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Dokument 62018CC0002
Opinion of Advocate General Bobek delivered on 7 March 2019.#Lietuvos Respublikos Seimo narių grupė.#Request for a preliminary ruling from the Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas.#Reference for a preliminary ruling — Common agricultural policy — Common organisation of the markets — Milk and milk products — Regulation (EC) No 1308/2013 — Article 148(4) — Contract for the delivery of raw milk — Free negotiation of price — Combating unfair commercial practices — Prohibition of payment of different prices to producers of raw milk belonging to a group that is formed according to the daily quantity sold, and of a reduction in price without justification.#Case C-2/18.
Schlussanträge des Generalanwalts M. Bobek vom 7. März 2019.
Lietuvos Respublikos Seimo narių grupė.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Agrarpolitik – Gemeinsame Marktorganisation – Milch und Milcherzeugnisse – Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 – Art. 148 Abs. 4 – Rohmilchlieferungsvertrag – Freie Aushandlung des Preises – Bekämpfung unfairer Handelspraktiken – Verbot, an Rohmilcherzeuger, die einer Gruppe zugeordnet sind, die aufgrund der verkauften Tagesmenge gebildet wurde, unterschiedliche Preise zu zahlen und den Preis ohne Rechtfertigung zu senken.
Rechtssache C-2/18.
Schlussanträge des Generalanwalts M. Bobek vom 7. März 2019.
Lietuvos Respublikos Seimo narių grupė.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Agrarpolitik – Gemeinsame Marktorganisation – Milch und Milcherzeugnisse – Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 – Art. 148 Abs. 4 – Rohmilchlieferungsvertrag – Freie Aushandlung des Preises – Bekämpfung unfairer Handelspraktiken – Verbot, an Rohmilcherzeuger, die einer Gruppe zugeordnet sind, die aufgrund der verkauften Tagesmenge gebildet wurde, unterschiedliche Preise zu zahlen und den Preis ohne Rechtfertigung zu senken.
Rechtssache C-2/18.
ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2019:180
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MICHAL BOBEK
vom 7. März 2019 ( 1 )
Rechtssache C‑2/18
Lietuvos Respublikos Seimo narių grupė,
Streithelfer:
Lietuvos Respublikos Seimas
(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas [Verfassungsgericht der Republik Litauen])
„Vorabentscheidungsersuchen – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Milch und Milcherzeugnisse – Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 – Art. 148 Abs. 4 – Vertragliche Bestimmungen – Freie Preisverhandlungen – Nationale Rechtsvorschriften, die Rohmilchkäufer verpflichten, derselben Gruppe zuzurechnenden Erzeugern dieselben Preise zu bieten, und ihnen untersagen, die Preise in nicht gerechtfertigter Weise zu reduzieren“
I. Einleitung
1. |
Der Rohmilchmarkt in Litauen ist dadurch geprägt, dass der zersplitterten Angebotsseite aus Tausenden kleiner Rohmilcherzeuger die hoch konzentrierte Nachfrage einer Handvoll großer Einkaufsgesellschaften gegenübersteht. Die Kleinerzeuger sind nicht zu einer Organisation zusammengeschlossen. Den Einkaufsgesellschaften ist es somit möglich gewesen, den Kleinerzeugern Ankaufspreise vorzugeben, was zu sehr niedrigen Rohmilchpreisen geführt hat. |
2. |
In Reaktion darauf hat Litauen ein spezielles Gesetz verabschiedet, um unfaire Praktiken im Rohmilchsektor zu unterbinden. Das Gesetz sieht die Einstufung der Erzeuger nach der Tagesmenge der verkauften Rohmilch vor und verpflichtet die Rohmilchkäufer, allen derselben Gruppe zuzurechnenden Erzeugern denselben Preis zu bieten. Außerdem untersagt es den Rohmilchkäufern ungerechtfertigte Preisreduzierungen. Eine Preisreduzierung um 3 % oder mehr des Ankaufspreises ist nur mit Genehmigung der zuständigen Verwaltungsbehörde gestattet. |
3. |
Im Ausgangsverfahren hat eine Gruppe von Mitgliedern des litauischen Parlaments beim Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) eine Klage erhoben, in der es um die Vereinbarkeit dieser nationalen Vorschriften mit der litauischen Verfassung geht. Im Rahmen dieses Verfahrens wurden auch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit Art. 148 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 ( 2 ) geäußert, insbesondere im Hinblick auf die Anforderung, dass sämtliche Vertragsbestandteile, auch der Ankaufspreis, zwischen den beteiligten Parteien frei verhandelbar sein müssen. |
4. |
Vor diesem Hintergrund geht die Hauptfrage, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellt, dahin, wie zu beurteilen ist, ob es in einem bestimmten Bereich oder in Bezug auf eine bestimmte Frage eine „abschließende Harmonisierung“ oder der „Vorrang des Unionsrechts“ gibt oder nicht. Welche Kriterien und Erwägungen sind dabei zu berücksichtigen? Der Umfang der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in Bereichen, die dem Unionsrecht unterliegen, ist natürlich kein neues Thema, doch die jüngsten Änderungen in der Gesetzgebungstechnik wie auch des Ansatzes der Gemeinsamen Agrarpolitik und der gemeinsamen Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse haben, wie kürzlich die Entscheidung in der Rechtssache The Scotch Whisky Association gezeigt hat, Auswirkungen auf die bisherige Rechtsprechung zu dieser Frage in diesem Sachgebiet ( 3 ). |
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
5. |
Art. 148 der Verordnung Nr. 1308/2013 lautet: „(1) Beschließt ein Mitgliedstaat, dass für jede Rohmilchlieferung eines Landwirts an einen Rohmilch verarbeitenden Betrieb in seinem Hoheitsgebiet ein schriftlicher Vertrag zwischen den beteiligten Parteien abzuschließen ist und/oder dass Erstankäufer ein schriftliches Vertragsangebot für Rohmilchlieferungen durch Landwirte vorzulegen haben, so müssen solche Verträge und/oder solche Vertragsangebote die in Abs. 2 festgelegten Bedingungen erfüllen. … (2) Der Vertrag und/oder das Vertragsangebot gemäß Absatz 1
… (4) Sämtliche Bestandteile von Verträgen über Rohmilchlieferungen, die von Landwirten, Abholern oder Rohmilch verarbeitenden Betrieben abgeschlossen werden, einschließlich der in Absatz 2 Buchstabe c genannten Bestandteile, sind zwischen den beteiligten Parteien frei verhandelbar. Ungeachtet des Unterabsatzes 1 gilt mindestens eine oder beide der folgenden Regelungen:
Unterabsatz 2 lässt das Recht des Landwirts, eine solche Mindestlaufzeit in schriftlicher Form abzulehnen, unberührt. In diesem Falle steht es den beteiligten Parteien offen, Verhandlungen über alle Bestandteile des Vertrags zu führen, auch über die in Absatz 2 Buchstabe c aufgeführten.“ |
6. |
Durch die Verordnung (EU) 2017/2393 ( 4 ) zur Änderung der Verordnung Nr. 1308/2013 wurde Art. 148 Abs. 4 Buchst. a wie folgt abgeändert:
…“ |
B. Litauisches Recht
7. |
Art. 46 der Lietuvos Respublikos Konstitucija (Verfassung der Republik Litauen) sieht in Abs. 1 vor, dass die litauische Wirtschaftsverfassung auf dem Recht des Privateigentums sowie der Freiheit und Initiative der Person bei der wirtschaftlichen Betätigung gründet. |
8. |
Nach Art. 2 Abs. 5 des Lietuvos Respublikos Ūkio subjektų, perkančių-parduodančių žalią pieną ir prekiaujančių pieno gaminiais, nesąžiningų veiksmų draudimo įstatymas (Gesetz zur Untersagung unfairer Praktiken von Wirtschaftsakteuren beim An- und Verkauf von Rohmilch und der Vermarktung von Milchprodukten) ( 5 ) in dessen durch das Gesetz Nr. XII-2230 (im Folgenden: Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken) ( 6 ) geänderter Fassung werden Rohmilchverkäufer je nach der Tagesmenge (in Kilogramm) der verkauften Rohmilch mit natürlichem Fettgehalt in zehn Gruppen eingestuft. Gemäß Art. 2 Abs. 7 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken ist der Rohmilchankaufspreis derjenige Betrag, dessen Zahlung der Rohmilchkäufer mit dem Verkäufer für Rohmilch, welche den Basisindikatoren für die Milchzusammensetzung entspricht, vereinbart – ohne Aufschläge, Prämien oder Abzüge. Diese Indikatoren wurden durch den Erlass Nr. 146 des Landwirtschaftsministers vom 9. Mai 2001 mit dem Titel „Genehmigung der Regeln für den Milchankauf“ festgelegt. |
9. |
Art. 3 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken trägt die Überschrift „Untersagung unfairer Praktiken von Wirtschaftsakteuren“. Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 dieses Gesetzes lautet: „Rohmilchkäufern sind die folgenden unfairen Praktiken untersagt: (1) in Verträgen über den Verkauf von Rohmilch unterschiedliche Ankaufspreise für Rohmilch festzulegen, wenn die Rohmilch den derselben Gruppe zuzurechnenden Rohmilchverkäufern abgekauft wird und die durch den Erlass des litauischen Landwirtschaftsministers festgesetzten Qualitätsanforderungen erfüllt und wenn sie dem Rohmilchkäufer auf die gleiche Weise geliefert wird (zum Rohmilch-Spotpreis gelieferte Rohmilch; direkt beim landwirtwirtschaftlichen Betrieb gekaufte Milch; direkt an ein Rohmilch verarbeitendes Unternehmen gelieferte Rohmilch), es sei denn, die Rohmilch wird Rohmilchverkäufern abgekauft, die ihre selbst erzeugte Milch verkaufen und einer Milcherzeugerorganisation angehören, die gemäß den im Erlass des litauischen Landwirtschaftsministers aufgestellten Regeln anerkannt ist. Im letztgenannten Fall darf der Ankaufspreis für Rohmilch jedoch nicht unter dem Preis liegen, der anhand der Gruppe der Rohmilchverkäufer festgelegt würde.“ |
10. |
Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken lautet wie folgt: „Rohmilchkäufern sind die folgenden unfairen Praktiken untersagt: … (3) den Rohmilchankaufspreis ungerechtfertigt zu reduzieren …“ |
11. |
Art. 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken sieht die folgende Regelung vor: „1. Reduziert der Rohmilchkäufer den im Rohmilchkaufvertrag angegebenen Rohmilchankaufspreis um mehr als 3 %, so muss er die Preisreduzierung begründen und die Begründung der Marktregulierungsbehörde mitteilen. 2. Gemäß den durch den Erlass des litauischen Landwirtschaftsministers genehmigten Leitlinien muss die Marktregulierungsbehörde die Gründe für die von einem Rohmilchkäufer vorgenommene Reduzierung des Rohmilchankaufspreises im Sinne des ersten Absatzes dieses Artikels binnen fünf Werktagen prüfen und dann binnen drei Werktagen entscheiden, ob die Reduzierung des Rohmilchankaufspreises um mehr als 3 % gerechtfertigt war. 3. Entscheidet die Marktregulierungsbehörde gemäß den in Absatz 2 dieses Artikels niedergelegten Leitlinien, dass die Reduzierung des Rohmilchankaufspreises um mehr als 3 % nicht gerechtfertigt war, so ist dem Rohmilchkäufer die Reduzierung des im Rohmilchkaufvertrag angegebenen Rohmilchankaufspreises untersagt.“ |
III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen
12. |
Die Lietuvos Respublikos Seimo narių grupė (Gruppe von Mitgliedern des litauischen Parlaments, im Folgenden: Antragsteller) haben beantragt, dass das Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) prüft, ob die Art. 3 und 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken mit Art. 46 Abs. 1 der litauischen Verfassung im Einklang stehen. Sie halten das Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken für verfassungswidrig, weil es die Parteien eines Vertrags über den An- und Verkauf von Rohmilch in ihrem Recht auf Vereinbarung der wesentlichen Bestandteile des Vertrags beschränke. Dadurch werde die in Art. 46 Abs. 1 der litauischen Verfassung garantierte verfassungsrechtliche Vertragsfreiheit verletzt. |
13. |
Das vorlegende Gericht erklärt dazu, dass der Rohmilchmarkt in Litauen (wo die Milchwirtschaft zu den größten Bereichen der Lebensmittelproduktion zähle und etwa 2 % des Bruttoinlandsprodukts des Landes ausmache) von einer Vielzahl von Kleinerzeugern geprägt sei (etwa 25000 Erzeuger, 74 % davon mit nur 1 bis 5 Kühen), denen nur wenige verarbeitende Betriebe gegenüberstünden (Verarbeitung von 97 % der Milch durch nur sechs Milchverarbeitungsunternehmen). Verschiedene Bemühungen, die Zusammenarbeit zwischen den Rohmilcherzeugern zu fördern, seien erfolglos gewesen. Es gebe keinerlei anerkannte Organisationen von Rohmilcherzeugern im Sinne der Definitionen in den Art. 152 bis 154 der Verordnung Nr. 1308/2013. Rohmilch werde kleinen Rohmilcherzeugern zum Rohmilch-Spotpreis abgekauft. Vor Verabschiedung des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken hätten die Käufer keinerlei Verhandlungen mit den Rohmilcherzeugern geführt, sondern einfach den Preis angegeben, zu dem sie Rohmilch kaufen würden. Deshalb sei der durchschnittliche Ankaufspreis für Rohmilch in Litauen nach Daten der Europäischen Kommission einer der niedrigsten in der gesamten Europäischen Union gewesen. |
14. |
Das Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken verfolge das Ziel, unfaire Praktiken seitens der Rohmilchverkäufer und ‑käufer zu unterbinden. Nach den Materialien zum Gesetzentwurf habe das Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken den Zweck, ein Gleichgewicht zwischen den rechtmäßigen Interessen der Rohmilchkäufer und ‑verkäufer sicherzustellen, großen Milchverarbeitungsunternehmen in der Ausübung ihrer weitreichenden Marktmacht Grenzen zu setzen sowie den unlauteren Vorteil, den Milcherzeugnisse verkaufende Wirtschaftsakteure aus der Reduzierung der Großhandelspreise für Milcherzeugnisse erzielten, einzuschränken. |
15. |
Im Zuge des Verfahrens vor dem Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) wurde die Ansicht vertreten, Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 und 3 sowie Art. 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken seien im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 problematisch. Das Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) führt aus, die Auslegung von Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 sei in der Tat für die Entscheidung, ob die beanstandeten Rechtsvorschriften mit Art. 46 Abs. 1 der litauischen Verfassung im Einklang stünden, von Bedeutung. In den Bereichen, in denen Litauen die Kompetenzen seiner Staatsorgane ganz oder zum Teil der Europäischen Union übertragen habe, wie es in den Bereichen der Landwirtschaft und des Binnenmarkts der Fall sei, sei das Unionsrecht eine Quelle für die Auslegung litauischen Rechts, wozu auch die Verfassung zähle. |
16. |
Vor diesem Hintergrund hat das Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
|
17. |
Schriftliche Erklärungen sind von der deutschen, der französischen und der litauischen Regierung sowie von der Kommission eingereicht worden. Diese Parteien, die Antragsteller und die niederländische Regierung haben in der Sitzung vom 5. Dezember 2018 mündliche Ausführungen gemacht. |
IV. Würdigung
18. |
Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt aufgebaut. Erstens werde ich Vorschläge dazu machen, welche Erwägungen die Beurteilung, ob das Unionsrecht gewissen von Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen entgegensteht, leiten sollten (A). Zweitens werde ich im Licht dieser Erwägungen die Fragen des vorlegenden Gerichts prüfen, wobei ich zu dem Schluss gelange, dass die Anwendung nationaler Maßnahmen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausgeschlossen ist (B). Drittens werde ich außerdem einige Schlussbemerkungen machen, die im Hinblick auf den weiteren Kontext dieser Rechtssache gerechtfertigt sind (C). |
A. Harmonisierung auf Unionsebene (oder vielmehr Vorrang des Unionsrechts)
1. Entwicklung des Gesetzgebungskontexts
19. |
In der vorliegenden Rechtssache stellt sich eine Grundfrage, die so alt ist wie das Projekt der europäischen Integration selbst: Inwieweit ist es den Mitgliedstaaten (noch) möglich, in einem Sachgebiet, das durch Unionsrecht abgedeckt ist, einzelstaatliche Maßnahmen zu ergreifen? Die Weiterentwicklung der Regelung der Gemeinsamen Agrarpolitik (wie auch die ältere Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage) lässt diese Frage in ganz neuem Licht erscheinen. |
20. |
In der Vergangenheit hat sich die Frage des Spielraums für die Harmonisierung auf Unionsebene häufig auf dem Gebiet der Gemeinsamen Agrarpolitik gestellt – einem Sachgebiet mit umfassender und detaillierter Tätigkeit des Unionsgesetzgebers. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle alle Einzelheiten der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Sachgebiet zurückzuverfolgen ( 7 ); sie lässt sich jedoch auf den Punkt bringen, dass die Frage vom Gerichtshof differenziert beantwortet wurde, je nach 1. der unionsrechtlichen Besetzung des Regelungsraums, 2. dem konkreten Zusammenspiel der einzelstaatlichen Regelung mit dem unionsrechtlichen Rahmenwerk in Bezug auf den konkreten Normenkonflikt sowie 3. den mit den verschiedenen Regelungen verfolgten Zwecken. |
21. |
Soweit also das Unionsrecht Tatbestände umfassend geregelt hat (was zuweilen als „abschließende“ Harmonisierung bezeichnet wird), können die Mitgliedstaaten nicht mehr einseitig nationale Regelungen erlassen, die das auf Unionsebene geschaffene System beeinträchtigen könnten. Selbst wenn der unionsrechtliche Regelungsrahmen, durch den ein System geschaffen oder eine vollständige gesetzliche Regelung getroffen wird, unter Umständen keinen vollen Vorrang für einen bestimmten „Bereich“ oder ein bestimmtes „Sachgebiet“ begründet, kommen seine Wirkungen dem doch nahe: Jede einzelstaatliche Regelung, die ihn beeinträchtigen könnte, ist ausgeschlossen ( 8 ). Dementsprechend wäre die Anwendung nationaler Vorschriften, die das betreffende Sachgebiet berühren, nicht gestattet. |
22. |
In der Vergangenheit scheint dies beim gemeinsamen Preissystem, dem zentralen Element des „alten“ Rechtsrahmens für die gemeinsamen Marktorganisationen in verschiedenen Sektoren, der Fall gewesen zu sein. Ungeachtet dessen, dass offen ist, ob es tatsächlich einen absoluten Vorrang für den gesamten Bereich gab ( 9 ), hat der Gerichtshof jedenfalls befunden, dass „in den Bereichen, die einer gemeinsamen Organisation unterliegen, und erst recht, wenn diese Organisation auf einem gemeinsamen Preissystem fußt, die Mitgliedstaaten nicht mehr befugt sind, durch einseitig erlassene nationale Vorschriften in den Mechanismus der Bildung derjenigen Preise einzugreifen, die in der gemeinsamen Marktorganisation auf der gleichen Produktions- und Vermarktungsstufe geregelt sind“ ( 10 ). |
23. |
Die schrittweisen Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik haben jedoch zu einem mehr marktorientierten Ansatz geführt, der darauf abzielt, vor dem Hintergrund der Globalisierung des Handels die Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit des Sektors zu stärken ( 11 ). Diese Ansatzänderung hatte wiederum zur Folge, dass der Umfang des Vorrangs gegenüber dem Spielraum für die einzelstaatliche Gesetzgebung „rekalibriert“ wurde. Inzwischen basiert die einheitliche gemeinsame Marktorganisation nicht mehr auf einem gemeinsamen Preissystem ( 12 ). |
24. |
Man kann somit sagen, dass diese Elemente (in vollem Umfang) wieder der allgemeinen Regelung der geteilten Zuständigkeit unterliegen. Gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. d AEUV ist die Gemeinsame Agrarpolitik ein Bereich, der in die geteilte Zuständigkeit der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten fällt. Gemäß Art. 2 Abs. 2 AEUV können die Mitgliedstaaten daher ihre Rechtsetzungszuständigkeit wahrnehmen, sofern und soweit die Europäische Union den betreffenden Tatbestand nicht geregelt hat ( 13 ). |
25. |
Vor diesem Hintergrund kann eine nationale Vorschrift nicht allein deshalb verdrängt werden, weil sie sich auf Milch bezieht, ein der einheitlichen gemeinsamen Marktorganisation unterliegendes Erzeugnis. Ihre Anwendung kann auch nicht nur deshalb ausgeschlossen sein, weil sie die Preisbildung berührt. Mit anderen Worten: Bei diesem Ansatz geht es nicht (oder, wenn es denn je so gewesen sein sollte, nicht mehr) um eine „Sachgebietsharmonisierung“ oder einen „Sperrvorrang“, bei deren Vorliegen für einen abstrakt festgelegten Bereich nie mehr Vorschriften auf einzelstaatlicher Ebene erlassen werden könnten. |
2. Zu berücksichtigende Elemente
26. |
Für die ordnungsgemäße Prüfung, ob im Einzelfall ein Vorrang des Unionsrechts gegeben ist oder nicht, ist es wichtig, drei Erwägungen zu berücksichtigen: a) die richtige Prüfungs- oder Abstraktionsebene, auf der die Unionsvorschriften und die nationalen Vorschriften zu vergleichen und gegenüberzustellen sind; b) die Art und den Umfang sich möglicherweise ergebender Konflikte; gefolgt von c) der Feststellung der Ziele, die die verschiedenen Regelungen verfolgen. |
a) Prüfungsebene
27. |
Eine Vorrangprüfung, die darauf abstellt, ob eine „abschließende“ Harmonisierung gegeben ist, jedoch außerhalb klar definierter Tatbestände erfolgt, stellt meines Erachtens keinen geeigneten Prüfungsrahmen dar. Dies liegt daran, dass die Prüfung, ob das Unionsrecht einen bestimmten Tatbestand abschließend geregelt hat, natürlich davon abhängen wird, wie eng oder weit man sich den Bezugsrahmen vorstellt. |
28. |
Ein Beispiel: Man stelle sich vor, eine unionsrechtliche Maßnahme hätte in einer den Verbraucherschutz betreffenden Richtlinie eine Vorschrift vorgesehen, die besagt: „Falls sich der Händler bei den Vertragsverhandlungen mit einem Verbraucher nicht in seinen Geschäftsräumen befindet und im Gespräch über die Qualität des von ihm verkauften Produkts mindestens zweimal verdächtig zwinkert, ist dies ein hinreichender Grund, den Vertrag für null und nichtig zu erklären.“ Dies kann kaum dahin ausgelegt werden, dies bedeute, dass die betreffende Vorschrift (oder eine aus mehreren diesen Sachverhalt betreffenden Vorschriften bestehende Regelung in dem Rechtsakt) darauf abziele, „sämtliche Elemente des Zustandekommens von Verbraucherverträgen“ oder – auf höherer Abstraktionsebene – das „Zustandekommen von (Verbraucher‑)Verträgen“ oder sogar das „Vertragsrecht“ insgesamt (abschließend bzw. erschöpfend) zu harmonisieren. |
29. |
Da die hier in Rede stehende Frage die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit einer unionsrechtlichen Regelung betrifft, muss der Ausgangspunkt der Vereinbarkeitsprüfung logischerweise der sich aus dem Unionsrecht ergebende Anwendungsbereich der Regelung sein. Wie an anderer Stelle vorgeschlagen, ist die Prüfung, ob eine bestimmte nationale Vorschrift durch Unionsrecht verdrängt wird, richtigerweise auf der Ebene einer Mikro-Analyse vorzunehmen, die auf eine spezifische Vorschrift oder einen spezifischen und gut definierten Aspekt des Unionsrechts abstellt ( 14 ). Die Vorrangprüfung ist daher notwendigerweise anhand eines konkreten Normenkonflikts vorzunehmen. |
b) Art des Konflikts
30. |
Nach Feststellung der richtigen Abstraktionsebene des Unionsrechts ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob es – im Hinblick auf Art und Anwendungsbereich der Rechtsvorschrift – mit einer nationalen Vorschrift in Konflikt steht. Zwei Arten von Konflikten sind möglich. |
31. |
Erstens ein offensichtlicher Normenkonflikt, der sich ergibt, wenn der Wortlaut der unionsrechtlichen Bestimmungen direkt mit einer oder mehreren Vorschriften des nationalen Rechts kollidiert. Wenn also, auf der Ebene des normativen Aussagegehalts, die Unionsnorm und die nationale Norm nicht gleichzeitig Bestand haben können, weil die Unionsnorm „Sei A“ bestimmt, die nationale Vorschrift jedoch „Sei (ganz oder zum Teil) Nicht‑A“. |
32. |
Zweitens können Normenkonflikte auch funktionaler Art sein: Dies betrifft die Situation, dass nationale und Unionsvorschriften, ohne dass die Bestimmungen ausdrücklich kollidieren, schon deshalb nicht miteinander vereinbar sind, weil bestimmte Vorschriften der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Anwendung oder der Funktionsweise mit dem Rechtsrahmen der Union kollidieren ( 15 ). So verstehe ich die Ausführungen des Gerichtshofs, denen zufolge, auch wenn die gemeinsame Marktorganisation das betreffende Gebiet nicht abschließend geregelt hat, Vorschriften, die deren ordnungsgemäßes Funktionieren behindern, durch das Unionsrecht ausgeschlossen sind ( 16 ). |
33. |
Diese beiden Kategorien sind jedoch alles andere als klar abgegrenzt. Sie sind eher zwei Punkte eines Spektrums. Klar ist auch, dass direkte Wortlautkonflikte wahrscheinlich (nur) selten vorkommen ( 17 ). Konflikte dürften sich häufiger in Fällen ergeben, in denen eine nationale Regelung eine inzident abweichende Regel vorsieht oder Ausnahmen, Abweichungen oder zusätzliche Voraussetzungen einführt, die in der Unionsvorschrift nicht ausdrücklich geregelt sind. Umso mehr ist es notwendig, den weiteren Regelungszusammenhang zu untersuchen, insbesondere den Aufbau der Regelung, deren Teil die Vorschrift ist, und ihre Zielsetzung. |
c) Ziele
34. |
Was die Entscheidung angeht, ob eine nationale Vorschrift hinter einer in Konflikt stehenden Unionsvorschrift zurücktreten muss, hat der Gerichtshof die Bedeutung der auf nationaler Ebene verfolgten Ziele anerkannt und Raum für nationale Maßnahmen gelassen, die den Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen ( 18 ). |
35. |
Ob eine solche Abweichung auf nationaler Ebene möglich ist, richtet sich naturgemäß danach, ob die Union ihre Zuständigkeit auf dem betreffenden Gebiet abschließend ausgeübt hat (dies wird auch als „abschließende Harmonisierung“ bezeichnet ( 19 )). Dies erklärt die Feststellung, dass die Anwendung nationaler Maßnahmen, die in den Mechanismus der Bildung derjenigen Preise eingreifen, die in einer gemeinsamen Marktorganisation alter Form im gleichen Produktions- und Vermarktungsstadium geregelt sind, ausgeschlossen wäre, und zwar „unabhängig [vom] … angeblichen oder tatsächlichen Zweck“ der Maßnahmen ( 20 ) und „selbst wenn diese geeignet sind, die gemeinsame Politik der Gemeinschaft zu unterstützen“ ( 21 ). |
36. |
Umgekehrt gilt im Falle noch nicht vollständig vom Unionsgesetzgeber abgedeckter oder aber auf Unionsebene „deregulierter“ Regelungsfelder, dass die Prüfung der Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften mit dem Unionsrecht die auf beiden Ebenen verfolgten Ziele berücksichtigen kann. Einzelstaatliche Regelungen, die im Allgemeininteresse liegende andere Ziele als die vom betreffenden unionsrechtlichen Instrument erfassten Ziele verfolgen, etwa den Schutz der menschlichen Gesundheit, sind deshalb für mit dem Unionsrecht vereinbar befunden worden, sofern sie den Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen, selbst wenn die Regelung Auswirkungen auf die gemeinsame Marktorganisation hat ( 22 ). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass „[d]ie Schaffung einer gemeinsamen Marktorganisation … nicht für sich allein [bewirkt], dass die landwirtschaftlichen Erzeuger jeder nationalen Regelung entzogen sind, die andere Ziele als die gemeinsame Organisation verfolgt, auch wenn diese Regelung das Funktionieren des Marktes in diesem Sektor beeinflussen kann“ ( 23 ). |
37. |
Soweit jedoch die streitgegenständlichen Vorschriften dieselben Ziele verfolgen wie die in Konflikt stehende Unionsvorschrift, werden die nationalen Regelungen verdrängt ( 24 ). Die unterschiedliche Behandlung ist dem Umstand geschuldet, dass im Falle in Konflikt stehender Vorschriften, die dieselben Ziele verfolgen, die betreffenden nationalen Vorschriften einfach deshalb mit den Unionsvorschriften kollidieren, weil sie aufgrund derselben Art von Erwägungen einen anderen legislativen Ausgleich bewirken möchten. Mit anderen Worten: Der Unionsgesetzgeber hat sich nach Abwägung aller relevanten Faktoren für eine bestimmte normative Lösung entschieden, die einen Ausgleich der verschiedenen Interessen und zu berücksichtigenden Erwägungen erfordert. Verfolgt eine nationale Vorschrift dieselben Ziele durch eine andere normative Regelung, so liegt dem eine andere Bewertung desselben Gegenstands zugrunde. |
38. |
Handelt es sich jedoch um verschiedene Ziele, so bedeutet das hingegen, dass die beiden Gesetzgeber ihrer Art nach verschiedene Erwägungen im Sinn hatten. Es kann z. B. sein, dass die Erwägungen andere Rechtsbereiche betreffen, die den Unionsrechtsakt nur am Rande berühren, oder dass sie, selbst in einem vom Unionsrecht abgedeckten Sachgebiet, eine andere Stufe der Produktions- bzw. Vertriebskette oder andere Akteure betreffen. Dem nationalen Gesetzgeber wird ein gewisser Grad an Freiheit eingeräumt, andere dem Gemeinwohl dienende Ziele zu verfolgen, die der Unionsgesetzgeber bei der Formulierung der betreffenden Unionsvorschrift nicht berücksichtigt hat (oder nicht berücksichtigen konnte). |
39. |
Dabei ist eine wichtige Klarstellung hervorzuheben: Die Ziele müssen der Art nach verschieden sein, nicht nur hinsichtlich der Regelungsintensität, mit der sie verfolgt werden. Wird etwa eine Unionsmaßnahme zum Verbraucherschutz ergriffen, wobei Verbraucherschutz auf der einen Seite sowie Wettbewerb und Vertragsfreiheit auf der anderen Seite in Ausgleich gebracht wurden, so kann es durchaus sein, dass Ziele wie der Schutz der öffentlichen Gesundheit oder der Umweltschutz außer Betracht geblieben sind. Anders ist es dagegen, wenn sowohl die Unionsmaßnahmen als auch die nationalen Maßnahmen Ziele derselben Art anstreben, diese Ziele jedoch unterschiedlich gewichten. So wäre es, wenn die in meinem früheren Beispiel genannte nationale Vorschrift in diesem Fall dem Verbraucherschutz einen höheren Stellenwert einräumte als das Unionsrecht, etwa durch Erlass präziser und detaillierter formulierter Verbote. In diesem Fall gäbe es einen Unterschied hinsichtlich der Regelungsintensität oder Präzision, doch die Regelungen wären immer noch auf dieselbe Art von Zielen ausgerichtet. |
40. |
Selbst wenn sich die Ziele der Art nach unterscheiden, gibt es aber keinen Freibrief, andere Ziele verfolgende nationale Vorschriften zu erlassen, ganz gleich, wie sich diese auf die Unionsregeln auswirken mögen. Die sich aus der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergebenden Einschränkungen bedeuten zwangsläufig, dass die betreffenden Ziele gegen die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik und der gemeinsamen Marktorganisation abzuwägen sind, dass die Maßnahme geeignet sein muss und dass sie nicht über das zur Zielerreichung Erforderliche hinausgehen darf ( 25 ). |
41. |
Dies ist der Prüfungsrahmen, in dem ich die jüngsten Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache The Scotch Whisky Association ( 26 ) verstehe. Diese Rechtssache betraf nationale Vorschriften, durch die zum Schutz der menschlichen Gesundheit für den Einzelhandel geltende Mindestverkaufspreise für alkoholische Getränke festgelegt wurden. Der Gerichtshof stellte fest, dass die nationale Gesetzgebung geeignet sei, die Wettbewerbsverhältnisse zu beeinträchtigen, indem sie bestimmte Erzeuger oder Einführer daran hindere, niedrigere Gestehungskosten auszunutzen, um günstigere Einzelhandelspreise anzubieten. Die nationale Regelung sei unvereinbar mit dem der Verordnung Nr. 1308/2013 zugrunde liegenden Grundsatz, dass sich die Verkaufspreise für Agrarerzeugnisse auf der Grundlage eines freien Wettbewerbs frei bilden sollten. Da jedoch die nationale Vorschrift ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolge, das nicht von den Zielen der Verordnung Nr. 1308/2013 abgedeckt sei, befand der Gerichtshof, dass die Verordnung der Vorschrift nicht entgegenstehe, sofern die Vorschrift den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genüge. |
42. |
Der Unionsgesetzgeber hat das Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit bei der Festlegung der Regeln für das Funktionieren des gemeinsamen Markts für Weinerzeugnisse offenbar nicht ausdrücklich in die Abwägung einbezogen ( 27 ). Dieses Ziel war vielmehr Teil einer anderen Regelung auf nationaler Ebene, der andere Erwägungen zugrunde lagen, die sich nur zufällig mit den von der Union angestellten Erwägungen überschnitten. Die nationale Vorschrift, um die es dabei ging, war eine Maßnahme, die nur die Einzelhandelsebene betraf. Der Einzelhandel ist naturgemäß ebenfalls eine (nämlich die letzte) Phase der Vermarktungskette; die Überschneidung und der sich daraus ergebende Konflikt zwischen den Unionsvorschriften und den nationalen Vorschriften waren in der Tat geringfügig. |
B. Vorliegender Fall
43. |
Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Klarstellungen folgt nunmehr die Untersuchung der vorliegenden Rechtssache. |
44. |
Die Fragen des nationalen Gerichts betreffen die Vereinbarkeit von Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 und 3 sowie Art. 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken mit Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013. Dessen Inhalt und Anwendungsbereich bilden den logischen Ausgangspunkt für die Beurteilung potenzieller Konflikte im Hinblick auf das Unionsrecht; sie bestimmen auch die angemessene Abstraktionsebene, auf der die Vorrangprüfung vorzunehmen ist. |
45. |
Die Argumentation der französischen Regierung, die Prüfung, ob eine abschließende Harmonisierung gegeben sei, müsse sich auf das allgemeine Sachgebiet der „Vertragsbeziehungen“ oder des Handelsrechts beziehen, und für das gesamte Sachgebiet der Vertragsbeziehungen geltende Vorschriften könnten nicht verdrängt werden, weil sich aus der Verordnung Nr. 1308/2013 keine solche Harmonisierung ergebe, überzeugt nicht. Soweit kein Vorrang für einen bestimmten „Bereich“ oder ein bestimmtes „Sachgebiet“ gegeben ist, was für dieses Element der gemeinsamen Marktorganisation für Milch nicht (oder nicht mehr) der Fall ist, ist auf den Normenkonflikt im betreffenden Fall zu fokussieren. Diesem Ansatz folgend haben die deutsche Regierung und die Kommission (meines Erachtens zutreffend) auf die konkrete Vorschrift abgestellt, nämlich auf Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013, welcher die freie Verhandelbarkeit aller die Rohmilchlieferung betreffenden Vertragsbestandteile (auch des Preises) regelt. |
46. |
Zur Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen sind zunächst der genaue Anwendungsbereich und die Auslegung der in Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 niedergelegten Regel festzustellen (1). Zweitens ist zu prüfen, ob die streitgegenständlichen nationalen Regelungen mit der genannten Vorschrift in Konflikt stehen (2). Sollte das der Fall sein, so wäre eine in Konflikt stehende nationale Vorschrift – vorbehaltlich der sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Anforderungen – nur dann mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn sie Ziele anderer Art verfolgte (3). |
47. |
Im Anschluss an diese Prüfung sehe ich mich zu dem Schluss veranlasst, dass Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 und 3 sowie Art. 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken ersichtlich Ziele verfolgen, die derselben Art sind wie diejenigen, die Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 innewohnen und vom Unionsgesetzgeber bereits bei Erlass der Vorschrift berücksichtigt wurden, so dass das Unionsrecht den betreffenden nationalen Vorschriften entgegensteht (4). |
1. Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 und der Grundsatz der „freien Verhandelbarkeit aller Vertragsbestandteile“
48. |
Art. 148 der Verordnung Nr. 1308/2013 ist im Zusammenhang mit der Entwicklung der Regulierung der gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse zu prüfen ( 28 ). Im Zuge der schrittweisen Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik, die auf mehr Marktausrichtung und Wettbewerbsfähigkeit setzten, änderte sich deren Ansatz ( 29 ). |
49. |
In Reaktion auf die schwierige Marktlage in diesem Sektor wurden, wie von der hochrangigen Expertengruppe (HLG) „Milch“ empfohlen, zusätzliche Maßnahmen für erforderlich gehalten. Diese (Stützungs‑)Maßnahmen beinhalteten die Empfehlung, Regelungen über die Vertragsbeziehungen zu erlassen. Daraufhin wurde 2012 eine dem derzeitigen Art. 148 entsprechende Vorschrift in die Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 aufgenommen ( 30 ). |
50. |
Die Aufnahme einer Bestimmung über formelle schriftliche Verträge wurde als Stützungsmaßnahme im Milchsektor gesehen, da ja das gemeinsame Preissystem damals nicht mehr anwendbar war und das Auslaufen des Quotensystems bevorstand. Der Unionsgesetzgeber war der Ansicht, die Verwendung formeller schriftlicher Verträge könnte „die Verantwortlichkeit der Akteure in der Milchversorgungskette verbessern und das Bewusstsein für die Notwendigkeit schärfen, gezielter auf Marktsignale zu reagieren, die Preisweitergabe zu verbessern und ihr Angebot stärker an der Nachfrage auszurichten, sowie dazu beizutragen, bestimmte unfaire Handelspraktiken zu unterlassen“ ( 31 ). Die zunächst befristete Regelung der Vertragsbeziehungen, deren Befristung später aufgehoben wurde ( 32 ), wurde auch auf andere Sektoren als Milch und Milcherzeugnisse ausgeweitet ( 33 ). |
51. |
Art. 148 der Verordnung Nr. 1308/2013 sieht für den Fall, dass ein Mitgliedstaat beschließt, dass für jede Rohmilchlieferung eines Landwirts an einen Rohmilch verarbeitenden Betrieb in seinem Hoheitsgebiet ein schriftlicher Vertrag zwischen den beteiligten Parteien abzuschließen ist (so wie es nach Angaben des vorlegenden Gerichts in Litauen der Fall ist), vor, dass diese Verträge die im ersten Absatz der Vorschrift festgelegten Bedingungen erfüllen müssen. Wie im 127. Erwägungsgrund erläutert wird, sind in der Verordnung einige grundlegende Voraussetzungen für die Verwendung dieser Verträge niedergelegt, um angemessene Mindeststandards für derartige Verträge sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts und der gemeinsamen Marktorganisation sicherzustellen. Diese Funktion erfüllt Art. 148 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 durch die Festlegung der Mindestanforderungen an den Inhalt solcher Verträge, wozu auch der Preis gehört ( 34 ). |
52. |
Art. 148 Abs. 2 bestimmt des Weiteren, dass der Vertrag vor der Lieferung schriftlich abzuschließen ist und dass er gewisse Bestandteile enthalten muss, u. a. den Preis, die gelieferte Milchmenge und den Zeitplan für Lieferungen, die Laufzeit des Vertrags, Angaben zu den Zahlungen sowie die Abhol- oder Liefermodalitäten und die im Falle höherer Gewalt anwendbaren Regelungen. Art. 148 Abs. 2 Buchst. c Ziff. i sieht vor, dass der Vertragsbestandteil „Preis“, der zwingend im schriftlichen Vertrag geregelt sein muss, auf verschiedene Weise ausgedrückt werden kann: entweder als fester und im Vertrag genannter Preis und/oder als Preis, der durch die Kombination verschiedener im Vertrag festgelegter Faktoren errechnet wird (etwa auf der Grundlage von Marktindikatoren, die Veränderungen der Marktbedingungen, die Liefermenge sowie die Qualität und Zusammensetzung der gelieferten Rohmilch widerspiegeln). |
53. |
Auch wenn die Mitgliedstaaten von der in der Verordnung Nr. 1308/2013 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machen und schriftliche Verträge zwingend vorschreiben, müssen jedoch alle Bestandteile solcher Verträge – auch der Preis – zwischen den beteiligten Parteien frei verhandelbar sein. Damit setzt Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013, wie auch aus deren 127. Erwägungsgrund ersichtlich, der Befugnis der Mitgliedstaaten, in den Sektor einzugreifen, indem sie den Abschluss schriftlicher Verträge zwingend vorschreiben, Grenzen. Die Bestimmung selbst sieht nur zwei spezifische Ausnahmen vom Grundsatz der Verhandlungsfreiheit vor. Erstens können die Mitgliedstaaten den Vertragsparteien die Verpflichtung auferlegen, eine Beziehung zwischen einer bestimmten Liefermenge und dem Preis für diese Lieferung zu vereinbaren. Zweitens können die Mitgliedstaaten eine Mindestlaufzeit für Verträge zwischen einem Landwirt und einem Erstankäufer von Rohmilch festlegen. |
54. |
Die in der Tat recht komplexe Struktur dieser Bestimmung lässt sich so auf den Punkt bringen, dass die freie Bestimmung der Verkaufspreise auf der Grundlage des freien Wettbewerbs, die „Ausdruck des Grundsatzes des freien Warenverkehrs unter Bedingungen wirksamen Wettbewerbs“ ist, die Regel ist, die sich durch die gesamte neue gemeinsame Marktorganisation zieht ( 35 ). Dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, im Grunde als Stützungsmaßnahme zum Ausgleich von Ungleichgewichten in einzelnen Sektoren auf bestimmten, im Einzelnen aufgeführten Vertragsformalitäten zu bestehen, ist eine Ausnahme von dieser Regel. Doch selbst wenn die Mitgliedstaaten solche Ausnahmen vorsehen, ist der Ausnahme eine äußere Grenze gesetzt: Die Mitgliedstaaten können nicht so weit gehen, dass der Grundsatz der freien Verhandelbarkeit aller Vertragsbestandteile – auch des Preises, für den Art. 148 Abs. 4 geringfügige Ausnahmen vorsieht – unterminiert wird. |
55. |
Dies ist der Kontext, in dem die streitgegenständlichen nationalen Vorschriften unter Beachtung der Art und des Anwendungsbereichs der einschlägigen Unionsvorschrift zu prüfen sind. |
2. Konflikt zwischen Art. 148 Abs. 4 und den nationalen Vorschriften?
a) Erste Vorlagefrage: Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken
56. |
Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken entgegensteht. Letztere Bestimmung untersagt einem Rohmilchkäufer, für derselben Gruppe zuzurechnende Rohmilchverkäufer unterschiedliche Rohmilchpreise anzuwenden. Die nach der verkauften Milchmenge zusammengesetzten Gruppen bestehen ausschließlich aus Erzeugern, die keiner anerkannten Milcherzeugerorganisation angehören. Innerhalb jeder Gruppe muss für Rohmilch mit derselben Qualität und Zusammensetzung, die dem Käufer auf die gleiche Weise geliefert wird, derselbe Preis gelten. |
57. |
Dazu teilt das vorlegende Gericht des Weiteren mit, dass die Vertragsparteien bei der Vereinbarung des Ankaufspreises für Rohmilch keine anderen Faktoren als die im Gesetz vorgeschriebenen berücksichtigen dürfen. Nach Angaben des Gerichts wird die Milch nach den Regeln für den Milchankauf angekauft, wenn die zuerst zu prüfenden Qualitätsindikatoren (Farbe, Geruch, Konsistenz, Temperatur, Geschmack, Säuregehalt, Reinheit und Dichte der Milch, neutralisierende und inhibierende Substanzen) den in den Regeln niedergelegten Anforderungen genügen. Sollte die Milch anderen Indikatoren für die Milchqualität (z. B. Gesamtzahl der Bakterien, Anzahl somatischer Zellen, inhibierende Substanzen, Gefrierpunkt der Milch) nicht genügen, so sind Abzüge von dem in den Regeln angegebenen Betrag vorzunehmen. Dementsprechend ist es zulässig, den Rohmilcherzeugern gemäß den im Vertrag niedergelegten Bedingungen – und somit auch für Milch von besserer Qualität – Aufschläge oder Prämien zu zahlen. |
58. |
Folglich ist ein Rohmilchkäufer nicht gehindert, auf Rohmilchverkäufer derselben Gruppe unterschiedliche Rohmilchankaufspreise anzuwenden, jedoch nur im Fall von Unterschieden in der Zusammensetzung und Qualität der gelieferten Milch. Allerdings sind die Faktoren, von denen der Ankaufspreis für Rohmilch abhängt, in einer Liste erschöpfend aufgeführt. Die Vertragsparteien können die für die Ankaufspreisbestimmung relevanten Faktoren also nicht frei wählen. |
59. |
Im Hinblick auf diese doppelte Beschränkung ist der Auffassung der Kommission und der deutschen Regierung zuzustimmen, dass die nationalen Vorschriften nicht mit Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 zu vereinbaren sind, demzufolge alle Bestandteile der schriftlichen Verträge frei verhandelbar sind. Hinzu kommt, worauf die deutsche Regierung hingewiesen hat, dass Art. 148 Abs. 4 ausdrücklich Ausnahmen vom Grundsatz der freien Verhandelbarkeit der Vertragsbestandteile vorsieht. Die in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken geregelten Beschränkungen erfüllen keinen dieser Ausnahmetatbestände. |
60. |
Dessen ungeachtet hat die litauische Regierung vorgetragen, der „Grundpreis“ werde von den Vertragsparteien unter Bezugnahme auf die Milchzusammensetzung betreffende Indikatoren frei verhandelt. Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 bewirke, dass dieser Grundpreis für alle Mitglieder derselben Gruppe gelte. Je nachdem, auf welche Weise die Lieferung erfolge, seien Preisunterschiede möglich. Darüber hinaus werde der Endpreis durch qualitätsbezogene Aufschläge, Abschläge oder Prämien beeinflusst. Deshalb, so die litauische Regierung, sei bei diesem dem Schutz vor unfairen Praktiken dienenden Mechanismus die Preisverhandlungsfreiheit gewahrt. |
61. |
Die Argumentation der litauischen Regierung vermag nicht zu überzeugen. |
62. |
Erstens: Die litauische Regierung beharrt darauf, dass der Grundpreis von den Parteien frei ausgehandelt werde. Selbst wenn dies in Bezug auf einen Erzeuger – vermutlich denjenigen aus der betreffenden Gruppe, mit dem der Ankäufer den ersten Vertrag geschlossen hat ( 36 ) – zuträfe, würde Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken bewirken, dass derselbe Grundpreis zwingend auch für alle anderen Erzeuger derselben Gruppe gälte. Es ist nicht nachvollziehbar, wie hinsichtlich aller anderen abgeschlossenen Verträge der Grundsatz der Verhandlungsfreiheit gewahrt sein könnte, wenn allen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe von Erzeugern derselbe Grundpreis aufgezwungen wird. Für alle anderen Erzeuger in der betreffenden Gruppe ist der Grundpreis eigentlich ein Festpreis. |
63. |
Zweitens: Der Vortrag der litauischen Regierung, dass der Preis auch von verschiedenen anderen im Gesetz niedergelegten Faktoren abhängen könne, führt zu keinem anderen Schluss. Er verdeutlicht vielmehr den Umstand, dass mit der Festlegung des Grundpreises auch alle anderen Faktoren feststehen, die bei der Berechnung des exakten Preises jeder einzelnen Lieferung zu berücksichtigen sind, so dass tatsächlich keine freien Preisverhandlungen stattfinden. |
64. |
In Art. 148 Abs. 2 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 1308/2013 ist niedergelegt, welche Mindestangaben die Verträge hinsichtlich des für die Lieferung zu zahlenden Preises enthalten müssen. Der Vertrag muss entweder einen festen Preis vorsehen und/oder einen Preis, der als Kombination verschiedener Faktoren errechnet wird; wobei der Preis bzw. die Faktoren jeweils im Vertrag festzulegen sind. Zur Veranschaulichung dieser Faktoren ist in der Vorschrift niedergelegt, dass die Errechnung „etwa auf der Grundlage von Marktindikatoren, die Veränderungen der Marktbedingungen, die Liefermenge sowie die Qualität und Zusammensetzung der gelieferten Rohmilch widerspiegeln“, erfolgt. |
65. |
Aus der Verwendung der Konjunktionen „und/oder“ in Art. 148 Abs. 2 Buchst. c Ziff. i ist ersichtlich, dass die Verordnung Nr. 1308/2013 hinsichtlich des von den Vertragsparteien gewählten Preisfestsetzungsmechanismus neutral ist. Auch die Wendung „etwa auf der Grundlage“ zeigt, dass die Faktoren, die unter Art. 148 Abs. 2 Buchst. c Ziff. i zweiter Gedankenstrich aufgeführt sind, nur beispielhaft genannt werden und dass auch andere oder weniger Elemente angegeben sein könnten. |
66. |
An der Kernaussage von Art. 148 Abs. 4 ändert das nichts: Den Parteien muss es möglich sein, alle Vertragsbestandteile frei zu verhandeln. Dass ein Mitgliedstaat per Dekret eine unveränderliche, abschließende Liste von Faktoren aufstellt, die bei der Berechnung des exakten Preises jeder Lieferung berücksichtigt werden dürfen und deren Anwendung für alle Parteien obligatorisch ist, ist schwerlich mit der gebotenen Verhandlungsfreiheit zu vereinbaren. |
67. |
Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass die in der vorliegenden Rechtssache streitige Vorschrift die Freiheit der Vertragsparteien, den Ankaufspreis für Rohmilch frei zu verhandeln, in zweierlei Hinsicht beschränkt: indem sie den Grundpreis an die Gruppe bindet und indem sie verhindert, dass die Vertragsparteien einen anderen Rohmilchankaufspreis vereinbaren können, der auf andere als die im nationalen Gesetz aufgeführten Faktoren abstellt. |
b) Zweite Vorlagefrage: Verbot ungerechtfertigter Preisreduzierungen
68. |
Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das nationale Gericht wissen, ob Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 der Anwendung nationaler Vorschriften entgegensteht, die Rohmilchkäufern die nicht gerechtfertigte Reduzierung des Rohmilchankaufspreises untersagen. Eine Preisreduzierung um mehr als 3 % ist danach nur zulässig, wenn die zuständige Behörde (die Marktregulierungsbehörde) die Reduzierung für gerechtfertigt befindet. |
69. |
Die litauische Regierung führt aus, Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 und Art. 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken hätten zum Ziel, zu garantieren, dass es nicht nach Vertragsabschluss zu nicht gerechtfertigten Preisänderungen komme. Bei diesen Vorschriften handele es sich nicht um eine Beschränkung freier Preisverhandlungen, sondern um eine Garantie, dass der Preis nur bei Vorliegen objektiver Gründe geändert werde. |
70. |
Die deutsche Regierung hat die Ansicht vertreten, dass Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 nicht berühre. Die Vorschrift betreffe ein einseitiges Verhalten einer der Vertragsparteien nach Vertragsschluss und sei daher nicht vom Anwendungsbereich des Art. 148 Abs. 4 erfasst; die Vorschrift regele vielmehr einen in der Verordnung nicht geregelten Aspekt: die Verhinderung unfairer Praktiken. |
71. |
Die Kommission trägt vor, diese Vorschrift stelle, ähnlich wie Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken, eine Beschränkung der in Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 niedergelegten Preisverhandlungsfreiheit dar, weshalb ihre Anwendung ausgeschlossen sei. |
72. |
In diesem Punkt ist der Kommission zuzustimmen. |
73. |
Zunächst muss ich einräumen, dass sich mir die Logik von Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 sowie Art. 5 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken verschließt. Dass es diese beiden Vorschriften gibt, lässt vermuten, dass trotz der zwingenden Schriftform (und sogar nach Festlegung gemeinsamer Preise für die jeweilige Gruppe gemäß Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes) recht hohe Preisschwankungen auch nach Abschluss eines solchen schriftlichen Vertrags vorkommen können, obwohl dessen erklärtes Ziel es war, Stabilität in die Vertragsbeziehungen zu bringen. |
74. |
In der mündlichen Verhandlung hat die litauische Regierung diese Vorschrift mit den besonderen Gegebenheiten auf dem litauischen Markt begründet. Wegen der ungleich verteilten Verhandlungsmacht könnten die Rohmilchkäufer den Erzeugern niedrige Preise aufzwingen, indem sie damit drohten, künftig keine Milch mehr abzunehmen. Was die Rohmilchkäufer angehe, würden die vertraglichen Vereinbarungen nicht so greifen wie vorgesehen. |
75. |
Bei dieser Sachlage finde ich die Argumentation der deutschen Regierung – die zwischen dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses, zu welchem der Grundsatz der Verhandlungsfreiheit gelte, und der späteren Vertragserfüllung, welche von derartigen Regeln nicht erfasst werde, differenziert – etwas formalistisch und wenig überzeugend. Aus den Erklärungen der litauischen Regierung wird recht deutlich, dass sich die in der Phase der Vertragsverhandlungen gegebene Asymmetrie der Verhandlungspositionen in der späteren Phase der Vertragserfüllung ohne Weiteres fortsetzen kann. Dies kann entweder auf formelle Weise geschehen (durch Aufnahme solche Preisschwankungen zulassender Vertragsklauseln, die, wie man sich vorstellen kann, ersichtlich zum Nachteil nur einer Partei sind) oder auf faktischer Ebene (da dieselben Parteien wahrscheinlich eine Reihe aufeinanderfolgender Verträge abschließen werden, wobei – wie die litauische Regierung vorgetragen hat – „mangelnde Kooperation“ oder die „Nichterfüllung“ eines Vertrags zu „weniger günstigen Bedingungen“ für den nächsten von den Parteien abgeschlossenen Vertrag führen könnten). |
76. |
Betrachtet man diese beiden Auffassungen, so ist aber doch ersichtlich, dass die relevanten Vorschriften in der Tat die Freiheit zur Verhandlung der Vertragsbestandteile beschränken, was die Wirkung von Art. 148 Abs. 4 der Verordnung unterminiert. Die Möglichkeit, Preisreduzierungen frei zu verhandeln, wird durch die Vorschriften eingeschränkt. Durch Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken wird ein absolutes Verbot ungerechtfertigter Reduzierungen auferlegt, das der Vertragsfreiheit der Parteien klare Grenzen setzt. Art. 5 ergänzt diese Logik, indem er vorschreibt, dass Preisreduzierungen von mehr als 3 % der Genehmigung durch die zuständige Behörde bedürfen, und gibt ihr einen institutionellen Rahmen. |
77. |
Obwohl ich mir der wirtschaftlichen Realität, die der Funktionsweise des Rohmilchmarkts in Litauen zugrunde liegt, durchaus bewusst bin, komme ich zu dem Schluss, dass ich keine Möglichkeit sehe, die betreffenden nationalen Vorschriften mit der klaren Vorgabe, dass alle Vertragsbestandteile für die Vertragsparteien frei verhandelbar sein müssen, in Einklang zu bringen. |
3. Unterschiedliche Ziele?
78. |
In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung, gestützt auf das Urteil in der Rechtssache The Scotch Whisky Association ( 37 ), ausgeführt, dass die streitgegenständlichen Vorschriften, obwohl sie eine Beschränkung der durch Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 vorgeschriebenen Verhandlungsfreiheit mit sich brächten, dennoch nach den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu prüfen seien, weil sie andere Ziele verfolgten als die Verordnung. Das mit dem Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken verfolgte Ziel – das Verbot unfairer Handelspraktiken – sei kein autonomes Ziel der Verordnung, sondern ein Nebenaspekt, der nur eine untergeordnete Rolle spiele. |
79. |
Ähnlich hat die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung argumentiert: Sie war der Ansicht, in dieser Sache sei die Lösung in der Rechtssache The Scotch Whisky Association anwendbar, da die streitgegenständliche Vorschrift keine abschließende Harmonisierung bewirkt habe. Ob nationale Vorschriften, die eine ausdrückliche Unionsvorschrift beeinträchtigten, auf dieser Grundlage gestattet werden könnten, lasse sich nur im Einzelfall feststellen. |
80. |
Die deutsche Regierung ist entgegengesetzter Auffassung. Sie meint, dieser Fall liege anders als in der Rechtssache The Scotch Whisky Association. Anders als dort, wo der streitige Punkt nicht durch die Verordnung Nr. 1308/2013 geregelt gewesen sei, betreffe die vorliegende Sache eine Vorschrift, die die Grenzen regele, die die Mitgliedstaaten der freien Verhandelbarkeit aller Vertragsbestandteile setzen dürften. |
81. |
Bei Anwendung des vorstehend in den Nrn. 26 bis 42 beschriebenen Prüfungsrahmens stellt sich an diesem Punkt der Prüfung die folgende Hauptfrage: Welche Ziele wurden mit der Unionsvorschrift bzw. mit der nationalen Vorschrift – die, wie soeben festgestellt wurde, in Konflikt stehen – verfolgt? |
82. |
Was Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 angeht, gibt es zwei herausragende Ziele. Erstens verfolgt sie das Ziel der Stärkung der Verhandlungsmacht der Milcherzeuger im betreffenden Milchsektor. Wie die Kommission zutreffend ausführt, hat die Verordnung, wie ihr 128. Erwägungsgrund besagt, Maßnahmen zur Stärkung der Verhandlungsmacht der Milchbauern gegenüber den verarbeitenden Betrieben vorgesehen, um einen angemessenen Lebensstandard der Milchbauern sicherzustellen. Art. 149 der Verordnung Nr. 1308/2013 gestattet Erzeugerorganisationen, die aus Milchbauern bzw. deren Verbänden bestehen, Verträge über Rohmilchlieferungen kollektiv auszuhandeln; sie sind also von der Anwendung der Wettbewerbsregeln ausgenommen. Die Verordnung baut allgemein (nicht nur im Milchsektor) auf die Fähigkeit solcher Erzeugerorganisationen, das Angebot zu bündeln und somit die Verhandlungsposition der Erzeuger zu stärken, was wiederum die Gründung und Anerkennung solcher Organisationen fördert ( 38 ). |
83. |
Zweitens wird, wie im 138. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1308/2013 dargelegt, der Einsatz schriftlicher Verträge, wie er in den Art. 148 und 168 der Verordnung Nr. 1308/2013 vorgesehen ist, allgemein als Möglichkeit gesehen, bestimmten unfairen Handelspraktiken entgegenzuwirken. Die Art. 148 entsprechende Vorschrift wurde durch die Verordnung Nr. 261/2012 in die Verordnung Nr. 1234/2007 eingefügt, und zwar ausdrücklich zu dem Zweck, durch die Verwendung formeller schriftlicher Verträge dazu beizutragen, bestimmten unfairen Handelspraktiken entgegenzuwirken ( 39 ). In den Erwägungsgründen der Verordnung Nr. 261/2012 wird insbesondere klargestellt, dass die Aufnahme der dem heutigen Art. 148 der Verordnung Nr. 1308/2013 entsprechenden Bestimmung auf der Erwägung beruhte, dass die Situation der Milcherzeugungs- und ‑verarbeitungssektoren in den einzelnen Mitgliedstaaten zwar höchst unterschiedlich ist, die Angebotskonzentration jedoch vielfach gering. Das führt in der Versorgungskette zu Ungleichgewichten in der Verhandlungsmacht zwischen Landwirten und Molkereien, was wiederum zu unfairen Handelspraktiken führen kann ( 40 ). |
84. |
Zu den mit dem Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken verfolgten Zielen hat die litauische Regierung vorgetragen, die in Rede stehenden Vorschriften zielten darauf ab, unfaire Handelspraktiken zu untersagen und somit Wettbewerbsanreize zu setzen und die Verhandlungsmacht der Landwirte zu stärken. Durch Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gesetzes werde ein gewisses Maß an Kooperation der Erzeuger bezüglich der Festlegung der Rohmilchpreise sichergestellt, um deren Verhandlungsposition zu stärken. Das Gesetz über das Verbot unfairer Praktiken habe somit zum Ziel, die Verhandlungsmacht der Milcherzeuger zu stärken und unfairen Handelspraktiken im Milchsektor entgegenzuwirken. |
85. |
Offenkundig sind die Ziele, die mit den streitgegenständlichen nationalen Vorschriften verfolgt werden, dieselben wie die der Verordnung. In der mündlichen Verhandlung hat die litauische Regierung dies auch eingeräumt. Die Konzeption von Art. 148 der Verordnung Nr. 1308/2013 beruht auf Erwägungen des Unionsgesetzgebers, die derselben Art sind wie diejenigen, die den litauischen Gesetzgeber dazu bewegten, die hier streitigen Bestimmungen des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken zu erlassen. Dabei mag die Abwägung zwischen denselben Werten unterschiedlich ausgefallen sein: In dem Bestreben, die Ziele des freien Wettbewerbs mit den konkreten Zielen der Gemeinsamen Agrarpolitik – u. a. dem Anliegen, einen angemessenen Lebensstandard der Milchbauern sicherzustellen, deren Verhandlungsmacht zu stärken und sie vor unfairen Handelspraktiken zu schützen – in Einklang zu bringen, entschied sich der Unionsgesetzgeber dafür, anstelle der möglicherweise strengeren Maßnahmen, die vom litauischen Gesetzgeber beschlossen wurden, lediglich vorzusehen, dass die Mitgliedstaaten für die Verträge ein Schriftformerfordernis vorschreiben können. |
86. |
Ob und inwieweit diese Maßnahme tatsächlich ein geeignetes und wirksames Mittel ist, diese Ziele zu erreichen, ist eine ganz andere Frage, auf die im letzten Teil dieser Schlussanträge eingegangen wird. Es steht jedenfalls außer Zweifel, dass der Unionsgesetzgeber eine klare Wertentscheidung getroffen hat: Unter Berücksichtigung derselben Ziele ist er zu der Entscheidung gelangt, dieselbe Situation in derselben Stufe der Produktionskette zu regeln. Aus diesen Gründen ist der Konflikt zwischen den Unionsvorschriften und den nationalen Vorschriften in dieser Rechtssache kein geringfügiger Fall sich teilweise überschneidender Regelungen, bei dem eine weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit in Betracht käme. Es handelt sich vielmehr um eine grundlegende funktionale Kollision zwischen zwei verschiedenen Regelungen desselben Sachverhalts, die die verschiedenen im Hinblick auf dieselben Ziele getroffenen Wertentscheidungen widerspiegeln. |
87. |
Die Tatsache, dass es, wie das vorlegende Gericht anmerkt, noch keine weiteren besonderen unionsrechtlichen Maßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken unter Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette gibt, sondern nur vorbereitende Maßnahmen ( 41 ), ändert an diesem Ergebnis nichts. |
88. |
Im April 2018 wurde ein Vorschlag für eine Richtlinie über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette veröffentlicht ( 42 ). Es stimmt, dass, solange ein Regelungsbereich nicht besetzt ist, d. h. solange für den betreffenden Bereich kein unionsrechtliches Instrument erlassen worden ist, die Mitgliedstaaten selbst nationale Vorschriften erlassen können. |
89. |
Es stimmt aber auch, dass die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten möglicherweise in der Zwischenzeit beschließen, nicht mit den bereits aufgrund der Verordnung Nr. 1308/2013 geltenden Unionsvorschriften oder sonstigen geltenden unionsrechtlichen Instrumenten in Konflikt stehen dürfen. |
90. |
In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung gleichwohl die Ansicht vertreten, der vorgenannte Vorschlag bedeute, dass der Bereich unfairer Handelspraktiken (oder des Schutzes vor ihnen) im Rohmilchsektor nicht bereits durch Art. 148 der Verordnung Nr. 1308/2013 umfassend unionsrechtlich geregelt gewesen sein könne. Wie könne es sonst sein, dass die Kommission jetzt neue Regelungen für diesen Bereich vorschlage? Indem sie neue Regelungen für genau diesen Sachverhalt vorschlage, erkenne die Kommission vielmehr implizit an, dass hier eine konkrete Regelungslücke bestehe. |
91. |
Diese auf den ersten Blick elegante Argumentation hält jedoch der näheren Prüfung nicht stand. Erstens besteht der Vorrang des Unionsrechts, wie oben dargelegt ( 43 ), auf der Ebene der Regel, die besagt, dass alle Bestandteile des Vertrags für die Parteien frei verhandelbar sein müssen. Andere potenzielle Maßnahmen, die darauf abzielen, das Ungleichgewicht zu beseitigen, werden dadurch nicht ausgeschlossen, sofern sie die genannte Regel nicht beeinträchtigen. Genau das ist jedoch bei den im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen der Fall. Zweitens: Selbst wenn anzunehmen wäre, dass die Anwendungsbereiche der neuen Unionsvorschriften, die demnächst vorgeschlagen werden sollen, und des derzeitigen Art. 148 und anderer Bestimmungen der Verordnung Nr. 1308/2013 genau übereinstimmten (was hier nicht der Fall ist), könnte die Tatsache, dass neue Vorschriften vorgeschlagen werden, auch einfach bedeuten, dass die in diesem Bereich bestehenden Regeln geändert werden. Spätere Unionsvorschriften wären dann eine lex posterior auf derselben Regelungsebene wie die Verordnung Nr. 1308/2013. |
4. Zwischenergebnis
92. |
Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass Art. 148 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsvorschrift wie der hier in Rede stehenden entgegensteht, die zur Stärkung der Verhandlungsmacht der Rohmilcherzeuger und zur Unterbindung unfairer Handelspraktiken
|
C. Nachwort
93. |
Angesichts der Änderung des Regelungsrahmens der Gemeinsamen Agrarpolitik und der gemeinsamen Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse wie auch der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache The Scotch Whisky Association sind möglicherweise Zweifel aufgekommen, inwieweit Raum für nationale Vorschriften bleibt, die legitime Ziele verfolgen, die nicht von den Instrumenten der Gemeinsamen Agrarpolitik erfasst sind. |
94. |
Die vorstehend in diesen Schlussanträgen erörterte Änderung des Regulierungsansatzes und der Regulierungslogik lässt durchaus Raum für nationale Vielfalt, insbesondere in den Randbereichen des Markts, wo die Marktkräfte mit anderen Zielen und Werten in Einklang zu bringen sind. Allerdings kann diese „Abweichungserlaubnis“ selbst im Interesse ganz legitimer Ziele meines Erachtens nicht so weit reichen, dass sie in den Regelungskern der einheitlichen gemeinsamen Marktorganisation einzugreifen beginnt. |
95. |
Damit wird in keiner Weise gesagt, dass das, was der litauische Gesetzgeber mit den streitgegenständlichen Bestimmungen des Gesetzes über das Verbot unfairer Praktiken zu erreichen wünschte, nicht legitim und vernünftig wäre. Persönlich habe ich sogar großes Verständnis für diese Anliegen. Mit den in Rede stehenden nationalen Vorschriften wird versucht, auf einen landesspezifischen Kontext zu reagieren, wo der Ansatz der Verordnung, der auf die Schlagkraft von Erzeugerorganisationen und ‑vereinigungen setzt, wohl nicht richtig funktioniert hat. Diese Realität auf der nationalen Ebene spiegelt sich im jüngsten Bericht der Kommission über die Umsetzung der relevanten Bestimmungen der Verordnung Nr. 1308/2013 wider, wo der in einigen Mitgliedstaaten bestehende Widerstand gegen den „Vereinigungsansatz“ als einer der Gründe für den nur eingeschränkten Erfolg der Umsetzung angeführt wird ( 44 ). |
96. |
Wenn allerdings die Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht so löchrig werden soll wie ein Schweizer Käse, kann den Mitgliedstaaten selbst im Hinblick auf diese Erwägungen nicht gestattet werden, einseitig von den klaren Anforderungen des Unionsrechts abzuweichen. Erstens ist in der Verordnung Nr. 1308/2013 vorgesehen, dass Maßnahmen zur Lösung spezifischer Probleme ergriffen werden können ( 45 ). Zweitens sind darin Mitteilungsanforderungen und Berichterstattungspflichten der Kommission vorgesehen, um die Reaktionsfähigkeit des Unionsgesetzgebers sicherzustellen ( 46 ). |
97. |
Drittens gilt allgemein, und dies ist der wichtigste Aspekt, dass die Mitgliedstaaten durch den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zur Einhaltung des Unionsrechts verpflichtet sind. Wenn sich für die Mitgliedstaaten beim Vollzug Schwierigkeiten und Probleme ergeben, die ihres Erachtens behebungsbedürftig sind, so stehen ihnen die auf Unionsebene vorgesehenen institutionellen Wege offen, um auf Gesetzesänderungen und die fortlaufende Anpassung an die sich verändernden Gegebenheiten hinzuwirken ( 47 ). |
98. |
Diese Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gilt allerdings für beide Seiten. Sowohl den Mitgliedstaaten als auch den Unionsorganen ist die Verpflichtung auferlegt, dass sie „redlich zusammenwirken [müssen], um diese Schwierigkeiten unter Beachtung der Bestimmungen des [Vertrags] und des sonstigen [Unionsrechts], insbesondere der Regelung der gemeinsamen Marktorganisation für den fraglichen Sektor … zu überwinden“ ( 48 ). |
99. |
Innerhalb dieses Rahmens ist es die Pflicht des Unionsgesetzgebers, auf derartige Entwicklungen rechtzeitig zu reagieren ( 49 ). Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, kann die Tatsache, dass die Organe der Union in bestimmten Bereichen, insbesondere in der Gemeinsamen Agrarpolitik, weites Ermessen genießen, nach meiner Auffassung nicht als eine Art zeitlich unbegrenzter Blankoscheck verstanden werden, aufgrund dessen frühere Regelungsentscheidungen für die Marktorganisation als immerwährende und ausreichende Rechtfertigung ihrer fortdauernden Anwendung in einem erheblich gewandelten Markt und sozialen Umfeld angesehen werden können ( 50 ). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet sind; andernfalls könnte ihre Gültigkeit angegriffen werden ( 51 ). Ein solches Verfahren wäre jedoch ein eigener, abweichende Ausführungen und Beweise vor dem Gerichtshof erfordernder Fall. |
V. Ergebnis
100. |
Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die ihm vom Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten: Art. 148 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die wie die hier in Rede stehende zur Stärkung der Verhandlungsmacht der Rohmilcherzeuger und zur Unterbindung unfairer Handelspraktiken
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( 1 ) Originalsprache: Englisch.
( 2 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 (ABl. 2013, L 347, S. 671).
( 3 ) Urteil vom 23. Dezember 2015, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:845).
( 4 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2017 (ABl. 2017, L 350, S. 15).
( 5 ) Gesetzesregister (TAR) 9.7.2015, Nr. 11209.
( 6 ) Gesetzesregister (TAR) 29.12.2015, Nr. 20903.
( 7 ) Zu den späteren Entwicklungsphasen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) vgl. z. B. Barents, R., The Agricultural Law of the EC, Kluwer, 1994, Usher, J. A., EC Agricultural Law, Oxford University Press, 2001, McMahon, J. A., EU Agricultural Law, Oxford University Press, 2007, und Schütze, R., „Reforming the ‚CAP‘: From Vertical to Horizontal Harmonisation“, Yearbook of European Law, Bd. 28, Ausgabe 1, 2009, S. 337 bis 361.
( 8 ) Einige Urteile des Gerichtshofs schienen auf einen Vorrang hinzudeuten, indem es darin hieß, dass „die Mitgliedstaaten, sobald eine Regelung über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation als abschließend angesehen werden kann, in diesem Bereich keine Zuständigkeit mehr haben, es sei denn, das [Unionsrecht] sieht ausdrücklich etwas anderes vor“ (Urteil vom 13. März 1984, Prantl, 16/83, EU:C:1984:101, Rn. 13). Zu dieser Diskussion vgl. Schütze, R., „Reforming the ‚CAP‘: From Vertical to Horizontal Harmonisation“, Yearbook of European Law, Bd. 28, Ausgabe 1, 2009, S. 337 bis 361.
( 9 ) Vgl. z. B. Berardis, G., „The Common organisation of agricultural markets and national price regulations“, CML Rev, 1980, S. 539 bis 551; Usher, J. A., „The Effects of Common Organisations and Policies on the Powers of a Member State“, European Law Review, Bd. 2, 1977, S. 428 bis 443.
( 10 ) Vgl. z. B. Urteil vom 26. Mai 2005, Kuipers (C‑283/03, EU:C:2005:314, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
( 11 ) Vgl. den ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 261/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates im Hinblick auf Vertragsbeziehungen im Sektor Milch und Milcherzeugnisse (ABl. 2012, L 94, S. 38).
( 12 ) Schlussanträge des Generalanwalts Bot, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:527, Nrn. 31 ff.).
( 13 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2013, Panellinios Syndesmos Viomichanion Metapoiisis Kapnou (C‑373/11, EU:C:2013:567, Rn. 26).
( 14 ) Vgl. dazu meine Schlussanträge in der Rechtssache Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nrn. 72 bis 80).
( 15 ) Vgl. auch hierzu meine Schlussanträge in der Rechtssache Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nr. 76), wo als Beispiel das im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl ergangene Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 37, 38 und 56), angeführt wird.
( 16 ) Vgl. z. B. Urteil vom 19. März 1998, Compassion in World Farming (C‑1/96, EU:C:1998:113, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
( 17 ) Vgl. zu dieser Diskussion, Arena, A., „The Twin Doctrines of Primacy and Pre-emption“ in Schütze, R., und Tridimas, T., Oxford Principles of European Union Law: The European Union Legal Order, Bd. 1, Oxford University Press, 2018, S. 300 bis 349, S. 329.
( 18 ) Vgl. Urteil vom 23. Dezember 2015, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
( 19 ) Siehe oben, Nrn. 21 und 22.
( 20 ) Vgl. Urteil vom 26. Mai 2005, Kuipers (C‑283/03, EU:C:2005:314, Rn. 53).
( 21 ) Vgl. z. B. Urteil vom 14. Oktober 2004, Spanien/Kommission (C‑173/02, EU:C:2004:617, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
( 22 ) Urteil vom 23. Dezember 2015, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 26 bis 29).
( 23 ) Vgl. z. B. Urteil vom 6. Oktober 1987, Openbaar Ministerie/Nertsvoederfabriek Nederland (118/86, EU:C:1987:424, Rn. 12). Vgl. auch Urteil vom 1. April 1982, Holdijk (141/81 bis 143/81, EU:C:1982:122, Rn. 12 und 13).
( 24 ) Vgl. z. B. Urteil vom 16. Januar 2003, Hammarsten (C‑462/01, EU:C:2003:33, Rn. 34 ff.), und Beschluss vom 11. Juli 2008, Babanov (C‑207/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:407, Rn. 28 ff.).
( 25 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2015, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 29).
( 26 ) Urteil vom 23. Dezember 2015, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:845).
( 27 ) Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:527, Nr. 41).
( 28 ) Abschnitt 3 über Milch und Milcherzeugnisse, zu finden in Teil II (über Sonderbestimmungen für einzelne Sektoren) von Titel II Kapitel II der Verordnung Nr. 1308/2013.
( 29 ) Siehe oben, Nr. 23.
( 30 ) Art. 185f wurde durch die Verordnung Nr. 261/2012 in die Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. 2007, L 299, S. 1) eingefügt.
( 31 ) Achter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2012.
( 32 ) Gemäß Art. 232 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 sollte Art. 148 nur bis zum 30. Juni 2020 gelten. Da es für angebracht gehalten wurde, den Sektor Milch und Milcherzeugnisse nach dem Auslaufen der Quotenregelung weiter zu unterstützen und seine Fähigkeit zur Reaktion auf Markt- und Preisschwankungen zu fördern, wurde die Befristung auf den 30. Juni 2020 durch die Verordnung 2017/2393 aufgehoben (vgl. den 60. Erwägungsgrund und Art. 4 Abs. 22).
( 33 ) Vgl. den 138. Erwägungsgrund und Art. 168 der Verordnung Nr. 1308/2013.
( 34 ) Dass die Vorschrift „Mindestanforderungen“ stellt, geht auch aus den Gesetzesmaterialien hervor, insbesondere aus dem von der Kommission unterbreiteten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 1234/2007 des Rates im Hinblick auf Vertragsbeziehungen im Sektor Milch und Milcherzeugnisse, COM(2010) 728 final (dies ist der Vorschlag, auf dem die Verordnung Nr. 261/2012 beruhte, durch die die Vorgängerregelung zu Art. 148 eingeführt wurde).
( 35 ) Vgl. Urteil vom 23. Dezember 2015, The Scotch Whisky Association (C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 20).
( 36 ) Das Wort „vermutlich“ wird verwendet, weil bei einem Markt wie dem litauischen Rohmilchmarkt, der wohl durch ein signifikantes Ungleichgewicht der Verhandlungsmacht geprägt ist, auch eine erhebliche Informationsasymmetrie zu erwarten sein dürfte.
( 37 ) Urteil vom 23. Dezember 2015 (C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 26 bis 29).
( 38 ) Vgl. Erwägungsgründe 131 bis 134 sowie Teil II Titel II Kapitel III der Verordnung über „Erzeugerorganisationen und deren Vereinigungen und Branchenverbände“.
( 39 ) Achter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2012, angeführt in Nr. 50 dieser Schlussanträge.
( 40 ) Vgl. den fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2012.
( 41 ) Am 7. Juni 2016 hat das Europäische Parlament eine Entschließung zu unlauteren Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette (2015/2065[INI]) angenommen. Am 14. November 2016 hat die von EU-Kommissar Phil Hogan gegründete Einsatzgruppe „Agrarmärkte“ den Bericht über die Verbesserung der Position der Landwirte in der Versorgungskette vorgelegt, und am 12. Dezember 2016 hat der Rat der Europäischen Union die Schlussfolgerungen zur Stärkung der Position der Landwirte in der Lebensmittelversorgungskette und zur Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken (Schlussfolgerungen Nr. 15508/16) angenommen.
( 42 ) COM(2018) 173 final vom 12. April 2018.
( 43 ) Nr. 29 sowie Nrn. 59 bis 67 dieser Schlussanträge.
( 44 ) Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Entwicklung der Lage auf dem Milchmarkt und die Funktionsweise der Vorschriften des „Milchpakets“ (COM[2016] 724 final). Einen skeptischen Beobachter aus den östlicheren Teilen der Europäischen Union dürften diese Erkenntnisse kaum überraschen; dies dürfte genau das sein, was passieren kann, wenn eine einzige, recht offensichtlich an eine bestimmte Kultur gebundene „Lösung“ für alle vorgegeben wird. In Mitgliedstaaten, in denen die zwangsweise durchgeführte Vereinigung und Kollektivierung in der Landwirtschaft noch nicht lange zurückliegt und die historische Sensibilität entsprechend groß ist, ist es recht wahrscheinlich, dass ein solches Modell wenig Anklang findet.
( 45 ) Vgl. insbesondere Art. 221 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1308/2013.
( 46 ) Art. 223 und 225 der Verordnung.
( 47 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Februar 1973, Kommission/Italien (39/72, EU:C:1973:13, Rn. 20 ff.).
( 48 ) Urteil vom 8. Januar 2002, Van den Bor (C‑428/99, EU:C:2002:3, Rn. 47).
( 49 ) Vgl. in diesem Sinne, zur „Pflicht, ihre Regelung anzupassen“, Urteil vom 12. Dezember 1985, Vonk’s Kaas Inkoop/Minister van Landbouw en Visserij (208/84, EU:C:1985:508, Rn. 22).
( 50 ) Vgl. meine Schlussanträge in den Rechtssachen Lidl (C‑134/15, EU:C:2016:169, Nr. 90) und Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:20, Nr. 139).
( 51 ) Vgl. z. B. Urteil vom 12. Juli 2012, Association Kokopelli (C‑59/11, EU:C:2012:447, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 6. Dezember 1984, Biovilac/EWG (59/83, EU:C:1984:380, Rn. 17), demzufolge „die Rechtmäßigkeit einer Regelung nur dann beeinträchtigt sein kann, wenn eine Maßnahme zur Erreichung des vom zuständigen Gemeinschaftsorgan angestrebten Ziels offensichtlich ungeeignet ist“.