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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62018CJ0831

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 18. Juni 2020.
Europäische Kommission gegen RQ.
Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Generaldirektor des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Befreiung von der Gerichtsbarkeit – Beschluss über die Aufhebung – Beschwerende Maßnahme – Verteidigungsrechte.
Rechtssache C-831/18 P.

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2020:481

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

18. Juni 2020 ( *1 )

„Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Generaldirektor des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Befreiung von der Gerichtsbarkeit – Beschluss über die Aufhebung – Beschwerende Maßnahme – Verteidigungsrechte“

In der Rechtssache C‑831/18 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 21. Dezember 2018,

Europäische Kommission, vertreten durch J.‑P. Keppenne und J. Baquero Cruz als Bevollmächtigte,

Rechtsmittelführerin,

andere Partei des Verfahrens:

RQ, ehemaliger Beamter der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Boigelot, avocat,

Kläger im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras (Berichterstatter), der Richter S. Rodin und D. Šváby sowie der Richterin K. Jürimäe und des Richters N. Piçarra,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. September 2019,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Dezember 2019

folgendes

Urteil

1

Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Europäische Kommission, das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 24. Oktober 2018, RQ/Kommission (T‑29/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2018:717), aufzuheben, mit dem das Gericht den Beschluss C(2016) 1449 final der Kommission vom 2. März 2016 über einen Antrag auf Aufhebung der Befreiung von RQ von der Gerichtsbarkeit (im Folgenden: streitiger Beschluss) aufgehoben hat.

Rechtlicher Rahmen

Protokoll Nr. 7

2

In Art. 11 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 266, im Folgenden: Protokoll Nr. 7) heißt es:

„Den Beamten und sonstigen Bediensteten der Union stehen im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit folgende Vorrechte und Befreiungen zu:

a)

Befreiung von der Gerichtsbarkeit bezüglich der von ihnen in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen, einschließlich ihrer mündlichen und schriftlichen Äußerungen, jedoch vorbehaltlich der Anwendung der Bestimmungen der Verträge über die Vorschriften betreffend die Haftung der Beamten und sonstigen Bediensteten gegenüber der Union und über die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union für Streitsachen zwischen der Union und ihren Beamten sowie sonstigen Bediensteten. Diese Befreiung gilt auch nach Beendigung ihrer Amtstätigkeit[.]

…“

3

Art. 17 des Protokolls Nr. 7 lautet:

„Die Vorrechte, Befreiungen und Erleichterungen werden den Beamten und sonstigen Bediensteten der Union ausschließlich im Interesse der Union gewährt.

Jedes Organ der Union hat die Befreiung eines Beamten oder sonstigen Bediensteten in allen Fällen aufzuheben, in denen dies nach seiner Auffassung den Interessen der Union nicht zuwiderläuft.“

4

Art. 18 des Protokolls Nr. 7 sieht vor:

„Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“

Statut

5

Art. 23 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) bestimmt:

„Die den Beamten zustehenden Vorrechte und Befreiungen sind ausschließlich im Interesse der Union gewährt. Soweit in dem Protokoll [Nr. 7] nichts anderes bestimmt ist, sind die Beamten weder von der Erfüllung ihrer persönlichen Verpflichtungen noch von der Beachtung der geltenden Gesetze und polizeilichen Vorschriften befreit.

In allen Fällen, in denen diese Vorrechte und Befreiungen berührt werden, hat der betroffene Beamte dies der Anstellungsbehörde unverzüglich mitzuteilen.

…“

6

In Art. 90 Abs. 2 des Statuts heißt es:

„Jede Person, auf die dieses Statut Anwendung findet, kann sich mit einer Beschwerde gegen eine sie beschwerende Maßnahme an die Anstellungsbehörde wenden; dies gilt sowohl für den Fall, dass die Anstellungsbehörde eine Entscheidung getroffen hat, als auch für den Fall, dass sie eine im Statut vorgeschriebene Maßnahme nicht getroffen hat. Die Beschwerde muss innerhalb einer Frist von drei Monaten eingelegt werden. …

Die Anstellungsbehörde teilt dem Betreffenden ihre begründete Entscheidung binnen vier Monaten nach dem Tag der Einreichung der Beschwerde mit. Wird innerhalb dieser Frist keine Antwort auf die Beschwerde erteilt, so gilt dies als stillschweigende Ablehnung, gegen die eine Klage nach Artikel 91 zulässig ist.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitiger Beschluss

7

Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist in den Rn. 1 bis 18 des angefochtenen Urteils dargestellt. Für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens lässt sie sich wie folgt zusammenfassen.

8

Im Jahr 2012 erhob ein Hersteller von Tabakerzeugnissen eine Beschwerde bei der Kommission, mit der ernsthafte Anschuldigungen betreffend die Beteiligung eines Mitglieds der Kommission an Bestechungsversuchen vorgebracht wurden. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), dessen Generaldirektor RQ damals war, leitete eine administrative Untersuchung ein, um die erforderlichen Überprüfungen und Kontrollen durchzuführen.

9

Auf der Grundlage der in der ersten Phase der Untersuchung ermittelten Tatsachen war das OLAF der Ansicht, dass es sachdienlich sein könnte, einen Zeugen zu ersuchen, ein Telefonat mit einer angeblich in den behaupteten Bestechungsversuch involvierten Person zu führen, damit zusätzliche Beweise erhoben werden könnten.

10

Dieses Telefonat fand am 3. Juli 2012 statt. Der Zeuge benutzte dabei mit Zustimmung und in Anwesenheit von RQ ein Mobiltelefon in den Räumen des OLAF. Das Telefongespräch wurde vom OLAF registriert und in seinen Abschlussbericht der Untersuchung aufgenommen.

11

Nach Abschluss dieser administrativen Untersuchung wurde bei einem belgischen Gericht Strafanzeige erstattet, wobei insbesondere das rechtswidrige Abhören eines Telefongesprächs geltend gemacht wurde. Um dieser Anzeige nachgehen zu können, ersuchte der zuständige belgische Untersuchungsrichter die Kommission um die Aufhebung der Immunität von RQ, damit er als Beschuldigter vernommen werden könne. Nachdem die Kommission um weitere Erläuterungen gebeten hatte, teilte ihr der belgische Föderalprokurator bestimmte Tatsachen der vom OLAF durchgeführten Untersuchung mit, die als Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes rechtswidriges Abhören angesehen werden könnten.

12

Unter diesen Umständen gab die Kommission am 2. März 2016 dem Antrag der belgischen Justiz statt und erließ den streitigen Beschluss, mit dem sie die Befreiung von RQ von der Gerichtsbarkeit gemäß Art. 17 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 hinsichtlich der tatsächlichen Anschuldigungen bezüglich des Abhörens eines Telefongesprächs aufhob.

13

Ausweislich der Begründung des streitigen Beschlusses war die Kommission der Ansicht, dass die zuständigen nationalen Behörden ihr gegenüber sehr klare und genaue Angaben gemacht hätten, die den Schluss zuließen, dass die gegen RQ erhobenen Vorwürfe es rechtfertigten, eine Untersuchung gegen ihn fortzusetzen, und dass es daher dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit mit den einzelstaatlichen Behörden zuwiderliefe, wenn die Aufhebung seiner Immunität abgelehnt würde.

14

Der streitige Beschluss wurde RQ am 11. März 2016 übermittelt. Er legte dagegen gemäß Art. 90 Abs. 2 des Statuts Beschwerde ein, die von der Anstellungsbehörde am 5. Oktober 2016 zurückgewiesen wurde.

Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

15

Mit Klageschrift, die am 17. Januar 2017 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob RQ Klage auf Aufhebung des streitigen Beschlusses und der Entscheidung vom 5. Oktober 2016.

16

Mit dem angefochtenen Urteil hob das Gericht den streitigen Beschluss auf.

17

Zunächst hat das Gericht in Rn. 45 des angefochtenen Urteils die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit der Klage zurückgewiesen, die darauf gestützt war, dass der streitige Beschluss keine beschwerende Maßnahme darstelle, da Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität von Beamten und sonstigen Bediensteten der Union deren Rechtsstellung nicht änderten.

18

Insoweit hat das Gericht in Rn. 37 des angefochtenen Urteils ausgeführt: „Dass die [vom Protokoll Nr. 7 erfassten] Vorrechte und Befreiungen den öffentlichen Interessen der Union dienen sollen, rechtfertigt die den Organen verliehene Befugnis, die Immunität gegebenenfalls aufzuheben, bedeutet aber nicht, dass diese Vorrechte und Befreiungen ausschließlich der Union und nicht auch ihren Beamten, ihren sonstigen Bediensteten und den Mitgliedern des Parlaments gewährt worden wären. Das Protokoll [Nr. 7] verleiht mithin den darin bezeichneten Personen ein subjektives Recht, dessen Schutz durch das vom Vertrag geschaffene Rechtsschutzsystem gewährleistet wird.“

19

In Rn. 38 des angefochtenen Urteils hat das Gericht weiter ausgeführt, dass „[e]ine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten oder sonstigen Bediensteten … dessen Rechtsstellung allein durch die Aufhebung dieses Schutzes dadurch [ändert], dass sie seine Stellung als dem allgemeinen Recht der Mitgliedstaaten unterworfene Person wiederherstellt und ihn damit, ohne dass eine Durchführungsvorschrift erforderlich wäre, Maßnahmen, insbesondere solchen des Freiheitsentzugs und der Strafverfolgung, aussetzt, die das allgemeine Recht vorsieht.“

20

Hinsichtlich der Begründetheit der Klage hat das Gericht als Erstes den fünften Klagegrund von RQ geprüft, mit dem dieser eine Verletzung der Verteidigungsrechte rügte. Dieser Klagegrund bestand aus drei Teilen, die sich erstens auf die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, zweitens auf die Verletzung der Unschuldsvermutung und der Pflicht zur Unparteilichkeit und drittens auf die Verletzung der Sorgfaltspflicht bezogen. Aus den in den Rn. 52 bis 76 des angefochtenen Urteils dargelegten Gründen hat das Gericht dem ersten Teil dieses Klagegrundes stattgegeben und infolgedessen den streitigen Beschluss aufgehoben, ohne die übrigen Teile dieses Klagegrundes oder die anderen Klagegründe zu prüfen.

21

In Rn. 52 des angefochtenen Urteils hat das Gericht auf die ständige Rechtsprechung hingewiesen, wonach „die Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör … in allen Verfahren gegen eine Person, die zu einer sie beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts ist, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt“. In den Rn. 55 und 56 des Urteils hat es präzisiert, dass nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung Grundrechte wie das Recht auf Wahrung der Verteidigungsrechte Beschränkungen unterworfen werden könnten, sofern diese gesetzlich vorgesehen seien, den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts achteten, tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprächen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt würden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellten.

22

In Rn. 57 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass RQ vor Erlass des streitigen Beschlusses unstreitig kein rechtliches Gehör gewährt worden sei, so dass zu prüfen sei, ob die im vorliegenden Fall erfolgte Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör die vorgenannten Voraussetzungen erfülle.

23

Es hat in Rn. 58 des angefochtenen Urteils weiter ausgeführt, dass die Kommission diese Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör damit begründet habe, dass bei den von den belgischen Behörden vorgenommenen Ermittlungen das Untersuchungsgeheimnis gewahrt werden müsse, wie es das von diesen Behörden angeführte belgische Recht verlange. In Rn. 63 des Urteils hat es festgestellt, dass der Grundsatz des Untersuchungsgeheimnisses im belgischen Recht verankert sei und das Unterbleiben einer vorherigen Anhörung des Betroffenen sich gemäß Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) grundsätzlich mit dem Untersuchungsgeheimnis objektiv rechtfertigen lasse.

24

Das Gericht hat sodann geprüft, ob die unterbliebene Anhörung von RQ im Hinblick auf die Wahrung des Untersuchungsgeheimnisses und den ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens erforderlich und verhältnismäßig war. In den Rn. 66 und 67 des angefochtenen Urteils hat es ausgeführt, dass die Kommission, wenn eine nationale Behörde unter Berufung auf das Untersuchungsgeheimnis dem widerspreche, dass dem Betroffenen die Gründe, auf denen der Antrag auf Aufhebung der Immunität beruhe, genau und umfassend mitgeteilt würden, in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Maßnahmen ergreifen müsse, die eine Abwägung zwischen der Wahrung des Anspruchs des Betroffenen, vor Erlass einer ihn beschwerenden Maßnahme gehört zu werden, und den berechtigten Erwägungen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgeheimnis ermöglichten.

25

In Rn. 69 des angefochtenen Urteils hat das Gericht entschieden, dass sich aus den ihm vorliegenden Akten nicht ergebe, dass die Kommission bei Erlass des streitigen Beschlusses eine solche Abwägung durchgeführt hätte. Insoweit hat sich das Gericht auf drei Gesichtspunkte gestützt, die es in den Rn. 70 bis 72 des angefochtenen Urteils dargelegt hat. So habe die Kommission erstens den nationalen Behörden nicht die Frage gestellt, inwiefern die vorherige Anhörung des Klägers mit Risiken für die Wahrung des Untersuchungsgeheimnisses verbunden sei. Zweitens hätten die belgischen Behörden keine ernsthafte Gefahr einer Beeinträchtigung des ordnungsgemäßen Ablaufs der Untersuchung durch den Betroffenen angeführt, die es rechtfertigen könnte, ihm den Antrag auf Aufhebung seiner Immunität nicht mitzuteilen. Drittens seien die Antworten der belgischen Behörden auf die Nachfrage der Kommission, ob RQ zu den Anträgen auf Aufhebung seiner Immunität angehört werden könne, lückenhaft gewesen, und die Kommission habe diese Behörden jedenfalls nicht zur Möglichkeit befragt, eine nicht vertrauliche Fassung dieser Anträge zu erstellen, die RQ übermittelt werden könne.

26

Darüber hinaus hat das Gericht in Rn. 76 des angefochtenen Urteils ausgeführt, es könne nicht völlig ausgeschlossen werden, dass der streitige Beschluss inhaltlich anders ausgefallen wäre, wenn der Anspruch von RQ auf rechtliches Gehör gewahrt worden wäre, da RQ zur Aufhebung seiner Immunität und insbesondere zu den Interessen der Union und zum Schutz seiner erforderlichen Unabhängigkeit als Beamter, der das Amt des Generaldirektors des OLAF ausübe, sachgerecht hätte Stellung nehmen können.

Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof

27

Die Kommission beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben;

den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden und die Klage von RQ abzuweisen sowie ihm die Kosten sowohl des Verfahrens vor dem Gericht als auch des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen;

hilfsweise, falls der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif sein sollte, die Sache zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen.

28

RQ beantragt,

das Rechtsmittel insgesamt als offensichtlich unzulässig und zumindest unbegründet zurückzuweisen;

der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten des ersten Rechtszugs aufzuerlegen.

Zum Rechtsmittel

29

Die Kommission stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügt sie, das Gericht habe rechtsfehlerhaft entschieden, dass der streitige Beschluss eine beschwerende Maßnahme darstelle. Mit dem zweiten, hilfsweise geltend gemachten Rechtsmittelgrund rügt sie, das Gericht habe Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta und Art. 4 Abs. 3 EUV rechtsfehlerhaft ausgelegt und angewandt, und mit dem dritten, weiter hilfsweise vorgebrachten Rechtsmittelgrund, das Gericht habe das „Verhalten“ der Kommission rechtsfehlerhaft beurteilt.

Zum ersten Rechtsmittelgrund: rechtsfehlerhafte Einstufung des streitigen Beschlusses als „beschwerende Maßnahme“

Vorbringen der Parteien

30

Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe rechtsfehlerhaft entschieden, dass Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität wie der streitige Beschluss die Beamten der Union beschwerten und mit einer Klage bei den Unionsgerichten angefochten werden könnten.

31

Erstens habe das Gericht zu Unrecht angenommen, dass es sich auf eine gefestigte Rechtsprechung stützen könne, obwohl der Gerichtshof niemals mit dieser Rechtsfrage befasst worden sei.

32

Zum einen habe sich der Gerichtshof im Urteil vom 16. Dezember 1960, Humblet/Belgischer Staat (6/60‑IMM, EU:C:1960:48), nicht zur Frage der Rechtsnatur einer Entscheidung über die Aufhebung der Immunität als beschwerende Maßnahme geäußert, da er seine Überlegungen auf Art. 16 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der EGKS gestützt habe. Diese Bestimmung habe jedoch im Protokoll Nr. 7 keine Entsprechung.

33

Zum anderen hätten die Urteile vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament (T‑345/05, EU:T:2008:440), und vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament (T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23), Mitglieder des Europäischen Parlaments und nicht Beamte der Union betroffen. Die Immunität der Mitglieder des Parlaments sei aber nicht von gleicher Art und Tragweite wie die Immunität der Beamten und sonstigen Bediensteten der Union.

34

Zweitens ergebe sich aus Wortlaut, Kontext und Zweck von Art. 17 des Protokolls Nr. 7, dass die Entscheidung, die Immunität eines Beamten aufzuheben, diesen nicht beschwere, da sie nicht die Rechtsstellung des betroffenen Beamten, sondern nur die der Union und des die Aufhebung beantragenden Mitgliedstaats ändere.

35

Aus diesem Artikel gehe nämlich, was sowohl durch den Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a. (C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19), als auch durch Art. 343 AEUV bestätigt werde, hervor, dass der Schutz der Befreiung von der Gerichtsbarkeit der Union selbst gewährt werde und dass diese Befreiung im Allgemeinen aufzuheben sei, es sei denn, dies stehe im Widerspruch zu den Interessen der Union. Ebenso bestätige Art. 23 des Statuts, die einzige Bestimmung des Statuts, die auf die Vorrechte und Befreiungen der Beamten Bezug nehme, ausweislich seines Wortlauts, dass diese Vorrechte und Befreiungen „ausschließlich im Interesse der Union gewährt“ würden.

36

Außerdem bestehe der Zweck von Art. 17 des Protokolls Nr. 7 darin, die Union in Extremfällen zu schützen, in denen die Erfüllung ihrer Aufgabe durch das Handeln der nationalen Gerichte gefährdet werde.

37

Das Gericht habe daher zu Unrecht entschieden, dass das Protokoll Nr. 7 subjektive Rechte zugunsten der betroffenen Personen begründe. Im Hinblick auf den betroffenen Beamten sei aber der Beschluss, seine Befreiung von der Gerichtsbarkeit aufzuheben, als vorbereitende Maßnahme anzusehen, die sich darauf beschränke, ein verfahrensrechtliches Hindernis für den normalen Fortgang eines nationalen Gerichtsverfahrens zu beseitigen. Allein die endgültige Entscheidung im nationalen Strafverfahren könne sich im Falle einer Verurteilung wirklich auf die Rechtsstellung des Beamten auswirken. Im Übrigen bleibe dem Beamten stets die Möglichkeit, die Gültigkeit des Beschlusses über die Aufhebung der Immunität im Rahmen des nationalen Verfahrens in Frage zu stellen, und das nationale Gericht sei im Zweifelsfall verpflichtet, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Ein solcher Beschluss entspreche einem Beschluss des OLAF, mit dem eine Untersuchung gegen einen Beamten eingeleitet oder nach einer Untersuchung der Abschlussbericht des OLAF an die nationalen Justizbehörden weitergeleitet werde. Nach ständiger Rechtsprechung hätten solche Handlungen vorbereitenden Charakter und könnten nicht mit einer Anfechtungsklage angefochten werden.

38

Deshalb beruhe die Begründung des Gerichts in Rn. 38 des angefochtenen Urteils, wonach eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten oder sonstigen Bediensteten dessen Rechtsstellung allein durch die Aufhebung des Schutzes ändere, den er nach Art. 11 des Protokolls Nr. 7 gegen die Verfolgung durch die Behörden der Mitgliedstaaten genieße, auf einer irrigen Vorstellung von der Immunität, die als subjektives Recht verstanden werde.

39

RQ ist der Ansicht, dass der erste Rechtsmittelgrund als unzulässig zurückzuweisen sei. Die Kommission wiederhole die Argumente, die sie schon im ersten Rechtszug vorgebracht habe, und wolle somit in Wirklichkeit nur eine erneute Prüfung der beim Gericht erhobenen Klage erreichen, wofür der Gerichtshof aber nicht zuständig sei.

40

Hilfsweise trägt RQ vor, das Gericht habe den streitigen Beschluss rechtsfehlerfrei als beschwerende Maßnahme eingestuft.

Würdigung durch den Gerichtshof

41

Vorab ist festzustellen, dass der erste Rechtsmittelgrund entgegen dem Vorbringen von RQ zulässig ist.

42

Im ersten Rechtszug geprüfte Rechtsfragen können in einem Rechtsmittelverfahren erneut aufgeworfen werden, wenn der Rechtsmittelführer die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts durch das Gericht beanstandet. Könnte nämlich ein Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel nicht in dieser Weise auf bereits vor dem Gericht geltend gemachte Klagegründe und Argumente stützen, würde dies dem Rechtsmittelverfahren einen Teil seiner Bedeutung nehmen (Urteil vom 20. September 2016, Mallis u. a./Kommission und EZB, C‑105/15 P bis C‑109/15 P, EU:C:2016:702, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund beanstandet die Kommission die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch das Gericht, aufgrund deren dieses – entgegen der von der Kommission vor ihm entwickelten Argumentation – festgestellt habe, dass der streitige Beschluss eine RQ beschwerende Maßnahme darstelle, die Gegenstand einer Anfechtungsklage sein könne.

44

Hinsichtlich der Prüfung der Begründetheit des ersten Rechtsmittelgrundes der Kommission ist darauf hinzuweisen, dass beschwerend im Sinne von Art. 90 Abs. 2 des Statuts nur solche Handlungen oder Maßnahmen sind, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, die die Interessen des Klägers unmittelbar und sofort beeinträchtigen können, indem sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise verändern (Urteil vom 14. September 2006, Kommission/Fernández Gómez, C‑417/05 P, EU:C:2006:582, Rn. 42; vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 1987, Stroghili/Rechnungshof, 204/85, EU:C:1987:21, Rn. 6 und 9, sowie vom 14. Februar 1989, Bossi/Kommission, 346/87, EU:C:1989:59, Rn. 23).

45

Wie das Gericht in Rn. 38 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, ändert eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten wie der streitige Beschluss die Rechtsstellung des Beamten allein durch die Aufhebung des Schutzes, der ihm durch die in Art. 11 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Befreiung von der Gerichtsbarkeit gewährt wird, und zwar dadurch, dass sie seinen Status als dem allgemeinen Recht der Mitgliedstaaten unterworfene Person wiederherstellt und ihn, ohne dass eine Durchführungsvorschrift erforderlich wäre, Maßnahmen, insbesondere solchen des Freiheitsentzugs und der Strafverfolgung, aussetzt, die das allgemeine Recht vorsieht.

46

Da die in Art. 11 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Befreiung eines Unionsbeamten von der Gerichtsbarkeit durch Entscheidung der Anstellungsbehörde seines Organs aufgehoben wird, die damit seine Rechtsstellung verändert, macht die Kommission zu Unrecht geltend, dass das Gericht nicht ähnlich wie im Urteil vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament (T‑345/05, EU:T:2008:440), habe entscheiden dürfen.

47

Zwar haben die der Union durch das Protokoll Nr. 7 eingeräumten Vorrechte und Befreiungen insofern funktionalen Charakter, als durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union verhindert werden soll, was insbesondere impliziert, dass die den Beamten und sonstigen Bediensteten der Union gewährten Vorrechte, Befreiungen und Erleichterungen ausschließlich im Interesse der Union gewährt werden (Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19 und 20).

48

Gleichwohl ändert ein Beschluss über die Aufhebung der Immunität eines Unionsbeamten dessen Lage in qualifizierter Weise, indem ihm diese Immunität genommen wird, und stellt folglich eine ihn beschwerende Maßnahme dar.

49

Im Übrigen ergibt sich aus der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass eine Maßnahme nicht nur dann als eine den Beamten „beschwerende Maßnahme“ eingestuft wird, wenn sie ein ihm gewährtes subjektives Recht verletzt oder berührt, sondern ganz allgemein dann, wenn sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise ändert.

50

Folglich ist die Frage, ob Art. 11 Buchst. a des Protokolls Nr. 7, wie das Gericht in Rn. 37 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, „den darin bezeichneten Personen ein subjektives Recht [verleiht]“, für die Einstufung eines Beschlusses über die Aufhebung der Immunität eines Beamten als beschwerende Maßnahme ohne Belang. Gleiches gilt für die Frage der Auslegung des Urteils vom 16. Dezember 1960, Humblet/Belgischer Staat (6/60‑IMM, EU:C:1960:48), durch das Gericht in Rn. 42 des angefochtenen Urteils.

51

Auch das Vorbringen der Kommission, dass ein Beschluss über die Aufhebung der Immunität eines Beamten als „vorbereitende Maßnahme“ einzustufen sei, ist zurückzuweisen, da sich, wie die Generalanwältin in Nr. 61 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Änderung der Rechtsstellung des Betroffenen aus dem Erlass eines Beschlusses wie des streitigen ergibt. Mit diesem Beschluss wird das Verfahren zur Aufhebung der Immunität des betroffenen Beamten beendet, ohne dass der Erlass einer späteren Maßnahme des Beschäftigungsorgans dieses Beamten, die er anfechten könnte, vorgesehen wäre.

52

Die vom Gericht in Rn. 38 des angefochtenen Urteils für seine Feststellung, dass eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten oder sonstigen Bediensteten der Union dessen Rechtsstellung ändere, angeführte Begründung genügt, um die Einstufung des streitigen Beschlusses als „beschwerende Maßnahme“ im Sinne von Art. 90 Abs. 2 des Statuts zu rechtfertigen.

53

Folglich ist davon auszugehen, dass die Rn. 37 und 42 des angefochtenen Urteils nicht tragende Gründe enthalten, so dass der sie betreffende Teil des Vorbringens der Kommission als ins Leere gehend zurückzuweisen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Kommission/CAS Succhi di Frutta, C‑496/99 P, EU:C:2004:236, Rn. 68, und vom 29. November 2012, Vereinigtes Königreich/Kommission, C‑416/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:761, Rn. 45).

54

Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.

Zum zweiten Rechtsmittelgrund: rechtsfehlerhafte Auslegung und Anwendung von Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta und Art. 4 Abs. 3 EUV

Vorbringen der Parteien

55

Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe den Anspruch auf rechtliches Gehör falsch ausgelegt, als es in den Rn. 66 und 67 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass sie verpflichtet gewesen sei, eine Abwägung zwischen dem Anspruch des betroffenen Beamten auf rechtliches Gehör und dem Untersuchungsgeheimnis vorzunehmen. Die weite Auslegung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das Gericht führe „zu einem ungerechtfertigten systematischen Eingriff der Unionsorgane in die Zuständigkeiten der Justizbehörden der Mitgliedstaaten“.

56

In diesem Zusammenhang hebt die Kommission hervor, dass sie nur deshalb ausnahmsweise mit den nationalen Behörden einen Schriftwechsel in Bezug auf RQ geführt habe, weil dieser zum Zeitpunkt des Antrags auf Aufhebung der Immunität Generaldirektor des OLAF gewesen sei. Sie tausche sich „im Regelfall“ nicht mit den nationalen Behörden oder dem betroffenen Beamten aus, um das strenge Vertraulichkeitserfordernis im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgeheimnis zu wahren. Die im angefochtenen Urteil geforderte Abwägung der widerstreitenden Interessen stelle die ständige Praxis aller Organe und Einrichtungen der Union in Frage.

57

Im Übrigen verlange das Gericht zwar eine solche Abwägung, führe aber nicht näher aus, welche Folgen diese habe, insbesondere wenn das betreffende Organ der Auffassung sei, dass das Interesse des in Rede stehenden Beamten an einer Anhörung Vorrang vor der Wahrung des Untersuchungsgeheimnisses habe. So stelle das Gericht nicht klar, ob das betreffende Organ unter Verstoß gegen das nationale Recht beschließen könne, den Betroffenen anzuhören, oder ob es die Aufhebung seiner Immunität aus diesem Grund ablehnen müsse.

58

Die Kommission trägt außerdem vor, dass das Erfordernis der Interessenabwägung, wie es in den Rn. 66 und 67 des angefochtenen Urteils angeführt worden sei, gegen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit verstoße. Wenn sich die nationalen Behörden dagegen aussprächen, dass sie den betroffenen Beamten anhöre, dürfe sie die Beurteilung einer Frage des nationalen Strafrechts durch die nationalen Behörden nicht überprüfen oder durch ihre eigene Beurteilung ersetzen. Dies werde durch den Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a. (C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 18), bestätigt.

59

Schließlich macht die Kommission geltend, dass eine vorherige Anhörung des betroffenen Beamten zwecklos sei, da das Organ zur Aufhebung seiner Immunität verpflichtet sei, es sei denn, dies laufe den Interessen der Union – und nur diesen – zuwider. Der Beamte könne die Interessen der Union aber nicht im Licht seiner individuellen Situation bestimmen oder beeinflussen.

60

RQ erhebt in erster Linie eine Einrede der Unzulässigkeit des zweiten Rechtsmittelgrundes, weil die Kommission damit nur die im ersten Rechtszug vorgebrachten Gründe wiederhole.

61

Hilfsweise trägt er vor, dass der Rechtsmittelgrund unbegründet sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

62

Die von RQ erhobene Einrede der Unzulässigkeit des zweiten Rechtsmittelgrundes ist aus den in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Gründen zurückzuweisen.

63

Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wirft die Kommission dem Gericht im Wesentlichen vor, in den Rn. 66 und 67 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft entschieden zu haben, dass sie verpflichtet sei, eine Abwägung zwischen dem Anspruch des von einem Antrag auf Aufhebung seiner Immunität zum Zweck eines Ermittlungsverfahrens betroffenen Beamten auf Anhörung einerseits und dem strafrechtlichen Untersuchungsgeheimnis andererseits vorzunehmen. In einem solchen Zusammenhang steht es der Kommission frei, vor dem Gerichtshof Argumente geltend zu machen, die sie bereits vor dem Gericht vorgebracht hatte und die von diesem zurückgewiesen worden sind.

64

Hinsichtlich der Prüfung der Begründetheit des zweiten Rechtsmittelgrundes ist darauf hinzuweisen, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein tragender Grundsatz des Unionsrechts ist (Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Was insbesondere das Recht auf Anhörung in jedem Verfahren angeht, so ist dieses Recht integraler Bestandteil dieses tragenden Grundsatzes und heute nicht nur in den Art. 47 und 48 der Charta verankert, die das Recht auf Wahrung der Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen aller Gerichtsverfahren garantieren, sondern auch in Art. 41 der Charta, der das Recht auf eine gute Verwaltung gewährleistet (Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Nach Art. 41 Abs. 2 der Charta umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung nämlich insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.

67

Diese Bestimmung ist, wie sich bereits aus ihrem Wortlaut ergibt, allgemein anwendbar. Folglich muss das Recht auf Anhörung in allen Verfahren gewahrt werden, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können, auch wenn die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsieht. Darüber hinaus garantiert dieses Recht jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 84 bis 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Daher hat das Gericht, nachdem es, wie sich aus der Zurückweisung des ersten Rechtsmittelgrundes ergibt, zu Recht festgestellt hatte, dass der streitige Beschluss eine den betroffenen Beamten beschwerende Maßnahme darstellt, in den Rn. 52 bis 54 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Kommission verpflichtet sei, den Beamten vor Erlass eines Beschlusses über die Aufhebung seiner Immunität anzuhören.

69

Zwar hat, wie in Rn. 47 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Immunität der Beamten und sonstigen Bediensteten der Union nach dem Protokoll Nr. 7 funktionalen Charakter und dient ausschließlich der Wahrung der Interessen der Union, indem sie verhindert, dass deren Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit beeinträchtigt werden.

70

Dieser Umstand kann jedoch, auch wenn er möglicherweise bedeutet, dass der betroffene Beamte darin beschränkt wird, welche Argumente er geltend machen kann, um sein Beschäftigungsorgan zu überzeugen, seine Immunität nicht aufzuheben, entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht rechtfertigen, ihn vor der Aufhebung seiner Immunität gar nicht anzuhören. Eine solche Entscheidung verstieße unmittelbar gegen die in Rn. 67 des vorliegenden Urteils angeführte ständige Rechtsprechung.

71

Vor diesem Hintergrund ist ferner darauf hinzuweisen, dass Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der in der Charta verankerten Rechte, einschließlich des in Art. 41 verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör, zulässt. Art. 52 Abs. 1 der Charta verlangt jedoch, dass jede Einschränkung gesetzlich vorgesehen ist und den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts achtet. Zudem muss die Einschränkung nach dieser Bestimmung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen.

72

Im vorliegenden Fall hat das Gericht in Rn. 61 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass der Grundsatz des Untersuchungsgeheimnisses in den Bestimmungen des belgischen Strafprozessgesetzbuchs verankert sei, wobei allerdings präzisiert werde, dass das Gesetz Ausnahmen von diesem Grundsatz vorsehe.

73

Außerdem hat das Gericht in Rn. 59 seines Urteils darauf hingewiesen, dass das Untersuchungsgeheimnis in den Mitgliedstaaten, in denen es vorgesehen sei, ein Grundsatz der öffentlichen Ordnung sei, der nicht nur die Ermittlungen schützen solle, um betrügerische Absprachen sowie Versuche der Verschleierung von Beweisen und Indizien zu verhindern, sondern auch Verdächtigen oder Beschuldigten, deren Schuld nicht bewiesen sei, Schutz gewähren solle.

74

In Anbetracht dessen hat das Gericht in Rn. 63 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass sich das Unterbleiben der vorherigen Anhörung eines Beamten, der von einem Antrag auf Aufhebung seiner Immunität im Hinblick auf ein ihn berührendes Ermittlungsverfahren betroffen ist, „gemäß Art. 52 der Charta grundsätzlich mit dem Untersuchungsgeheimnis … rechtfertigen lässt“, da, wie das Gericht in Rn. 65 seines Urteils festgestellt hat, „die Nichtanhörung des Betroffenen vor der Aufhebung seiner Immunität im Allgemeinen geeignet ist, das Untersuchungsgeheimnis zu gewährleisten“.

75

Im Zuge der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit einer solchen Maßnahme hat das Gericht in Rn. 66 des angefochtenen Urteils hervorgehoben, dass „die Kommission, wenn eine nationale Behörde – in hinreichend begründeten Fällen – unter Berufung auf das Untersuchungsgeheimnis dem widerspricht, dass dem Betroffenen die Gründe, auf denen der Antrag auf Aufhebung der Immunität beruht, genau und umfassend mitgeteilt werden, in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden … Maßnahmen ergreifen [muss], die darauf gerichtet sind, die berechtigten Erwägungen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgeheimnis mit dem Erfordernis, die Grundrechte des Einzelnen wie das Recht, gehört zu werden, hinreichend zu gewährleisten, zum Ausgleich zu bringen“.

76

Das Gericht hat in Rn. 67 des angefochtenen Urteils somit festgestellt, dass die Kommission die Wahrung des Anspruchs des vom Antrag auf Aufhebung der Immunität betroffenen Beamten auf rechtliches Gehör und die von den nationalen Behörden angeführten Erwägungen gegeneinander abwägen müsse, damit sowohl der Schutz der Rechte des betroffenen Beamten und die Interessen der Union gemäß dem Protokoll Nr. 7 als auch der effiziente und reibungslose Ablauf des nationalen Strafverfahrens gewährleistet würden.

77

Entgegen dem Vorbringen der Kommission ist diese Begründung des Gerichts nicht rechtsfehlerhaft.

78

Zwar hat das Gericht, wie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt, nicht ausgeschlossen, dass ein Organ einen Beschluss über die Aufhebung der Immunität erlassen kann, ohne den Betroffenen anzuhören, doch muss diese Möglichkeit ordnungsgemäß begründeten Ausnahmefällen vorbehalten bleiben.

79

Es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass jedes strafrechtliche Ermittlungsverfahren systematisch die Gefahr birgt, dass die Betroffenen versuchen, Beweise und Indizien zu verschleiern, oder sich in betrügerischer Weise untereinander absprechen, was es rechtfertigen würde, sie nicht im Vorhinein darüber in Kenntnis zu setzen, dass Ermittlungen gegen sie geführt werden.

80

Folglich hat das Gericht in Rn. 66 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, dass die Kommission, bevor sie zu dem Schluss gelangt, dass ein Ausnahmefall vorliegt, der es rechtfertigt, die Immunität des Betroffenen ohne seine vorherige Anhörung aufzuheben, unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden Maßnahmen ergreifen muss, die es ermöglichen, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör zu wahren, ohne die Interessen zu gefährden, die mit dem Untersuchungsgeheimnis geschützt werden sollen.

81

Entgegen dem Vorbringen der Kommission verstößt die Pflicht zur Vornahme einer solchen Abwägung nicht gegen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Behörden.

82

Die in Rn. 66 des angefochtenen Urteils genannte Abwägung ermöglicht es nämlich der Kommission, sowohl etwaige für die nationalen Behörden geltende verfahrensrechtliche Erfordernisse als auch, soweit möglich, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör zu beachten bzw. in Ausnahmefällen zu rechtfertigen, dass es in Anbetracht der Interessen, die durch eine Anhörung gefährdet würden, unmöglich ist, den Betroffenen vor der Aufhebung seiner Immunität anzuhören.

83

Was darüber hinaus das in Rn. 57 des vorliegenden Urteils dargelegte Vorbringen der Kommission betrifft, das Gericht habe nicht klargestellt, wie über einen Antrag auf Aufhebung der Immunität zu entscheiden sei, wenn die in Rn. 67 des angefochtenen Urteils genannte Abwägung die Kommission zu dem Schluss gelangen lassen sollte, dass dem Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör Vorrang vor dem Untersuchungsgeheimnis zukomme, genügt der Hinweis, dass das Gericht sich dazu nicht zu äußern hatte, da es festgestellt hat, dass die erforderliche Abwägung im vorliegenden Fall nicht vorgenommen worden sei.

84

Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

Zum dritten Rechtsmittelgrund: fehlerhafte Beurteilung des von der Kommission beim Erlass des streitigen Beschlusses angewandten Verfahrens

Vorbringen der Parteien

85

Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe aufgrund der fehlerhaften Beurteilung des von ihr beim Erlass des streitigen Beschlusses angewandten Verfahrens rechtsfehlerhaft angenommen, dass sie die in den Rn. 66 und 67 des angefochtenen Urteils geforderte Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht vorgenommen habe.

86

Insbesondere sei, selbst wenn das Erfordernis einer solchen Abwägung bestehen sollte, davon auszugehen, dass sie vorliegend die erforderliche Überprüfung jedenfalls durchgeführt habe. Sie habe den streitigen Beschluss erst erlassen, nachdem sie mehrere Schriftwechsel mit den belgischen Behörden geführt, von der belgischen Staatsanwaltschaft ausführliche Erläuterungen erhalten, die Strafakten vor Ort geprüft und schließlich einen Sachverständigen für belgisches Strafrecht konsultiert habe.

87

Das Gericht habe ferner in Rn. 71 des angefochtenen Urteils Anforderungen vorgesehen, die in keinem Verhältnis zu den Maßnahmen stünden, die sie hätte in Betracht ziehen müssen, um den Anspruch von RQ auf rechtliches Gehör zu wahren. Diese Maßnahmen führten systematisch zu einem ungerechtfertigten Eingriff der Unionsorgane in die Funktionsfähigkeit der nationalen Strafjustiz.

88

Schließlich sei die Begründung in Rn. 76 des angefochtenen Urteils zu beanstanden, wonach es nicht völlig ausgeschlossen sei, dass die Entscheidung der Kommission inhaltlich anders ausgefallen wäre, wenn RQ in die Lage versetzt worden wäre, zu den Interessen der Union und zum Schutz seiner erforderlichen Unabhängigkeit als Generaldirektor des OLAF sachgerecht Stellung zu nehmen. Zum einen sei nämlich die Eigenschaft von RQ als Generaldirektor des OLAF unerheblich gewesen, da RQ seine Klage privat erhoben habe; zum anderen könne die Stellung des betroffenen Beamten die Beurteilung des Unionsinteresses, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Organe falle, nicht bestimmen oder beeinflussen.

89

RQ vertritt die Auffassung, dass der vorliegende Rechtsmittelgrund Tatsachenwürdigungen des Gerichts betreffe und daher als unzulässig zurückzuweisen sei. Hilfsweise sei er unbegründet.

Würdigung durch den Gerichtshof

90

Das Vorbringen der Kommission zur Stützung des dritten Rechtsmittelgrundes besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen.

91

Mit dem ersten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes macht die Kommission geltend, das Gericht habe in Rn. 74 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft entschieden, dass die unterbliebene Anhörung von RQ vor dem Erlass des streitigen Beschlusses über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels der Gewährleistung des Untersuchungsgeheimnisses erforderlich sei, und folglich nicht den Wesensgehalt des in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerten Rechts, gehört zu werden, achte.

92

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission mit diesem Vorbringen nicht die Tatsachenwürdigung des Gerichts, sondern die rechtliche Qualifizierung der Tatsachen in Frage stellt. Sie macht insbesondere geltend, das Gericht habe in Rn. 74 des angefochtenen Urteils auf der Grundlage der ihm vorliegenden Akten zu Unrecht angenommen, dass sie den Anspruch von RQ auf rechtliches Gehör verletzt habe, und insoweit einen Rechtsfehler begangen.

93

Folglich ist der erste Teil des dritten Rechtsmittelgrundes entgegen dem Vorbringen von RQ zulässig. Hat das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt, ist der Gerichtshof nämlich zur Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und der Rechtsfolgen, die das Gericht aus ihnen gezogen hat, befugt (Urteil vom 6. April 2006, General Motors/Kommission, C‑551/03 P, EU:C:2006:229, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94

Hinsichtlich der Prüfung der Begründetheit dieses ersten Teils ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in Rn. 69 des angefochtenen Urteils die Auffassung vertreten hat, dass die Kommission im vorliegenden Fall keine Abwägung vorgenommen habe, die der in den Rn. 67 und 68 des Urteils genannten entspreche.

95

Es hat sich dabei auf die Feststellungen in den Rn. 70 bis 72 des angefochtenen Urteils gestützt, wonach erstens die Kommission die zuständigen belgischen Behörden nicht aufgefordert habe, anzugeben, aus welchen Gründen eine Anhörung von RQ vor einer etwaigen Aufhebung seiner Immunität mit Risiken für die Wahrung des Untersuchungsgeheimnisses verbunden sei, oder eine nicht vertrauliche Fassung ihres Antrags auf Aufhebung der Immunität zu erstellen, die RQ übermittelt werden könne. Zweitens hätten die genannten Behörden keinen Umstand – wie die Gefahr, dass RQ fliehe oder Beweismittel zerstöre – angeführt, der es hätte rechtfertigen können, ihm den Antrag auf Aufhebung seiner Immunität nicht zu übermitteln. Drittens schließlich seien die Antworten der belgischen Behörden auf die Nachfragen der Kommission lückenhaft gewesen und hätten es nicht ermöglicht, nachzuvollziehen, warum sie eine Anhörung von RQ durch die Kommission zum Antrag auf Aufhebung seiner Immunität ablehnten.

96

In Anbetracht dieser Tatsachenfeststellungen, die im Stadium des Rechtsmittelverfahrens, außer bei einer – von der Kommission im vorliegenden Fall nicht behaupteten – Verfälschung von Tatsachen und Beweismitteln, nicht in Frage gestellt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. März 2010, Trubowest Handel und Makarov/Rat und Kommission, C‑419/08 P, EU:C:2010:147, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), konnte das Gericht in Rn. 74 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei entscheiden, dass das Unterbleiben der Anhörung von RQ vor dem Erlass des streitigen Beschlusses über das hinausging, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich war, und somit den in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör verletzte.

97

In diesem Rahmen kann die Kommission dem Gericht nicht vorwerfen, außer Acht gelassen zu haben, dass sie einen Schriftwechsel mit den zuständigen belgischen Behörden geführt habe. Vielmehr hat das Gericht diesen Schriftwechsel berücksichtigt, im Rahmen seiner freien Sachverhaltswürdigung jedoch die Auffassung vertreten, dass entgegen dem Vorbringen der Kommission die ihr im Rahmen dieses Schriftwechsels gegebenen Erläuterungen lückenhaft und nicht ausführlich genug gewesen seien.

98

Ebenso wenig kann sich die Kommission, um die Richtigkeit der Würdigung des Gerichts in Frage zu stellen, darauf berufen, dass sie die Strafakten vor Ort geprüft und einen Sachverständigen für belgisches Strafrecht konsultiert habe. Selbst wenn diese Tatsachen erwiesen wären, ließe sich damit jedenfalls nicht belegen, dass der Anspruch von RQ auf rechtliches Gehör gewahrt wurde. Die Kommission behauptet nämlich nicht, dass sie vor dem Gericht Gesichtspunkte angeführt habe, die sich aus der Prüfung der nationalen Strafakten oder der Konsultation des belgischen Sachverständigen ergäben und das Unterbleiben einer vorherigen Anhörung von RQ rechtfertigen könnten.

99

Schließlich kann sich die Kommission auch nicht auf das in Rn. 87 des vorliegenden Urteils dargestellte Vorbringen berufen, wonach das Gericht in Rn. 71 des angefochtenen Urteils unverhältnismäßige Anforderungen an die Aufhebung der Immunität eines Beamten ohne seine vorherige Anhörung gestellt habe, da sie zu einem Eingriff der Unionsorgane in die Funktionsweise der Strafjustiz eines Mitgliedstaats führten.

100

Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 71 des angefochtenen Urteils zwar beispielhaft mehrere Umstände angeführt hat, unter denen die Aufhebung der Immunität eines Beamten ohne seine vorherige Anhörung in Betracht gezogen werden könnte; jedoch hat es im Wesentlichen festgestellt, dass die belgischen Behörden in dem Verfahren, das zum Erlass des streitigen Beschlusses geführt hat, keine ausreichenden Gesichtspunkte vorgetragen hätten, die ein solches Verfahren rechtfertigen könnten.

101

Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die der Kommission auferlegte Verpflichtung, von den nationalen Behörden ausreichende Nachweise wie die vom Gericht beispielhaft genannten zu erlangen, um eine schwere Beeinträchtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu rechtfertigen, unverhältnismäßig wäre. Dies ist umso weniger der Fall, als die Vorlage solcher Nachweise entgegen dem Vorbringen der Kommission ihrem Wesen nach keinen Eingriff in das Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats bedeutet, der – ebenso wie die Kommission – der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV unterliegt, wonach sich die Union und die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig achten und unterstützen.

102

Folglich ist der erste Teil des dritten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen.

103

Zum zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes ist zunächst festzustellen, dass die Kommission damit nicht die vom Gericht vorgenommene Tatsachenwürdigung in Frage stellt, sondern geltend macht, das Gericht habe in Rn. 76 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft entschieden, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass der streitige Beschluss inhaltlich anders ausgefallen wäre, wenn RQ in die Lage versetzt worden wäre, zur Aufhebung seiner Immunität Stellung zu nehmen.

104

Somit ist der zweite Teil des dritten Rechtsmittelgrundes aus denselben Gründen wie der erste Teil dieses Rechtsmittelgrundes zulässig.

105

Hinsichtlich der Prüfung der Begründetheit dieses zweiten Teils ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, nur dann zur Nichtigerklärung bzw. Aufhebung der Entscheidung, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, führt, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Urteile vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. Juni 2018, Makhlouf/Rat, C‑458/17 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:441, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

106

Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass von einem Rechtsmittelführer, der eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte rügt, nicht der Nachweis verlangt werden darf, dass die angefochtene Entscheidung des betreffenden Unionsorgans inhaltlich anders ausgefallen wäre, sondern lediglich, dass dies nicht völlig ausgeschlossen ist (Urteil vom 1. Oktober 2009, Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware/Rat, C‑141/08 P, EU:C:2009:598, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

107

Diese Frage ist außerdem anhand der speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umstände des konkreten Falles zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2013, G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 40).

108

Insoweit ist daran zu erinnern, dass, wie in Art. 17 des Protokolls Nr. 7 und in Art. 23 des Statuts bestimmt, die Vorrechte und Befreiungen der Beamten und sonstigen Bediensteten der Union ausschließlich im Interesse der Union gewährt werden.

109

Der Zweck der einem Unionsbeamten gewährten Immunität, wie er sich aus diesen Bestimmungen ergibt, ist aber bei der Beurteilung der Frage, wie sich eine etwaige Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses über die Aufhebung dieser Immunität auswirkt, zu berücksichtigen.

110

In diesem Sinne hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil zur parlamentarischen Immunität festgestellt, dass die Frage, wie sich die Anwendung dieser Immunität auf die Rechte des Betroffenen auswirkt, im Hinblick auf die Erfordernisse der Wahrung des institutionellen Zwecks der Immunität zu beurteilen ist (EGMR, 3. Dezember 2009, Kart/Türkei, CE:ECHR:2009:1203JUD000891705, § 95).

111

Daraus folgt, dass Erwägungen im Zusammenhang mit der persönlichen Situation des von einem Antrag auf Aufhebung der Immunität betroffenen Beamten, die dieser am besten geltend machen könnte, wenn er zu dem Antrag gehört würde, für die weitere Behandlung des Antrags unerheblich sind. Insoweit kommt es allein auf Erwägungen im Zusammenhang mit dem dienstlichen Interesse an.

112

Daher kann ein Beamter, der gegen einen Beschluss über die Aufhebung seiner Immunität klagt, zur Stützung seines Antrags auf Aufhebung dieses Beschlusses nicht lediglich abstrakt geltend machen, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei. Er muss vielmehr dartun, dass es nicht völlig ausgeschlossen ist, dass der Beschluss des betreffenden Unionsorgans inhaltlich anders ausgefallen wäre, wenn er das dienstliche Interesse betreffende Argumente und Gesichtspunkte hätte geltend machen können.

113

Aus dem angefochtenen Urteil geht jedoch nicht hervor, dass das Gericht geprüft hätte, ob RQ derartige Argumente vorgebracht hat.

114

Aus den dem Gerichtshof gemäß Art. 167 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs übermittelten Akten des ersten Rechtszugs ergibt sich nämlich, dass sich das Gericht in Rn. 76 des angefochtenen Urteils darauf beschränkt hat, recht vage Ausführungen in der Klageschrift von RQ zu der Argumentation, die er hätte vorbringen können, wenn er vor Erlass des streitigen Beschlusses angehört worden wäre, praktisch wortgleich zu übernehmen.

115

Abgesehen von diesen Ausführungen hat RQ in seinen beim Gericht eingereichten Schriftsätzen nichts zum dienstlichen Interesse vorgetragen, das die Aufrechterhaltung seiner Immunität rechtfertigen könnte und worauf er sich hätte berufen können, wenn er vor Erlass des streitigen Beschlusses angehört worden wäre.

116

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Gericht rechtsfehlerhaft entschieden hat, dass die Verletzung des Anspruchs von RQ auf rechtliches Gehör die Aufhebung des streitigen Beschlusses rechtfertige, obwohl RQ nicht nachgewiesen hatte, dass es nicht völlig ausgeschlossen war, dass der Beschluss der Kommission inhaltlich anders ausgefallen wäre, wenn er in die Lage versetzt worden wäre, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör wahrzunehmen.

117

Daher ist dem zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes stattzugeben und das angefochtene Urteil aufzuheben.

Zur Klage vor dem Gericht

118

Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann dieser im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit entweder selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

119

Im vorliegenden Fall ist der Rechtsstreit hinsichtlich des ersten Teils des fünften Klagegrundes, mit dem RQ eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerügt hat, zur Entscheidung reif.

120

Aus den im Rahmen der Prüfung des zweiten und des dritten Rechtsmittelgrundes dargelegten Gründen ergibt sich nämlich, dass die Kommission zwar das Recht von RQ, vor dem Erlass des streitigen Beschlusses gehört zu werden, nicht gewahrt hat, dass dieser Verstoß aber nicht die Aufhebung des Beschlusses rechtfertigen kann, da RQ nicht nachgewiesen hat, dass es nicht völlig ausgeschlossen war, dass der Beschluss ohne diesen Verstoß inhaltlich anders ausgefallen wäre.

121

Deshalb ist der erste Teil des fünften Klagegrundes, mit dem RQ eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend macht, zurückzuweisen.

122

Im Übrigen ist der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif, da die anderen von RQ zur Stützung seiner Klage geltend gemachten Klagegründe und Rügen vom Gericht nicht geprüft worden sind.

123

Folglich ist der Rechtsstreit an das Gericht zurückzuverweisen.

Kosten

124

Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die durch das vorliegende Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten vorzubehalten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 24. Oktober 2018, RQ/Kommission (T‑29/17, EU:T:2018:717), wird aufgehoben.

 

2.

Der erste Teil des fünften Klagegrundes wird zurückgewiesen.

 

3.

Die Sache wird zur Entscheidung über den ersten, den zweiten, den dritten und den vierten Klagegrund sowie über den zweiten und den dritten Teil des fünften Klagegrundes an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.

 

4.

Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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