erwarten, dass sie sich plötzlich in Forschungszentren des rechtsvergleichenden Unionsrechts verwandeln, indem sie, gewissermaßen von Amts wegen, selbst Recherchen zur Rechtsprechung anderer nationaler Gerichte in anderen Mitgliedstaaten durchführen oder proaktiv nach Auslegungsproblemen zu suchen beginnen.

    157.

    Was indes von nationalen letztinstanzlichen Gerichten sicherlich erwartet werden kann, ist, anzuerkennen, dass es objektiv eine Abweichung in der Rechtsauslegung gibt, wenn diese Abweichung ihnen von einem der Akteure des bei ihnen anhängigen Verfahrens, insbesondere von den Parteien selbst, ausdrücklich zur Kenntnis gebracht worden ist. Sofern tatsächlich eine Abweichung in der möglichen Rechtsauslegung besteht, die durch mögliche Alternativen belegt ist, kann, in der Formulierung des Urteils CILFIT, davon ausgegangen werden, dass ein (vernünftiger) Zweifel in dem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit objektiv und von außen dargetan ist, so dass die Vorlagepflicht im Interesse der Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts dann nicht außer Acht gelassen werden darf.

    3. Keine Rechtsprechung des Gerichtshofs

    158.

    Es wird wahrscheinlich nicht an (hitzigen) Diskussionen darüber mangeln, was genau in einer konkreten Fallgestaltung „ständige Rechtsprechung“ ist und ob unter „ständig“ von jedermann genau dasselbe verstanden wird. Auf einer konzeptionellen Ebene ist es indes in der Tat das Urteil Da Costa ( 137 ), das mit dem Urteil CILFIT bestätigt und erweitert wurde ( 138 ), das am wenigsten überprüfungsbedürftig ist. Ein nationales letztinstanzliches Gericht ist zur Vorlage verpflichtet, wenn es sich mit einer neuen Frage nach der Auslegung des Unionsrechts oder mit einer Frage konfrontiert sieht, über die auf der Grundlage einer bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht abschließend entschieden werden kann, oder wenn es angezeigt ist, den Gerichtshof um eine Klarstellung oder Überprüfung einiger seiner früheren Entscheidungen zu ersuchen.

    159.

    Einfach ausgedrückt, sind die zweite und die vorliegende, dritte Voraussetzung Facetten desselben Anliegens – die erste Voraussetzung betrifft die einheitliche Auslegung des Unionsrechts – in verschiedenartigen Richtungen und mit verschiedenen Akteuren. Die zweite Voraussetzung betrifft die horizontale Kohärenz und die nationale Rechtsprechung, während die dritte Voraussetzung auf die Entscheidungen des Gerichtshofs und ihre Wirkungen ausgerichtet ist.

    160.

    Ein nationales letztinstanzliches Gericht ist daher nicht verpflichtet, eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, wenn dieselbe Bestimmung vom Gerichtshof bereits ausgelegt worden ist. Dies gilt auch für den Fall, dass sich aus früheren, in Verfahren gleich welcher Art ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs bereits hinreichend Auslegungsvorgaben ergeben, die es dem nationalen Gericht ermöglichen, über die ihm vorliegende Fragestellung auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung sicher zu entscheiden.

    161.

    Ich möchte insoweit abschließend nur noch drei weitere Klarstellungen hierzu anschließen.

    162.

    Erstens mag noch einmal der Hinweis auf den logischen Zusammenhang zwischen der dritten und der ersten Voraussetzung sinnvoll sein: Was festzustellen ist und aus der Rechtsprechung eindeutig ableitbar sein muss, ist die anzuwendende unionsrechtliche Regelung und nicht der Ausgang der konkreten Rechtssache. So wurde, wie bereits erwähnt, beispielsweise die unionsrechtliche Auslegung, was ein „außergewöhnlicher Umstand“ ist, zu dem Zeitpunkt festgelegt, als die Definition dieses Ereignisses geklärt und vom Gerichtshof bestätigt wurde. Sofern nicht ein letztinstanzliches Gericht mit einer Situation konfrontiert sein sollte, in der es diese Definition überprüfen, präzisieren oder von ihr abweichen wollte, hat es sie einfach anzuwenden, ohne um Hinweise ersuchen zu müssen, ob neben den vom Gerichtshof bereits abgedeckten Sachverhaltsgestaltungen ( 139 ) außerordentliche Umstände auch dann gegeben sind, wenn es um einen Hirsch oder einen nackten Mann auf der Landebahn ginge.

    163.

    Zweitens mag richtigerweise anzuerkennen sein, dass zwar in der Formulierung des Gerichtshofs die Begriffe wie „ständige Rechtsprechung“ oder „frühere Entscheidungen“ verwendet werden, dies jedoch tatsächlich bisweilen auf eine einzige einschlägige Präzedenzentscheidung hinauslaufen kann. Selbstverständlich hängt all dies vom Inhalt, Kontext und der Bestimmtheit der unionsrechtlichen Vorschrift ab, die mit der früheren Entscheidung geklärt werden sollte ( 140 ). Auch bei einer klar zum Ausdruck gebrachten Rechtslage kann ein nationales letztinstanzliches Gericht indes von vornherein von einer Vorlage befreit sein, auch wenn damit möglicherweise lediglich eine einmalige Klärung erfolgt ist (und sich somit kaum eine echte „ständige Rechtsprechung“ nach herkömmlichem zivilrechtlichen Verständnis herausgebildet hat, indem sie viele Male wiederholt worden wäre, bevor sie tatsächlich verbindlich wird).

    164.

    Drittens ist ein nationales Gericht, insbesondere ein nationales letztinstanzliches Gericht, stets berechtigt, den Gerichtshof zu ersuchen, seine früheren Entscheidungen anzupassen, zu präzisieren, klarzustellen oder gar davon abzuweichen. Wenn jedoch ein nationales letztinstanzliches Gericht von der früheren Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof abweichen will, ist dieses nationale Gericht verpflichtet, eine Vorlage einzureichen, dem Gerichtshof die Gründe für seine abweichende Auffassung zu erläutern und idealerweise darzulegen, welche Ansicht es für richtig hält ( 141 ).

    165.

    Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass die Fallgestaltung einer solchen „Klarstellung“ nicht nur Sachverhalte einschließen kann, in denen ein nationales Gericht tatsächlich eine Rechtsprechungsänderung durch den Gerichtshof anstrebt ( 142 ), sondern auch Fälle einer Abweichung innerhalb der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die von einem nationalen Gericht festgestellt werden, dem die Anwendung dieser Vorgaben auf der nationalen Ebene obliegt. In solchen (hoffentlich seltenen) Situationen besteht eine Vorlagepflicht gerade im Interesse einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts in der gesamten Union, um Abweichungen zwischen nationalen Gerichten zu vermeiden, von denen manche der einen und andere tatsächlich einer anderen Richtung folgen.

    4. Begründungspflicht (und die offene Frage der Durchsetzung der Vorlagepflicht)

    166.

    Die im Rahmen des in den vorliegenden Schlussanträgen vorgetragenen Vorschlags bestehende Vorlagepflicht beinhaltet ihrem Umfang nach bereits die Ausnahmen. Es handelt sich um zwei Seiten derselben Medaille. Eine Vorlagepflicht setzt voraus, dass alle drei in diesem Abschnitt genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Die Pflicht besteht dann nicht (bzw., je nach konstruktivem Ansatz, die Ausnahme gilt dann), wenn eine der drei Voraussetzungen zu verneinen ist: Entweder geht es nicht um eine Frage der Auslegung des Unionsrechts, es gibt nur eine vernünftigerweise mögliche Auslegung des betreffenden Unionsrechts, oder die Antwort lässt sich in der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs finden.

    167.

    Es gibt allerdings jedenfalls eine übergreifende Pflicht oder sogar eine vierte Voraussetzung: Das nationale letztinstanzliche Gericht ist, unabhängig davon, welchen dieser drei Fälle es für gegeben hält, verpflichtet, seine Schlussfolgerung, dass die bei ihm anhängige Rechtssache nicht unter die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV fällt, hinreichend zu begründen.

    168.

    Selbstverständlich gibt es keinen allgemeingültigen Maßstab dafür, was als angemessenes und somit hinreichendes Maß der Begründung anzusehen ist. Alles hängt von der Art der Rechtssache, ihrer Komplexität und vor allem von dem in den Akten enthaltenen Vorbringen im Verfahren vor dem zur Entscheidung berufenen Gericht ab. Jedenfalls ist das Gericht jedoch dann, wenn tatsächlich ein relevanter Aspekt des Unionsrechts im Verfahren vor einem nationalen letztinstanzlichen Gericht aufgeworfen worden ist, verpflichtet, klar und deutlich festzustellen, welche der drei Voraussetzungen (Ausnahmen) konkret auf diese Rechtssache Anwendung finden soll, und zumindest zusammenfassend zu erläutern, warum dies der Fall ist.

    169.

    Diese Verpflichtung ist meines Erachtens klar zu unterstreichen. Ein allgemeiner, unbestimmter und weitgehend unsubstantiierter Verweis auf einen „acte clair“ oder auf das Urteil CILFIT, ohne dass real und einzelfallbezogen begründet wird, warum genau in der fraglichen Rechtssache eine Vorlagepflicht in der Sache nicht besteht, wird dieser Mindestanforderung nicht gerecht ( 143 ). Dagegen stellt die Begründung des nationalen letztinstanzlichen Gerichts im Rahmen des in den vorliegenden Schlussanträgen vertretenen in der Tat eher objektiven und äußerlichen Ansatzes zur Vorlagepflicht im Interesse der systematischen Einheitlichkeit der Auslegung eine Reaktion auf die ihm entweder von den Beteiligten vorgetragenen oder sich aus dem Verfahren und den Akten selbst ergebenden Gesichtspunkte dar. Die Begründungspflicht korreliert somit selbstverständlich mit der Pflicht eines Gerichts, auf alle relevanten Umstände und Argumente einzugehen, die ihm vorgetragen worden sind.

    170.

    Einfach ausgedrückt ist ein Gericht nicht verpflichtet, sich auf die Suche nach Auslegungsproblemen zu begeben, die sich möglicherweise im Hinblick auf eine bestimmte Vorschrift des Unionsrechts ergeben könnten. Die an es herangetragenen Auslegungsprobleme, insbesondere soweit sie von den Parteien vorgebracht werden, dürfen jedoch nicht ohne angemessene Begründung einfach mit einer Feststellung in einem Satz, dass alles eindeutig sei und es keinen vernünftigen Zweifel gebe, „unter den Teppich gekehrt“ werden.

    171.

    Schließlich folgt meines Erachtens die Pflicht zur hinreichenden Begründung, nicht nur wohl schon aus den einschlägigen nationalen Vorschriften, sondern auch aus dem Unionsrecht, nämlich aus Art. 47 der Charta. Es ist naheliegend, dass dann, wenn ein Aspekt des Unionsrechts in einem nationalen gerichtlichen Verfahren rechtswirksam aufgeworfen wird, diese Rechtssache dann, soweit sie die Anwendbarkeit anderer Aspekte des Unionsrechts betrifft, geeignet ist, in den Geltungsbereich des Unionsrechts zu fallen. Im Übrigen wäre in einem solchen Fall auch noch Art. 267 AEUV selbst anwendbar. Es handelt sich daher in diesem Fall und bei einer hierüber ergehenden nationalen Entscheidung eindeutig um einen Fall der Durchführung des Unionsrechts gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta.

    172.

    Dabei möchte ich es bewusst belassen. Fragestellungen zur Durchsetzung der Vorlagepflicht sollten vielleicht künftigen Rechtssachen vorbehalten bleiben. Bevor diese Fragen künftig erörtert werden können, müssen jedoch der Umfang und das Wesen der Vorlagepflicht zunächst eingehend überprüft werden. Erst wenn und nachdem dieser erste Schritt gegebenenfalls gemacht worden ist, kann eine Erörterung der anschließenden Frage der Rechtsfolgen relevant werden.

    173.

    Abschließend möchte ich drei allgemeine Bemerkungen machen.

    174.

    Erstens: Weshalb ist eine Überprüfung der Rechtssache CILFIT jetzt notwendig? Nach der Lektüre der in den vorliegenden Schlussanträgen vielfach angeführten überzeugenden Stellungnahmen all meiner geschätzten Vorgänger steht fest, dass der Gerichtshof diese Rechtssache nicht mit leichter Hand wiederaufgreifen dürfte. Außerdem mag, hinter vorgehaltener Hand, die Ansicht vertreten werden, dass es jetzt, nachdem das Urteil CILFIT über 40 Jahre nicht funktioniert hat, auf ein paar Jahre oder Jahrzehnte mehr oder weniger nicht ankomme. Ferner liegt eine gewisse Schönheit in der Einfachheit und Weisheit der Untätigkeit, insbesondere wenn das System als Ganzes in ein gewisses Gleichgewicht kommt. Also führt der Weg in der Tat zurück zu dem in der Einleitung der vorliegenden Schlussanträge bemühten Bild, dass es klüger sein könnte, keine schlafenden Hunde zu wecken. Sollten sie erwachen, weiß niemand, wen sie am Ende beißen könnten.

    175.

    So verlockend ein solches Denken sein mag, hat es doch seine klaren Grenzen. Es ist nicht gesund, die institutionelle Autorität und Legitimität eines Gerichts für irrelevant zu halten, indem die aus dem Zentrum kommenden Vorgaben unbeachtet bleiben, und zwar aus gutem Grund. Wenn zudem eine solche fehlende Relevanz einen der wichtigsten Parameter des gesamten Gerichtssystems berührt, für dessen ordnungsgemäßes Funktionieren und zumindest zum Teil auch seine Durchsetzung dieses System sich auf andere stützen muss, kann sich eine recht ungesunde Regelskepsis herausbilden und schließlich auf andere Bereiche und Fragestellungen übergreifen. Schließlich werden wahrscheinlich Spannungen auftreten, wenn ein solch sorgfältiges Gleichgewicht durch den plötzlichen Ausbruch einer selektiven Durchsetzung solcher Regelungen gestört wird, und diejenigen, gegen die sich eine solche Durchsetzung richtet, sich berechtigterweise fragen könnten: warum wir? Somit ist es jetzt, da die Hunde wach sind, geboten, die Regelungen zu überprüfen, so dass sie gegen jedermann in gleicher Weise durchgesetzt werden können.

    176.

    Zweitens mag eingewendet werden, dass mit der Ausrichtung auf die Makro- (oder öffentliche) Funktion der Vorlagepflicht durch den in den vorliegenden Schlussanträgen vorgetragenen Vorschlag die einzelnen Rechtsuchenden und ihre subjektiven Rechte missachtet würden. Außerdem wird, falls losgelöst von subjektiven Zweifeln im Einzelfall, die Definition des Umfangs der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen in ihrer Formulierung vage und stützt sich auf abstrakte Konzepte, wie Abweichungen in der Auslegung.

    177.

    Es ist meines Erachtens gerade die Unklarheit der konzeptionellen Unterscheidung zwischen der Makro-/Mikro- (öffentlichen/privaten) Funktion und den objektiven/subjektiven Voraussetzungen der Vorlagepflicht, auf die die Probleme mit dem Urteil CILFIT zurückgehen. Ferner war die im Urteil CILFIT getroffene Entscheidung noch in anderer Hinsicht recht einmalig: Die Vorlagepflicht wurde in erster Linie an individuelle und subjektive Voraussetzungen eines bei einem letztinstanzlichen Gericht anhängigen konkreten Einzelfalls geknüpft, ohne dass jedoch den Einzelnen irgendwelche Rechte zur Durchsetzung dieser Verpflichtung zuerkannt worden wären.

    178.

    Würde, wie vorliegend vorgeschlagen, das überwiegend systematische und strukturelle Wesen der Vorlagepflicht anerkannt, was dann auf objektiveren Gesichtspunkten der im Einzelfall bestehenden systematischen Notwendigkeiten beruhen würde, könnte dies in seiner Gesamtheit den einzelnen Rechtsuchenden möglicherweise im Einzelfall eine viel bessere Argumentationsgrundlage bieten als subjektive gerichtliche Zweifel. Im Übrigen sind die hier vorgeschlagenen Voraussetzungen, auch wenn sie zum Teil von den Umständen des Einzelfalls losgelöst sind, ihrem Wesen und ihrer Formulierung nach in Wirklichkeit wesentlich genauer als diejenigen im Urteil CILFIT. Außerdem bilden im Gegensatz zu den fortlaufenden und endlosen Diskussionen darüber, ob in den Ausnahmen nach dem Urteil CILFIT tatsächlich Prüfungskriterien oder lediglich eine Richtschnur zu sehen sind, die hier vorgeschlagenen Voraussetzungen eindeutig Prüfungskriterien und eine Bestätigung der mit ihnen einhergehenden Pflicht zur konkreten und hinreichenden Begründung.

    179.

    Drittens und abschließend stellt sich die Frage, ob eine solche „Lockerung“ des CILFIT-Ansatzes, indem man sich nicht weiter auf die richtige Anwendung des Unionsrechts in jedem, bei einem letztinstanzlichen Gericht anhängigen Einzelfall fokussiert, nicht auf einen Verzicht auf die Hauptzuständigkeit des Gerichtshofs für die Gewährleistung der Einheit und Einheitlichkeit des Unionsrechts hinausliefe.

    180.

    Ich habe in den vorliegenden Schlussanträgen einigen Raum dem Erklärungsversuch gewidmet, warum die CILFIT‑Einheitlichkeit in Bezug auf die richtige Anwendung des Unionsrechts in jedem Einzelfall meines Erachtens ein Mythos ist. In Anbetracht des dezentralen und weit verzweigten Gerichtssystems der Union ist das Beste, was jemals erreicht werden kann, eine angemessene Einheitlichkeit in der Auslegung des Unionsrechts, wobei eine derartige Einheitlichkeit bereits eine recht große Herausforderung darstellt. Was die Einheitlichkeit in der Anwendung und in den Ergebnissen angeht, ist die Antwort recht einfach: „Niemand kann verlieren, was er niemals besaß“ ( 144 ).

    V. Ergebnis

    181.

    Ich schlage dem Gerichtshof vor, die erste Vorabentscheidungsfrage des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) wie folgt zu beantworten:

    Nach Art. 267 Abs. 3 AEUV muss ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, die Rechtssache dem Gerichtshof vorlegen, wenn erstens diese Rechtssache eine allgemeine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts aufwirft, für die, zweitens, vernünftigerweise mehr als eine mögliche Auslegung in Betracht kommt, und drittens die Auslegung des betreffenden Unionsrechts nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden kann. Sollte ein solches nationales Gericht, vor dem eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts aufgeworfen worden ist, beschließen, nicht gemäß dieser Bestimmung ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen, ist es verpflichtet, hinreichend zu begründen, welche der drei Voraussetzungen nicht erfüllt sein soll und weshalb nicht.


    ( 1 ) Originalsprache: Englisch.

    ( 2 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, (283/81, EU:C:1982:335) (im Folgenden: Urteil CILFIT).

    ( 3 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1).

    ( 4 ) Urteil Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi (C‑152/17, EU:C:2018:264).

    ( 5 ) Ebd. (Rn. 33 bis 35).

    ( 6 ) Unter Verweis auf die hierzu ergangene ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere das Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi (C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 25).

    ( 7 ) Vgl. z. B. Urteil vom 12. Februar 2008, Kempter (C‑2/06, EU:C:2008:78, Rn. 41), vom 9. November 2010, VB Pénzügyi Lízing (C‑137/08, EU:C:2010:659, Rn. 28), und vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi (C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 28).

    ( 8 ) Bereits Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 9). Vgl. auch Urteil vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA (C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 28).

    ( 9 ) Bereits Urteil vom 16. Juni 1981, Salonia (126/80, EU:C:1981:136, Rn. 7). Vgl. auch Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 65).

    ( 10 ) Vgl. z. B. Urteile vom 17. Juli 2008, Coleman (C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 22. Dezember 2008, Les Vergers du Vieux Tauves (C‑48/07, EU:C:2008:758, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 11 ) Vgl. z. B. Urteil vom 11. Juni 1987, X (14/86, EU:C:1987:275, Rn. 11).

    ( 12 ) Vgl. z. B. Urteil vom 13. April 2000, Lehtonen und Castors Braine (C‑176/96, EU:C:2000:201, Rn. 19).

    ( 13 ) Bereits Urteil vom 28. Juni 1978, Simmenthal (70/77, EU:C:1978:139, Rn. 10 und 11). Vgl. auch unlängst z. B. Urteil vom 1. Februar 2017, Tolley (C‑430/15, EU:C:2017:74, Rn. 32 und 33).

    ( 14 ) Vgl. z. B. Urteil vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437, Rn. 19 und 20). Vgl. auch, insbesondere zur etwaigen Einschränkung des Umfangs (zweiter) Rechtsmittel, Urteil vom 4. Juni 2002, Lyckeskog (C‑99/00, EU:C:2002:329, Rn. 17 und 18).

    ( 15 ) Vgl. allgemeiner auch Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 25), oder Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 67).

    ( 16 ) Vgl. z. B. Urteile vom 17. Juli 2014, Torresi (C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 20. Dezember 2017, Schweppes (C‑291/16, EU:C:2017:990, Rn. 26), und vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 21).

    ( 17 ) Vgl. Beschluss vom 5. März 1986, Wünsche (69/85, EU:C:1986:104, Rn. 15), Urteil vom 11. Juni 1987, X (14/86, EU:C:1987:275, Rn. 12), Urteil vom 6. März 2003, Kaba (C‑466/00, EU:C:2003:127, Rn. 39), und Beschluss vom 30. Juni 2016, Sokoll-Seebacher und Naderhirn (C‑634/15, EU:C:2016:510, Rn. 19).

    ( 18 ) Urteil vom 27. März 1963, Da Costa u. a. (28/62 bis 30/62, EU:C:1963:6).

    ( 19 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 13 und 14).

    ( 20 ) Ausgehend von der (erst später ausdrücklich formulierten) stillschweigenden Annahme, dass das nationale Gericht an die vom Gerichtshof bereits vorgenommene Auslegung gebunden ist, vgl. aus jüngerer Zeit z. B. Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 29 und 30), oder Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov (C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 33).

    ( 21 ) Vgl. z. B. Urteil vom 4. November 1997, Parfums Christian Dior (C‑337/95, EU:C:1997:517, Rn. 29).

    ( 22 ) Diesen geläufigen Begriff verwende ich in den vorliegenden Schlussanträgen verkürzend für „einzelstaatliches Gericht …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“. Zu einer eingehenderen Bestimmung dieser Gerichte im Kontext jedes einzelnen Verfahrens vgl. z. B. Urteile vom 4. Juni 2002, Lyckeskog (C‑99/00, EU:C:2002:329, Rn. 16), vom 16. Dezember 2008, Cartesio (C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 76 bis 78), vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 72), sowie vom 21. Dezember 2016, Biuro podróży Partner (C‑119/15, EU:C:2016:987, Rn. 52 und 53).

    ( 23 ) Vgl. Urteile vom 22. Oktober 1987, Foto-Frost (314/85, EU:C:1987:452, Rn. 20), vom 6. Dezember 2005, Gaston Schul Douane-expediteur (C‑461/03, EU:C:2005:742, Rn. 17), und vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a. (C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 47).

    ( 24 ) Vgl. z. B. Urteile vom 22. Oktober 1987, Foto-Frost (314/85, EU:C:1987:452, Rn. 15), vom 6. Dezember 2005, Gaston Schul Douane-expediteur (C‑461/03, EU:C:2005:742, Rn. 21), und vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 78 bis 80).

    ( 25 ) Vgl. Urteil vom 6. Dezember 2005, Gaston Schul Douane-expediteur (C‑461/03, EU:C:2005:742, Rn. 20 und 25).

    ( 26 ) Gutachten 1/09 (Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems) vom 8. März 2011 (EU:C:2011:123, Rn. 84). Hervorhebung nur hier.

    ( 27 ) Urteil vom 24. Mai 1977, Hoffmann-Laroche (107/76, EU:C:1977:89, Rn. 5), später durch eine Reihe anderer Urteile bestätigt, wie z. B. Urteile vom 2. April 2009, Pedro IV Servicios (C‑260/07, EU:C:2009:215, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 15. März 2017, Aquino (C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 4. Oktober 2018, Kommission/Frankreich (Steuervorabzug) (C‑416/17, EU:C:2018:811, Rn. 109).

    ( 28 ) Urteil vom 24. Mai 1977, Hoffmann-Laroche (107/76, EU:C:1977:89, Rn. 7).

    ( 29 ) Vgl. z. B. Urteil vom 15. März 2017, Aquino (C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 34).

    ( 30 ) Beispielsweise Urteil vom 24. Mai 1977, Hoffmann-Laroche (107/76, EU:C:1977:89, Rn. 5), oder Gerichtshof der Europäischen Union, Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1, Nr. 1).

    ( 31 ) Beispielsweise Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 7), und Gutachten 1/09 (Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems) vom 8. März 2011 (EU:C:2011:123, Rn. 84).

    ( 32 ) Beispielsweise Urteile vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a. (C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 47), und vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 80).

    ( 33 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 7).

    ( 34 ) Ebd. (Rn. 10). Hervorhebung nur hier.

    ( 35 ) Vgl. als Beispiel aus jüngerer Zeit Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234).

    ( 36 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 13).

    ( 37 ) Ebd. (Rn. 14).

    ( 38 ) Urteil vom 27. März 1963, Da Costa u. a. (28/62 bis 30/62, EU:C:1963:6, Rn. 38).

    ( 39 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).

    ( 40 ) Ebd. (Rn. 16).

    ( 41 ) Ebd. (Rn. 18).

    ( 42 ) Ebd. (Rn. 19).

    ( 43 ) Ebd. (Rn. 20).

    ( 44 ) Vgl. unter vielen insbesondere Rasmussen, H., „The European Court’s Acte Clair Strategy in C.I.L.F.I.T. Or: Acte Clair, of Course! But What does it Mean?“, 9 EL Rev. (1984), S. 242; Bebr, G., „The Preliminary Proceedings or Article 177 EEC – Problems and Suggestions for Improvement“, in Schermers, H. G., u. a. (Hrsg.), Article 177 EEC: Experience and Problems. North-Holland, Amsterdam, 1987, S. 355; Vaughan, D., „The Advocate’s View“, in: Andenas, M., Article 177 References to the European Court – Policy and Practice. Butterworths, London, 1994, S. 61; Broberg, M., „Acte clair revisited: Adapting the acte clair criteria to the demands of time“ (2008) 45 CMLR, S. 1383; Broberg, M., und Fenger, N., Preliminary References to the European Court of Justice, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2014, S. 240 bis 246.

    ( 45 ) Vgl. z. B. bereits die Auffassungen der nationalen Gerichte bei Schermers, H. G., u. a. (Hrsg.), Article 177 EEC: Experience and Problems. North-Holland, Amsterdam, 1987, S. 53 bis 134; Allgemeiner Bericht zum 18. Kolloquium der ACA-Europe (Association of the Councils of State and Supreme Administrative Jurisdictions) in Helsinki vom 20. und 21. Mai 2002 zum Thema „The Preliminary Reference to the Court of Justice of the European Communities“ („Das Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“), S. 28 und 29; vgl. auch Wattel, P. J., „Köbler, CILFIT and Welthgrove: We can’t go on meeting like this“, CMLR 41, 2004, S. 177.

    ( 46 ) Um den kürzlich von Generalanwalt Wahl in den verbundenen Rechtssachen X und van Dijk (C‑72/14 und C‑197/14, EU:C:2015:319, Nr. 67) verwendeten Ausdruck aufzugreifen.

    ( 47 ) Urteil vom 15. September 2005, Intermodal Transports (C‑495/03, EU:C:2005:552).

    ( 48 ) Ebd. (Rn. 34).

    ( 49 ) Ebd. (Rn. 35).

    ( 50 ) Urteil vom 9. September 2015 (C‑72/14 und C‑197/14, EU:C:2015:564).

    ( 51 ) Ebd. (Rn. 59).

    ( 52 ) Ebd. (Rn. 61). Hervorhebung nur hier.

    ( 53 ) Urteil vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a. (C‑160/14, EU:C:2015:565).

    ( 54 ) Richtlinie des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001, L 82, S. 16).

    ( 55 ) Urteil vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a. (C‑160/14, EU:C:2015:565, Rn. 41 und 42). Hervorhebung nur hier.

    ( 56 ) Ebd. (Rn. 44).

    ( 57 ) Urteil vom 28. Juli 2016 (C‑379/15, EU:C:2016:603).

    ( 58 ) Ebd. (Rn. 48).

    ( 59 ) Urteil vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne (C‑41/11, EU:C:2012:103).

    ( 60 ) Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement (C‑379/15, EU:C:2016:603, Rn. 51). Hervorhebung nur hier.

    ( 61 ) Ebd. (Rn. 52). Hervorhebung nur hier.

    ( 62 ) Urteil vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a. (C‑160/14, EU:C:2015:565, Rn. 43).

    ( 63 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16). Hervorhebung nur hier.

    ( 64 ) Vgl. hierzu jedoch Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in den verbundenen Rechtssachen X und van Dijk (C‑72/14 und C‑197/14, EU:C:2015:319, Nr. 68).

    ( 65 ) Vgl. z. B. Kornezov, A., „The New Format of the Acte Clair Doctrine and its Consequences“, CMLR, Bd. 53, 2016, S. 1317; Limante, A., „Recent Development in the Acte Clair Case Law of the EU Court of Justice: Towards a more Flexible Approach“, JCMS, Bd. 54, 2016, S. 1384; Gervasoni, S., „CJUE et cours suprêmes: repenser les termes du dialogue des juges?“ AJDA, 2019, S. 150.

    ( 66 ) Vgl. z. B. Urteil des Ústavní soud (Verfassungsgericht, Tschechische Republik) vom 11. September 2018, Rechtssache II.ÚS 3432/17 (ECLI:CZ:US:2018:2.US.3432.17.1). In jener Rechtssache lehnte das Ústavní soud (Verfassungsgericht) es unter Verweis auf das Urteil Ferreira Da Silva e Brito entgegen seiner früheren Rechtsprechung mehrfach ab, eine vom Nejvyšší soud (Oberster Gerichtshof, Tschechische Republik) unterlassene Vorlage in einem Fall zu beanstanden, in dem unterschiedliche Urteile zu derselben unionsrechtlichen Frage innerhalb der Tschechischen Republik vorlagen. Vgl. kritischer hierzu z. B. Malenovský, J., „Protichůdné zájmy v řízení o předběžné otázce a jejích důsledky“, Právní rozhledy, C.H. Beck 6/2019, S. 191.

    ( 67 ) Siehe oben, Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 68 ) Urteil vom 24. Mai 1977, Hoffmann-Laroche (107/76, EU:C:1977:89, Rn. 5).

    ( 69 ) Siehe oben, Nrn. 59 und 60 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 70 ) Vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 3).

    ( 71 ) Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Capotorti in der Rechtssache CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:267), der es nach einer kritischen Erläuterung der Ursprünge der französischen Theorie des „acte clair“ auch ablehnte, sich zur Bestimmung des Umfangs der unionsrechtlichen Vorlagepflicht am italienischen Verfassungsrecht (der Prüfung der „offensichtlichen Unerheblichkeit“) zu orientieren.

    ( 72 ) Zur Praxis des „acte clair“ der französischen Gerichte im Allgemeinen vgl. z. B. Lagrange, M., „Cour de justice européenne et tribunaux nationaux – La théorie de ‚l’acte clair‘: pomme de discorde ou trait d’union?“, Gazette du Palais, 19. März 1971, Nrn. 76 bis 78, S. 1; im besonderen Zusammenhang des Unionsrechts vgl. z. B. Lesguillons, H., „Les juges français et l’article 177“, Cahiers de droit européen 4, 1968, S. 253.

    ( 73 ) Urteil des französischen Conseil d’État (Staatsrat) vom 19. Juni 1964, Société des pétroles Shell-Berre, Nr. 47007, bekannt als das erste Urteil, in dem der Conseil d’État (Staatsrat) die „acte clair-Theorie“ auf das Unionsrecht anwandte.

    ( 74 ) Vgl. Damaška, M. R., The Faces of Justice and State Authority: A Comparative Approach to the Legal Process. Yale University Press, 1986, S. 16.

    ( 75 ) Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Wiener SI (C‑338/95, EU:C:1997:352, Nr. 65). Vgl. jedoch Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano in der Rechtssache Lyckeskog (C‑99/00, EU:C:2002:108, Nr. 75).

    ( 76 ) Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Wiener SI (C-338/95, EU:C:1997:352, Nr. 58).

    ( 77 ) C‑495/03, EU:C:2005:215, Nr. 99.

    ( 78 ) Ebd. (Nr. 100).

    ( 79 ) Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Gaston Schul Douane-expediteur (C‑461/03, EU:C:2005:415, Nr. 52).

    ( 80 ) Verbundene Rechtssachen C‑72/14 und C‑197/14, EU:C:2015:319, Nr. 69.

    ( 81 ) Ebd. (Nr. 62).

    ( 82 ) Siehe oben, Nr. 81 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 83 ) Zu rechtsvergleichenden Beispielen vgl. z. B. die verschiedenen nationalen Berichte zum 18. Kolloquium der ACA-Europe (Association of the Councils of State and Supreme Administrative Jurisdictions of the European Union) vom 20. und 21. Mai 2002 in Helsinki zum Thema „The Preliminary Reference to the Court of Justice of the European Communities“ („Das Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“) (http://www.aca-europe.eu/index.php/en/colloques-top-en/240-18th-colloquium-in-helsinki-from-20-to-21-may-2002), Vermerk 19/004 des Wissenschaftlichen Dienstes der Generaldirektion Bibliothek, Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation des Gerichtshofs von Mai 2019 „Application of the CILFIT case-law by national courts or tribunals against whose decisions there is no judicial remedy under national law“ („Anwendung der CILFIT‑Rechtsprechung durch einzelstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“) (https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-01/ndr-cilfit_synthese_en.pdf), oder Fenger, N., und Broberg, M., „Finding Light in the Darkness: On The Actual Application of the Acte Clair Doctrine“, Yearbook of European Law, Bd. 30, Nr. 1, 2011, S. 180.

    ( 84 ) Was letztlich dazu führt, dass der Begriff „vernünftiger Zweifel“ angewendet wird, aber in inhaltlich modifizierter Form. Vgl. z. B. in Zypern Anotato Dikastirio (Oberster Gerichtshof, Zypern), Rechtsmittel 78/2009 vom 15. Juni 2013, Cypra Limited/Kipriakis Dimokratias (eine Vorlagepflicht bestehe nur, wenn das betreffende Unionsrecht nicht „frei von Zweifeln“ sei); im englischen Recht wurden etwas lockerere Kriterien angewandt als das Erfordernis des „fehlenden vernünftigen Zweifels“, vgl. Rechtssache House of Lords, O’Byrne/Aventis Pasteur SA (2008, UKHL 34, Rn. 23) (kein Vorlageerfordernis, wenn die Auslegung der betreffenden Bestimmung „eindeutig über die Grenzen des Vertretbaren hinausgeht“), und Rechtssache Supreme Court, R. (on the application of Buckinghamshire CC)/Secretary of State for Transport (2014, UKSC 3, Rn. 127) (kein Vorlageerfordernis, wenn die Auslegung der betreffenden Bestimmung „vernünftigerweise nicht mehr vertretbar ist“).

    ( 85 ) Vgl. z. B. Urteil des Conseil d’État (Staatsrat) vom 26. Februar 2014 (1e/6e SSR, Nr. 354603, ECLI:FR:XX:2014:354603.20140226), Urteil der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) vom 11. Juli 2018 (1e civ., Nr. 17-18177, ECLI:FR:CCASS:2018:C100737). Während das erstgenannte Gericht sich im Allgemeinen auf das Kriterium der „ernsthaften Schwierigkeit“ stützt, verwendet das letztgenannte Gericht auch andere Kriterien.

    ( 86 ) Soweit die Rechtssache „Auslegungsfragen von allgemeinem Interesse“ aufwirft (Anotato Diskastiro Kyprou [Oberster Gerichtshof]), Rechtsmittel 5/2016 vom 5. April 2017, Proedros Tis Demokratias/Vouli Ton Antiprosopon) oder soweit es um eine Frage der Auslegung und nicht der Anwendung des Unionsrechts geht (Urteil der Qorti tal-Appell [Berufungsgericht, Malta] vom 26. Juni 2007, GIE Pari Mutuel Urbain [PMU]/Bell Med Ltd & Computer Aided Technologies Ltd [224/2006/1]).

    ( 87 ) Zu einem rechtsvergleichenden Überblick vgl. bereits Solar, N., Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien, 2004, oder Warnke, M., Die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV in der Rechtsprechungspraxis des BVerfG im Vergleich zu den Verfassungsgerichtsbarkeiten der EG-Mitgliedstaaten. Peter Lang, Frankfurt, 2004. Vgl. aus jüngerer Zeit z. B. die Berichte zu einzelnen Ländern in Coutron, L. (dir.), L’obligation de renvoi préjudiciel á la Cour de justice: une obligation sanctionnée?, Bruylant, Brüssel, 2014, oder die einzelnen Beiträge in der Sonderausgabe 2015, German Law Journal, Bd. 16/6, insbesondere Lacchi, C., „Review by Constitutional Courts of the Obligation of National Courts of Last Instance to Refer a Preliminary Question to the Court of Justice of the EU“, S. 1663.

    ( 88 ) Vgl. mit veranschaulichenden Beispielen z. B. die Entscheidungen in Deutschland: Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Mai 2018 (2 BvR 37/18), in Spanien: des Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht) vom 19. April 2004 (STC 58/2004, ECLI:ES:TC:2004:58), in der Tschechischen Republik: des Ústavní soud (Verfassungsgericht), 8. Januar 2009 (Nr. II, ÚS 1009/08), in Kroatien: des Ustavni sud Republike Hrvatske (Verfassungsgericht der Republik Kroatien), vom 13. Dezember 2016 (Nr. U‑III-2521/2015), in der Slowakei: Urteil des Ústavný súd (Verfassungsgericht) vom 18. April 2012 (Nr. II. ÚS 140/2010), in Slowenien: Entscheidung des Ustavno sodišče (Verfassungsgericht) vom 21. November 2013 (Nr. Up-1056/11, ECLI:SI:USRS:2013).

    ( 89 ) Urteil des EGMR vom 8. April 2014 (CE:ECHR:2014:0408JUD001712009, § 33). Zu den jüngsten Feststellungen von Verstößen vgl. z. B. Urteile des EGMR vom 16. April 2019, Baltic Master/Litauen (CE:ECHR:2019:0416JUD005509216, §§ 36 bis 38), und vom 13. Februar 2020, Sanofi Pasteur/Frankreich (CE:ECHR:2020:0213JUD002513716, § 81).

    ( 90 ) Urteile des EGMR vom 24. April 2018, Baydar/Niederlande (CE:ECHR:2018:0424JUD005538514, § 43).

    ( 91 ) Urteile des EGMR vom 20. September 2011, Ullens de Schooten und Rezabek/Belgien (CE:ECHR:2011:0929JUD000398907 und 3835307, § 62), sowie vom 10. April 2012, Vergauwen u. a./Belgien (CE:ECHR:2012:0410JUD00483204, §§ 89 und 90).

    ( 92 ) Im Jahr 1975 regte der Gerichtshof in einem Bericht die Einführung eines geeigneten Rechtsbehelfs wegen eines Verstoßes gegen den damaligen Art. 177 EWG entweder im Wege einer Direktklage der Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem Gerichtshof oder im Wege einer schuldrechtlichen Klage wegen Verzugs oder schließlich einer Klage auf Schadensersatz gegen den betreffenden Staat auf Antrag der geschädigten Partei an (Berichte zur Europäischen Union. Bulletin der Europäischen Gemeinschaften [Beilage 9/75, S. 18]).

    ( 93 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Consiglio Nazionale dei Geologi (C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 94 ) Wie oben in Nr. 106 der vorliegenden Schlussanträge skizziert.

    ( 95 ) Siehe oben, Nrn. 108 und 109 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 96 ) Vgl. insoweit z. B. Baquero Cruz, J., „The Preliminary Rulings Procedure: Cornerstone or Broken Atlas?“, Baquero Cruz, J., What’s Left of the Law of Integration? Decay and Resistance in European Union Law. Oxford University Press, 2018, S. 64 und 65.

    ( 97 ) Urteil vom 30. September 2003 (C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 36).

    ( 98 ) Vgl. z. B. Urteile vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 51 und 52), vom 28. Juli 2016, Tomášová (C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 22 und 23), sowie vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe (C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 35 und 36).

    ( 99 ) Auch wenn sie anwendbar sein dürften – vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 118).

    ( 100 ) In dessen Rahmen die Nichtbeachtung der Vorlagepflicht lediglich einer von mehreren zu berücksichtigenden Faktoren sein mag. Vgl. z. B. Urteile vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 55), vom 28. Juli 2016, Tomášová (C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 25), und vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe (C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 42).

    ( 101 ) Vorboten waren die Urteile vom 9. Dezember 2003, Kommission/Italien (C‑129/00, EU:C:2003:656), und vom 12. November 2009, Kommission/Spanien (C‑154/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:695). In beiden Fällen war Gegenstand des Verfahrens allgemein die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts oder der nationalen Verwaltungspraxis mit anderen, materiell-rechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts. Insbesondere in der letztgenannten Rechtssache war jedoch recht eindeutig, dass dem Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) vorgeworfen wurde, eine Vorlage unterlassen zu haben (vgl. insbesondere Rn. 124 bis 126 jenes Urteils).

    ( 102 ) Urteil vom 4. Oktober 2018, Kommission/Frankreich (Steuervorabzug) (C‑416/17, EU:C:2018:811).

    ( 103 ) Ebd. (Rn. 110).

    ( 104 ) Ebd. (Rn. 111).

    ( 105 ) Ebd. (Rn. 112).

    ( 106 ) Siehe oben, Nrn. 73 bis 86 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 107 ) Vgl. Urteil vom 14. Februar 1989, Star Fruit/Kommission (247/87, EU:C:1989:58, Rn. 11).

    ( 108 ) Was sich bereits daraus ergibt, dass eben diese Rechtsfrage auch für den eigenen Öffentlichen Berichterstatter des Conseil d’État (Staatsrat) in diesem Verfahren nicht offenkundig war. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Kommission/Frankreich (C‑416/17, EU:C:2018:626, Nrn. 56, 81 und 99).

    ( 109 ) Insoweit kann ich nicht umhin, meinen geschätzten Vorgängern darin zuzustimmen, dass selbst wenn angenommen würde, dass die CILFIT‑Rechtsprechung zum Zeitpunkt ihrer Einführung handhabbar gewesen wäre, was nicht der Fall ist, sie jedenfalls sicherlich nicht gut gealtert ist, vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Gaston Schul Douane-expediteur (C‑461/03, EU:C:2005:415, Nr. 52) und des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Wiener SI (C‑338/95, EU:C:1997:352, Rn. 59 und 60).

    ( 110 ) Verordnung (EU, Euratom) 2019/629 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (ABl. 2019, L 111, S. 1).

    ( 111 ) Der brave Soldat Švejk ist eine spannende Figur in der tschechischen Literatur, die u. a. für ihre vielfachen Belege für die zerstörerische Kraft sinnlosen Gehorsams bekannt ist. Švejk unterlief nämlich in subversiver Weise die Operationen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg, indem er alle Befehle seiner Vorgesetzten buchstabengetreu befolgte, ohne jemals deren Inhalt zu hinterfragen oder sie an die Umstände anzupassen. Vgl. unter vielen Auflagen Hašek, J., The Good Soldier Svejk and His Fortunes in the World War, penguin Classics, 2005.

    ( 112 ) Siehe oben, Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 113 ) Wie oben in Nr. 64 der vorliegenden Schlussanträge bereits ausgeführt.

    ( 114 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

    ( 115 ) Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 23). Zu späteren Bestätigungen vgl. z. B. Urteile vom 31. Januar 2013, McDonagh (C‑12/11, EU:C:2013:43, Rn. 29), und vom 11. Juni 2020, Transportes Aéreos Portugueses (C‑74/19, EU:C:2020:460, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 116 ) Urteil vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška (C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 26).

    ( 117 ) Urteil vom 31. Januar 2013, McDonagh (C‑12/11, EU:C:2013:43, Rn. 34).

    ( 118 ) Urteil vom 11. Juni 2020, Transportes Aéreos Portugueses (C‑74/19, EU:C:2020:460, Rn. 48).

    ( 119 ) Urteil vom 4. April 2019, Germanwings (C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 34).

    ( 120 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11).

    ( 121 ) Vgl. Urteil vom 4. September 2014, Vnuk (C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 59). Vgl. auch Urteile vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade (C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 34), und vom 15. November 2018, BTA Baltic Insurance Company (C‑648/17, EU:C:2018:917, Rn. 34).

    ( 122 ) Vgl. z. B. Urteile vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade (C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 38), vom 20. Dezember 2017, Núñez Torreiro (C‑334/16, EU:C:2017:1007, Rn. 29), und vom 15. November 2018, BTA Baltic Insurance Company (C‑648/17, EU:C:2018:917, Rn. 44).

    ( 123 ) Urteil vom 4. September 2014, Vnuk (C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 59 und Tenor).

    ( 124 ) Urteil vom 28. November 2017, Rodrigues de Andrade (C‑514/16, EU:C:2017:908, Rn. 42 und Tenor).

    ( 125 ) Urteil vom 15. November 2018, BTA Baltic Insurance Company (C‑648/17, EU:C:2018:917, Rn. 48 und Tenor).

    ( 126 ) Urteil vom 20. Juni 2019, Línea Directa Aseguradora (C‑100/18, EU:C:2019:517, Rn. 48 und Tenor).

    ( 127 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9). Nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie ist „‚Arbeitszeit‘ jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“.

    ( 128 ) Vgl. z. B. Urteil vom 9. September 2003, Jaeger (C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 63), Beschluss vom 4. März 2011, Grigore (C‑258/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:122, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung), und Urteil vom 21. Februar 2018, Matzak (C‑518/15, EU:C:2018:82, Rn. 59).

    ( 129 ) Urteil vom 3. Oktober 2000, Simap (C‑303/98, EU:C:2000:528), und Beschluss vom 3. Juli 2001, CIG (C‑241/99, EU:C:2001:371).

    ( 130 ) Urteil vom 9. September 2003, Jaeger (C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 71).

    ( 131 ) Urteil vom 21. Februar 2018, Matzak (C‑518/15, EU:C:2018:82, Rn. 65).

    ( 132 ) Schlussanträge in der Rechtssache Wiener SI (C‑338/95, EU:C:1997:352, Nr. 50).

    ( 133 ) Meine Schlussanträge in der Rechtssache Van Ameyde España SA (C‑923/19, EU:C:2021:125).

    ( 134 ) Um noch einmal auf das von Generalanwalt Wahl verwendete Bild zurückzukommen, siehe oben, Nr. 103 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 135 ) Wie in der Vergangenheit unter der Überschrift „Grüne-Ampel-Verfahren“ oder auf anderen Wegen der Reform des Vorabentscheidungsverfahrens vorgeschlagen, vgl. z. B. Due, O., „The Working Party Report“, in Dashwood, A., und Johnston, A. C., The Future of the Judicial System of the European Union. Hart, Oxford, 2001. Dagegen ist das vorlegende Gericht, wenn es dies zu tun wünscht, sicherlich nicht daran gehindert.

    ( 136 ) Vgl. in diesem Sinne auch Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in den verbundenen Rechtssachen X und van Dijk (C‑72/14 und C‑197/14, EU:C:2015:319, Nr. 68).

    ( 137 ) Urteil vom 27. März 1963, Da Costa u. a. (28/62 bis 30/62, EU:C:1963:6).

    ( 138 ) Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 13 und 14).

    ( 139 ) Oben in Nr. 134 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt.

    ( 140 ) Zu Gegenbeispielen zu den in den vorliegenden Schlussanträgen angesprochenen Rechtssachen vgl. zum einen Urteil vom 4. Oktober 2018, Kommission/Frankreich (Steuervorabzug) (C‑416/17, EU:C:2018:811), und zum anderen Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement (C‑379/15, EU:C:2016:603).

    ( 141 ) Vgl. zur Veranschaulichung jüngst Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936).

    ( 142 ) Wobei mit „Klarstellung“ letztlich euphemistisch eine Aufgabe der Rechtsprechung gemeint ist.

    ( 143 ) Vgl. in diesem Sinne bereits Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement (C‑379/15, EU:C:2016:603, Rn. 53).

    ( 144 ) Walton, I., „The Complete angler“, Gay & Bird, London, 1901, Kapitel V.

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