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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62018CJ0202

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. Februar 2019.
    Ilmārs Rimšēvičs und Europäische Zentralbank gegen Republik Lettland.
    Europäisches System der Zentralbanken – Klage wegen Verstoßes gegen Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank – Entscheidung einer nationalen Behörde, mit der der Präsident der nationalen Zentralbank vorläufig seines Amtes enthoben wird.
    Verbundene Rechtssachen C-202/18 und C-238/18.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2019:139

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    26. Februar 2019 ( *1 )

    [Text berichtigt durch Beschluss vom 10. April 2019]

    „Europäisches System der Zentralbanken – Klage wegen Verstoßes gegen Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank – Entscheidung einer nationalen Behörde, mit der der Präsident der nationalen Zentralbank vorläufig seines Amtes enthoben wird“

    In den verbundenen Rechtssachen C‑202/18 und C‑238/18

    betreffend zwei Klagen nach Art. 14.2 Abs. 2 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, eingereicht am 16. März bzw. 3. April 2018,

    Ilmārs Rimšēvičs, vertreten durch S. Vārpiņš, M. Kvēps und I. Pazare, advokāti (C‑202/18),

    [Berichtigt durch Beschluss vom 10. April 2019] Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch C. Zilioli, K. Kaiser und C. Kroppenstedt als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramírez-Escudero, abogado, und V. Čukste-Jurjeva, advokāte (C‑238/18),

    Kläger,

    gegen

    Republik Lettland, vertreten durch I. Kucina und J. Davidoviča als Bevollmächtigte,

    Beklagte,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richter A. Rosas, E. Juhász, E. Levits, L. Bay Larsen und D. Šváby sowie der Richterin M. Berger,

    Generalanwältin: J. Kokott,

    Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

    aufgrund der schriftlichen Verfahren und auf die mündliche Verhandlung vom 25. September 2018,

    nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Dezember 2018

    folgendes

    Urteil

    1

    Mit ihren Klagen gemäß Art. 14.2 Abs. 2 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (im Folgenden: Satzung des ESZB und der EZB) wenden sich Herr Ilmārs Rimšēvičs, der Präsident der Latvijas Banka (Zentralbank Lettlands), zum einen und die Europäische Zentralbank (EZB) auf Beschluss des EZB-Rats zum anderen gegen die Entscheidung des Korupcijas novēršanas un apkarošanas birojs (Büro zur Verhütung und Bekämpfung der Korruption, Lettland) (im Folgenden: KNAB) vom 19. Februar 2018, mit der Herrn Rimšēvičs einstweilig untersagt worden ist, sein Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands auszuüben (im Folgenden: streitige Entscheidung).

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    2

    In Art. 129 AEUV heißt es:

    „(1)   Das ESZB wird von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank, nämlich dem Rat der Europäischen Zentralbank und dem Direktorium, geleitet.

    (2)   Die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (im Folgenden ‚Satzung des ESZB und der EZB‘) ist in einem den Verträgen beigefügten Protokoll festgelegt.

    …“

    3

    Art. 130 AEUV sieht vor:

    „Bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge und die Satzung des ESZB und der EZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die Europäische Zentralbank noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der Europäischen Zentralbank oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.“

    4

    Art. 131 AEUV bestimmt:

    „Jeder Mitgliedstaat stellt sicher, dass seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung seiner nationalen Zentralbank mit den Verträgen sowie mit der Satzung des ESZB und der EZB im Einklang stehen.“

    5

    Art. 283 Abs. 1 AEUV lautet:

    „Der Rat der Europäischen Zentralbank besteht aus den Mitgliedern des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist.“

    6

    Art. 14 („Nationale Zentralbanken“) der Satzung des ESZB und der EZB sieht vor:

    „14.1.   Nach Artikel 131 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union stellt jeder Mitgliedstaat sicher, dass seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung seiner Zentralbank mit den Verträgen und dieser Satzung im Einklang stehen.

    14.2.   In den Satzungen der nationalen Zentralbanken ist insbesondere vorzusehen, dass die Amtszeit des Präsidenten der jeweiligen nationalen Zentralbank mindestens fünf Jahre beträgt.

    Der Präsident einer nationalen Zentralbank kann aus seinem Amt nur entlassen werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat. Gegen einen entsprechenden Beschluss kann der betreffende Präsident einer nationalen Zentralbank oder der EZB-Rat wegen Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm den Gerichtshof anrufen. Solche Klagen sind binnen zwei Monaten zu erheben; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe des betreffenden Beschlusses, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von diesem Beschluss Kenntnis erlangt hat.

    14.3.   Die nationalen Zentralbanken sind integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB. Der EZB-Rat trifft die notwendigen Maßnahmen, um die Einhaltung der Leitlinien und Weisungen der EZB sicherzustellen, und kann verlangen, dass ihm hierzu alle erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden.

    14.4.   Die nationalen Zentralbanken können andere als die in dieser Satzung bezeichneten Aufgaben wahrnehmen, es sei denn, der EZB-Rat stellt mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen fest, dass diese Aufgaben nicht mit den Zielen und Aufgaben des ESZB vereinbar sind. Derartige Aufgaben werden von den nationalen Zentralbanken in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung wahrgenommen und gelten nicht als Aufgaben des ESZB.“

    Lettisches Recht

    7

    Art. 241 Abs. 2 des Kriminālprocesa likums (Strafprozessordnung) bestimmt:

    „Gegen einen Verdächtigen oder Beschuldigten wird eine Sicherungsmaßnahme als prozessuale Zwangsmaßnahme verhängt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die betreffende Person weiterhin kriminelle Aktivitäten entfalten, den Ablauf des Strafverfahrens oder die Arbeit des Gerichts behindern oder sich diesem Verfahren oder dem Gericht entziehen wird. …“

    8

    Art. 254 der Strafprozessordnung lautet:

    „(1)   Das Verbot, eine bestimmte Beschäftigung auszuüben, ist das einem Verdächtigen oder Beschuldigten gemäß einer Entscheidung der das Verfahren leitenden Person auferlegte Verbot, während eines bestimmten Zeitraums eine bestimmte Art von Beschäftigung (Tätigkeit) auszuüben oder die mit einer konkreten Stelle (Arbeit) verbundenen Aufgaben wahrzunehmen.

    (2)   Die Entscheidung, mit der die Ausübung einer bestimmten Beschäftigung verboten wird, wird zur Vollstreckung dem Arbeitgeber oder einer anderen zuständigen Stelle übersandt.

    (3)   Die in Abs. 1 genannte Entscheidung ist für jeden Beamten verbindlich und innerhalb von drei Arbeitstagen nach Erhalt zu vollstrecken. Der Beamte teilt der das Verfahren leitenden Person den Beginn der Vollstreckung der Entscheidung mit.“

    9

    Art. 389 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor:

    „Ist eine Person, der das Recht auf Verteidigung zusteht, oder eine Person, deren Recht, über ihr Eigentum zu verfügen, durch prozessuale Maßnahmen eingeschränkt wird, in ein Ermittlungsverfahren einbezogen, so ist das Ermittlungsverfahren in Bezug auf diese Person innerhalb der folgenden Frist einzustellen bzw. sind sämtliche Sicherungsmaßnahmen und Beschränkungen der Rechte in Bezug auf ihr Eigentum innerhalb dieser Frist aufzuheben:

    4.

    bei besonders schweren Straftaten: zweiundzwanzig Monate.“

    10

    Art. 22 des Likums par Latvijas Banku (Gesetz über die Zentralbank Lettlands) vom 19. Mai 1992 (Latvijas Republikas Augstākās Padomes un Valdības Ziņotājs, 1992, Nr. 22/23) bestimmt:

    „Der Präsident der Zentralbank Lettlands wird vom Parlament auf Vorschlag von mindestens zehn seiner Mitglieder gewählt.

    Der Vizepräsident und die Mitglieder des Vorstands der Zentralbank Lettlands werden vom Parlament auf Vorschlag des Präsidenten der Zentralbank Lettlands gewählt.

    Die Amtszeit des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Mitglieder des Vorstands der Zentralbank Lettlands beträgt sechs Jahre. Im Fall eines freiwilligen Rücktritts eines Mitglieds des Vorstands oder des Ausscheidens aus dem Amt aus einem anderen Grund vor Ablauf seiner Amtszeit wird ein neues Mitglied des Vorstands der Zentralbank Lettlands für einen Zeitraum von sechs Jahren ernannt.

    Das Parlament kann den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Mitglieder des Vorstands der Zentralbank Lettlands vor Ablauf ihrer Amtszeit gemäß Abs. 3 nur in den folgenden Fällen aus ihrem Amt entlassen:

    1.

    bei einem freiwilliger Rücktritt;

    2.

    bei einer schweren Verfehlung im Sinne von Art. 14.2 der [Satzung des ESZB und der EZB];

    3.

    wenn sonstige Gründe für eine Entlassung aus dem Amt nach Art. 14.2 der [Satzung des ESZB und der EZB] vorliegen.

    In dem in vorstehender Nr. 2 genannten Fall kann das Parlament nach der rechtskräftigen Verurteilung beschließen, den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Mitglieder des Vorstands der Zentralbank Lettlands aus dem Amt zu entlassen.

    Der Präsident der Zentralbank Lettlands kann den Beschluss des Parlaments, ihn aus seinem Amt zu entlassen, gemäß Art. 14.2 der [Satzung des ESZB und der EZB] gerichtlich anfechten. Der Vizepräsident oder ein Mitglied des Vorstands der Zentralbank Lettlands kann gegen den Beschluss des Parlaments, ihn aus seinem Amt zu entlassen, gemäß dem in der Verwaltungsgerichtsordnung vorgesehenen Verfahren gerichtlich anfechten.“

    11

    In Art. 2 Abs. 1 und 2 der Korupcijas novēršanas un apkarošanas biroja likums (Gesetz über das Büro zur Verhütung und Bekämpfung der Korruption) (Latvijas Vēstnesis, 2002, Nr. 65) heißt es:

    „(1)   Das Büro ist eine unmittelbare Verwaltungsbehörde, die die nach diesem Gesetz vorgesehenen Aufgaben der Prävention und Bekämpfung der Korruption wahrnimmt …

    (2)   Das Büro untersteht der Aufsicht des Ministerrats. Der Ministerrat übt die institutionelle Aufsicht durch den Ministerpräsidenten aus. Die Aufsicht umfasst das Recht des Premierministers, die Rechtmäßigkeit der vom Leiter des Büros erlassenen Verwaltungsentscheidungen zu überprüfen und rechtswidrige Entscheidungen aufzuheben, sowie bei rechtswidriger Untätigkeit den Erlass einer Entscheidung anzuordnen. Das Aufsichtsrecht des Ministerrats bezieht sich nicht auf die Entscheidungen, die das Büro in Wahrnehmung der in den Art. 7, 8, 9 und 91 genannten Aufgaben erlassen hat.“

    12

    In Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über das Büro zur Verhütung und Bekämpfung der Korruption heißt es:

    „Das Büro nimmt im Rahmen der Korruptionsbekämpfung folgende Aufgaben wahr:

    2.

    es führt Ermittlungs- und operative Tätigkeiten durch, um Straftaten aufzudecken, die [von Personen] im öffentlichen Dienst begangen worden sind, wenn diese Straftaten mit Korruption in Zusammenhang stehen.“

    Vorgeschichte des Rechtsstreits

    13

    Durch einen Beschluss des lettischen Parlaments vom 31. Oktober 2013 wurde Herr Rimšēvičs für eine Amtszeit von sechs Jahren, die am 21. Dezember 2013 begann und deren Ende auf den 21. Dezember 2019 bestimmt war, zum Präsidenten der Zentralbank Lettlands ernannt.

    14

    Am 17. Februar 2018 wurde Herr Rimšēvičs festgenommen, nachdem das KNAB am 15. Februar desselben Jahres ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet hatte.

    15

    Den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben zufolge steht Herr Rimšēvičs im Verdacht, im Jahr 2013 in seiner Eigenschaft als Präsident der Zentralbank Lettlands ein Bestechungsgeschenk gefordert und angenommen zu haben, um im Interesse einer lettischen Privatbank Einfluss auszuüben.

    16

    Am 19. Februar 2018, dem Tag der Freilassung von Herrn Rimšēvičs, erließ das KNAB die streitige Entscheidung, mit der mehrere Zwangsmaßnahmen gegen ihn verhängt wurden, nämlich das Verbot, seine Entscheidungs‑, Kontroll- und Überwachungsfunktionen innerhalb der Zentralbank Lettlands wahrzunehmen, insbesondere, sein Amt als Präsident dieser Zentralbank auszuüben, die Verpflichtung zur Zahlung einer Kaution sowie das Verbot, sich bestimmten Personen zu nähern und das Land ohne vorherige Erlaubnis zu verlassen.

    17

    Am 27. Februar 2018 wies der Ermittlungsrichter der Rīgas rajona tiesa (Bezirksgericht Riga, Lettland) die Klage, die Herr Rimšēvičs am 23. Februar 2018 gegen zwei der vom KNAB verhängten Zwangsmaßnahmen erhoben hatte, nämlich das Verbot, sein Amt bei der Zentralbank Lettlands auszuüben, und das Verbot, das Land ohne Erlaubnis zu verlassen, zurück.

    18

    Am 28. Juni 2018 hat der zuständige Staatsanwalt gegen Herrn Rimšēvičs Anklage erhoben wegen

    der Entgegennahme eines Bestechungsgeschenks als Gratifikation in Form einer kostenlosen Reise,

    der Annahme eines Bestechungsgeldangebots in Höhe von 500000 Euro und

    der Annahme eines Bestechungsgelds in Höhe von 250000 Euro.

    Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof

    19

    Mit seiner Klage in der Rechtssache C‑202/18 beantragt Herr Rimšēvičs,

    festzustellen, dass er durch die streitige Entscheidung rechtswidrig aus seinem Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands entlassen wurde;

    die Rechtswidrigkeit der Zwangsmaßnahme, bestehend in dem ihm mit der streitigen Entscheidung auferlegten Verbot, die Aufgaben und Befugnisse des Präsidenten der Zentralbank Lettlands wahrzunehmen, festzustellen,

    festzustellen, dass ihm die Beschränkungen der Wahrnehmung der Aufgaben und Befugnisse eines Mitglieds des EZB-Rats, die sich aus der streitigen Entscheidung ergeben, rechtswidrig auferlegt worden sind.

    20

    Mit ihrer Klage in der Rechtssache C‑238/18 beantragt die EZB,

    der Republik Lettland aufzugeben, gemäß Art. 24 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 62 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs alle sachdienlichen Informationen zu den laufenden Untersuchungen des KNAB gegen Herrn Rimšēvičs, den Präsidenten der Zentralbank Lettlands, beizubringen;

    gemäß Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB festzustellen, dass die Republik Lettland gegen Abs. 2 dieser Vorschrift verstoßen hat,

    indem sie den Inhaber des Amtes des Präsidenten der Zentralbank Lettlands ohne eine strafrechtliche Verurteilung durch ein unabhängiges Gericht aus seinem Amt entlassen hat und

    da, falls die von der Republik Lettland vorgelegten Beweise dies bestätigen, keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, die es rechtfertigten, Herrn Rimšēvičs im vorliegenden Fall aus seinem Amt zu entlassen;

    der Republik Lettland die Kosten aufzuerlegen.

    21

    Die Republik Lettland beantragt, beide Klagen abzuweisen.

    22

    Mit gesondertem Schriftsatz, der am 3. April 2018 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, d. h. am selben Tag wie ihre Klageschrift, hat die EZB beantragt, die Rechtssache C‑238/18 gemäß Art. 53 Abs. 4 und Art. 133 der Verfahrensordnung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Mit Beschluss vom 12. Juni 2018, EZB/Lettland (C‑238/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:488), hat der Präsident des Gerichtshofs diesem Antrag stattgegeben.

    23

    Mit Beschluss vom selben Tag, Rimšēvičs/Lettland (C‑202/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:489), hat der Präsident des Gerichtshofs gemäß Art. 133 Abs. 3 der Verfahrensordnung, nachdem er Herrn Rimšēvičs und die Republik Lettland aufgefordert hatte, hierzu Stellung zu nehmen, von Amts wegen entschieden, auch die Rechtssache C‑202/18 dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

    24

    Mit Schriftsatz, der ebenfalls am 3. April 2018 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die EZB außerdem gemäß Art. 279 AEUV und Art. 160 der Verfahrensordnung den Erlass einstweiliger Anordnungen dahin beantragt, der Republik Lettland aufzugeben, das Herrn Rimšēvičs auferlegte Verbot, sein Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands auszuüben, einstweilig auszusetzen, um es ihm zu ermöglichen, in seiner Eigenschaft als Mitglied des EZB-Rats die Aufgaben wahrnehmen, die nicht mit dem Gegenstand der strafrechtlichen Ermittlungen in Zusammenhang stünden, oder es Herrn Rimšēvičs zumindest zu gestatten, einen Stellvertreter als Mitglied des EZB-Rats zu benennen.

    25

    Mit Beschluss vom 20. Juli 2018, EZB/Lettland (C‑238/18 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:581), hat der Vizepräsident des Gerichtshofs der Republik Lettland aufgegeben, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um bis zur Verkündung des die Rechtssache C‑238/18 abschließenden Urteils die vom KNAB am 19. Februar 2018 gegen Herrn Rimšēvičs erlassenen Zwangsmaßnahmen auszusetzen, soweit diese Maßnahmen diesen daran hindern, einen Stellvertreter zu benennen, um ihn als Mitglied des EZB-Rats zu ersetzen, und hat den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz im Übrigen zurückgewiesen.

    26

    In der gemeinsamen mündlichen Verhandlung in den beiden Rechtssachen, die am 25. September 2018 stattgefunden hat, hat der Präsident des Gerichtshofs die Vertreter der Republik Lettland aufgefordert, dem Gerichtshof innerhalb einer Frist von acht Tagen die Unterlagen zu übermitteln, die die vom KNAB am 19. Februar 2018 gegen Herrn Rimšēvičs verhängten Zwangsmaßnahmen rechtfertigen.

    27

    Mit Schreiben, das am 2. Oktober 2018 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden ist, hat die Republik Lettland 44 Beweisstücke vorgelegt.

    28

    In ihren jeweiligen Stellungnahmen zu diesen Beweisstücken waren Herr Rimšēvičs und die EZB übereinstimmend im Wesentlichen der Auffassung, dass die Republik Lettland weder einen Beweis für die Schuld von Herrn Rimšēvičs noch einen Beweis für die Begründetheit der gegen ihn verhängten Zwangsmaßnahmen beigebracht habe.

    29

    Da die beiden Rechtssachen C‑202/18 und C‑238/18 zwei Klagen gegen die streitige Entscheidung betreffen, beschließt der Gerichtshof nach Anhörung der Parteien, diese Rechtssachen gemäß Art. 54 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.

    Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

    Vorbringen der Parteien

    30

    Die Republik Lettland wendet ein, dass der Gerichtshof für die von Herrn Rimšēvičs und der EZB erhobenen Klagen nicht zuständig sei.

    In der Rechtssache C‑202/18

    31

    Nach Ansicht der Republik Lettland möchte Herr Rimšēvičs erreichen, dass der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen prüft, die die mit den Ermittlungen betraute Behörde gemäß der lettischen Strafprozessordnung getroffen habe. Er ersuche den Gerichtshof, sich in den Ablauf eines Strafverfahrens einzumischen, was erhebliche Auswirkungen auf die Ermittlungen sowie darauf haben könne, den Schuldigen gemäß den lettischen Rechtsvorschriften vor Gericht zu stellen. Nach Auffassung der Republik Lettland gehen die Anträge über die Zuständigkeit des Gerichtshofs hinaus. Gäbe der Gerichtshof diesen Anträgen statt, handelte er im Widerspruch zu Art. 276 AEUV.

    32

    Herr Rimšēvičs ist hingegen der Auffassung, dass das ihm auferlegte Verbot der Ausübung seines Amtes als Präsident der Zentralbank Lettlands auf unbestimmte Zeit als eine Entlassung aus dem Amt anzusehen sei, bezüglich deren der Gerichtshof gemäß Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB zuständig sei.

    In der Rechtssache C‑238/18

    33

    Die Republik Lettland ist der Auffassung, dass die einzige Entscheidung, gegen die gemäß Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB Klage erhoben werden könne, diejenige sei, mit der die rechtliche und institutionelle Verbindung zwischen dem Präsidenten einer nationalen Zentralbank und diesem Organ beendet werde, nicht aber jede Entscheidung, mit der diesem Präsidenten Verpflichtungen auferlegt würden. Sie führt aus, dass für die Einstufung der Entscheidung über die Beendigung einer solchen rechtlichen Verbindung nicht zwischen den Begriffen „Entlassung aus dem Amt“ im Sinne der genannten Vorschrift und „Amtsenthebung“ gemäß den Art. 246, 247 und 286 AEUV, Art. 11.4 der Satzung des ESZB und der EZB sowie Art. 26 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank (ABl. 2013, L 287, S. 63) unterschieden werden müsse, da beide Begriffe hinsichtlich ihrer Auswirkungen gleichwertig seien. Die Republik Lettland weist ferner darauf hin, dass die in der lettischen Sprachfassung dieser Bestimmungen verwendeten Begriffe austauschbar seien.

    34

    Mit der streitigen Entscheidung werde aber nicht der Zweck verfolgt, die rechtliche und institutionelle Verbindung zwischen der Zentralbank Lettlands und ihrem Präsidenten zu beenden, sondern lediglich, die effiziente Durchführung der ihn betreffenden Ermittlungen zu gewährleisten.

    35

    Erstens sei diese Maßnahme vorläufiger Art und könne jederzeit geändert oder zurückgenommen werden. Art. 389 Abs. 1 Nr. 4 der lettischen Strafprozessordnung sehe nämlich vor, dass bei einer besonders schweren Straftat wie derjenigen, deren der Betroffene verdächtigt werde, das gegen ihn eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren innerhalb von 22 Monaten nach seiner Einbeziehung in dieses Verfahren abzuschließen sei bzw. alle Zwangsmaßnahmen innerhalb der genannten Frist aufzuheben seien. Ferner gehe aus Art. 249 Abs. 1 der lettischen Strafprozessordnung hervor, dass, falls eine prozessuale Zwangsmaßnahme, die in Bezug auf eine Person erlassen worden sei, gegenstandslos werde oder sich das Verhalten der Person oder die Umstände geändert hätten, die für die Wahl der Zwangsmaßnahme entscheidend gewesen seien, diese Maßnahme aufzuheben sei.

    36

    Zweitens sei allein das lettische Parlament gemäß Art. 22 des Gesetzes über die Zentralbank Lettlands befugt, den Präsidenten dieser Zentralbank aus seinem Amt zu entlassen, jedoch habe dieses Organ eine solche Entscheidung nicht getroffen.

    37

    Des Weiteren verstoße die Auslegung, wonach eine Entscheidung wie die streitige Entscheidung in den Anwendungsbereich von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB falle, gegen Art. 276 AEUV. Der Zweck von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB bestehe nicht darin, es dem Gerichtshof zu ermöglichen, in den Ablauf eines laufenden Strafverfahrens einzugreifen, sondern darin, zu gewährleisten, dass ein Präsident einer nationalen Zentralbank nicht vorschriftswidrig von nationalen Behörden aus seinem Amt entlassen werde. Würde dem Antrag der EZB stattgegeben, so wäre der Gerichtshof verpflichtet, den Sachverhalt und die Beweise, die im Rahmen des laufenden Strafverfahrens in Lettland ermittelt bzw. erhoben worden seien und die die Auferlegung von Zwangsmaßnahmen gegenüber Herrn Rimšēvičs gerechtfertigt hätten, nochmals zu prüfen, und damit in die Befugnisse der nationalen Behörden einzugreifen.

    38

    Die Unabhängigkeit der Leitung der Zentralbank Lettlands sei gemäß Art. 7 der Satzung des ESZB und der EZB auch durch Art. 13 des Gesetzes über die Zentralbank Lettlands garantiert. Diese Unabhängigkeit bei der Erfüllung der Aufgaben der Zentralbank Lettlands verleihe dem Präsidenten dieser Zentralbank keine strafrechtliche Immunität und erlege den lettischen Strafverfolgungsbehörden keine Beschränkungen auf. Um die Unabhängigkeit und die Stabilität der Zentralbank Lettlands zu gewährleisten, sei dem Präsidenten von Gesetzes wegen ein Vizepräsident beigeordnet, für den das Verfahren zu seiner Ernennung durch das Parlament dieselben Garantien biete wie für den Präsidenten der Zentralbank und der die Aufgaben des Präsidenten der Zentralbank wahrnehme, wenn der Präsident abwesend oder aus seinem Amt entlassen worden sei oder wenn dessen Amtszeit beendet sei. Nach Ansicht der Republik Lettland ist der Vizepräsident daher in einem solchen Fall als „Präsident“ im Sinne von Art. 283 Abs. 1 AEUV und Art. 10.1 der Satzung des ESZB und der EZB einzustufen, und ihm sei infolgedessen das Recht zuzuerkennen, den Sitz im EZB-Rat wahrzunehmen.

    39

    Im Übrigen fielen die in der Akte zu dieser Sache enthaltenen Angaben gemäß Art. 375 Abs. 1 der lettischen Strafprozessordnung unter das Ermittlungsgeheimnis und könnten daher nicht an außerhalb des Strafverfahrens stehende Dritte weitergegeben werden. Der Gerichtshof müsse folglich auch den Antrag der EZB, der darauf gerichtet sei, der Republik Lettland aufzugeben, alle sachdienlichen Informationen zu den Herrn Rimšēvičs betreffenden Ermittlungen des KNAB beizubringen, zurückweisen.

    40

    Die EZB vertritt hingegen die Auffassung, dass ihre Klage nicht vom Anwendungsbereich des Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB ausgeschlossen sein könne.

    41

    Sie betont insoweit die Bedeutung des in Art. 130 AEUV verankerten Grundsatzes der Unabhängigkeit des ESZB und der EZB, der es der EZB ermöglichen solle, die ihr durch den AEU-Vertrag übertragenen Aufgaben frei von politischem Druck zu erfüllen. Dieser Grundsatz werde aber mit Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB umgesetzt, indem darin die Voraussetzungen konkretisiert seien, unter denen ein Präsident einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt entlassen werden könne, und indem diese Bestimmung die Überprüfung einer solchen Maßnahme durch den Gerichtshof ermögliche.

    42

    In Anbetracht des Zwecks der letztgenannten Bestimmung müsse ein Verbot der Ausübung jeglicher mit dem Amt des Präsidenten einer nationalen Zentralbank verbundenen Funktionen, selbst wenn es die rechtliche und institutionelle Verbindung zu dieser Zentralbank nicht formal beende, als einer Entlassung aus dem Amt im Sinne von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB entsprechend angesehen werden. Folgte man der gegenteiligen Auslegung, stünde es den Mitgliedstaaten frei, die in dieser Vorschrift vorgesehene Unabhängigkeitsgarantie zu umgehen, indem sie derartige Maßnahmen erließen. Gleichermaßen sei die Unabhängigkeit des Präsidenten durch ein an ihn gerichtetes vorläufiges Verbot, sein Amt auszuüben, gefährdet, und zwar erst recht, wenn wie im vorliegenden Fall der Zeitpunkt der Beendigung dieses Verbots unbekannt sei und möglicherweise erst nach Ablauf der Amtszeit des Präsidenten eintrete.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    43

    Die Republik Lettland macht als Erstes geltend, dass der Präsident der Zentralbank Lettlands durch die streitige Entscheidung, die vorläufiger Natur sei, nicht „aus seinem Amt entlassen“ worden sei. Die einzigen Entscheidungen, die Gegenstand der in Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB vorgesehenen Klage sein könnten, seien diejenigen, die die rechtliche und institutionelle Verbindung zwischen dem Präsidenten einer nationalen Zentralbank und dieser Bank endgültig beendeten.

    44

    Insoweit lässt zwar, wie die Generalanwältin in Nr. 78 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, der Wortlaut, der in Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB für die Festlegung des Gegenstands der nach dieser Bestimmung vorgesehenen Klage verwendet wird, in der lettischen Sprachfassung und in mehreren anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung an eine endgültige Trennung der Verbindung zwischen der nationalen Zentralbank und ihrem Präsidenten denken.

    45

    Jedoch ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257‚ Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    46

    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Verfasser des EG-Vertrags und später des AEU-Vertrags gewährleisten wollten, dass die EZB und das ESZB in der Lage sind, die ihnen übertragenen Aufgaben unabhängig zu erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2003, Kommission/EZB, C‑11/00, EU:C:2003:395‚ Rn. 130).

    47

    Dieser Wille kommt hauptsächlich in Art. 130 AEUV zum Ausdruck, der im Wesentlichen in Art. 7 der Satzung des ESZB und der EZB wiedergegeben ist und zum einen der EZB, den nationalen Zentralbanken und den Mitgliedern ihrer Beschlussorgane ausdrücklich untersagt, Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einzuholen oder entgegenzunehmen, und zum anderen diesen Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten, zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2003, Kommission/EZB, C‑11/00, EU:C:2003:395‚ Rn. 131). So sollen diese Bestimmungen das ESZB im Wesentlichen vor jedem politischen Druck schützen, damit es die für seine Aufgaben gesetzten Ziele durch die unabhängige Ausübung der spezifischen Befugnisse, über die es zu diesen Zwecken nach dem Primärrecht verfügt, wirksam verfolgen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    48

    Um die funktionale Unabhängigkeit der Präsidenten der nationalen Zentralbanken zu gewährleisten, die gemäß Art. 282 Abs. 1 AEUV zusammen mit der EZB das ESZB bilden, legt Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB die Mindestdauer ihrer Amtszeit auf fünf Jahre fest, sieht vor, dass sie nur dann aus ihrem Amt entlassen werden können, wenn sie die Voraussetzungen für die Ausübung ihres Amtes nicht mehr erfüllen oder eine schwere Verfehlung begangen haben, und eröffnet dem betreffenden Präsidenten und dem EZB-Rat gegen eine solche Maßnahme den Rechtsweg zum Gerichtshof.

    49

    Indem die Mitgliedstaaten dem Gerichtshof unmittelbar die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses, den Präsidenten einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt zu entlassen, übertragen haben, haben sie die Bedeutung zum Ausdruck gebracht, die sie der Unabhängigkeit der Inhaber dieses Amtes beimessen.

    50

    Nach Art. 283 Abs. 1 AEUV und Art. 10.1 der Satzung des ESZB und der EZB sind die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, nämlich von Amts wegen Mitglieder des EZB-Rats, der gemäß Art. 12.1 dieser Satzung das wichtigste Beschlussorgan des Eurosystems und gemäß Art. 26 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1024/2013 das einzige Beschlussorgan der EZB im Rahmen des einheitlichen Aufsichtsmechanismus ist.

    51

    Könnte ohne Rechtfertigung beschlossen werden, die Präsidenten der nationalen Zentralbanken aus ihrem Amt zu entlassen, wäre deren Unabhängigkeit aber ernsthaft gefährdet und infolgedessen die Unabhängigkeit des EZB-Rats selbst.

    52

    Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass das einem Präsidenten einer nationalen Zentralbank vorläufig auferlegte Verbot, sein Amt auszuüben, ein Mittel darstellen kann, um Druck auf ihn auszuüben. Zum einen kann ein solches Verbot, wie die Umstände der vorliegenden Rechtssachen zeigen, für den betroffenen Präsidenten besonders schwerwiegend sein, wenn es nicht konkret befristet ist, wobei das Verbot im Übrigen während eines erheblichen Teils seiner Amtszeit gelten kann. Zum anderen kann es aufgrund seiner vorläufigen Natur ein umso wirksameres Druckmittel darstellen, wenn es, wie die Republik Lettland in Bezug auf die streitige Entscheidung ausgeführt hat, jederzeit nicht nur entsprechend der Entwicklung der Ermittlungen, sondern auch entsprechend dem Verhalten des Präsidenten aufgehoben werden kann.

    53

    Zweitens ist festzustellen, dass es, wenn eine Maßnahme, mit der einem Präsidenten einer nationalen Zentralbank die Ausübung seines Amtes untersagt wird, jeglicher Kontrolle durch den Gerichtshof nach Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB entzogen wäre, sofern es sich um eine vorläufige Maßnahme handelte, für einen Mitgliedstaat ohne Weiteres möglich wäre, sich dieser Kontrolle dadurch zu entziehen, dass er aufeinanderfolgende einstweilige Maßnahmen erlässt, so dass, wie die Generalanwältin in Nr. 75 ihrer Schlussanträge betont hat, dieser Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit genommen werden könnte.

    54

    Im Übrigen ist ungewiss, ob die – grundsätzlich einstweilige – streitige Entscheidung nicht durch ihre Wirkungen endgültig sein könnte, da Art. 389 der lettischen Strafprozessordnung es nach eigenen Angaben der Republik Lettland gestattet, die im Rahmen eines Strafverfahrens erlassenen Maßnahmen und Beschränkungen während 22 Monaten aufrechtzuerhalten, also bis zum für Dezember 2019 vorgesehenen Ende der Amtszeit von Herrn Rimšēvičs.

    55

    Somit ergibt sich sowohl aus dem Willen der Verfasser des AEU-Vertrags als auch aus der allgemeinen Systematik der Satzung des ESZB und der EZB und dem Zweck selbst des Art. 14.2 Abs. 2 dieser Satzung, dass der Gerichtshof nach dieser Bestimmung für die Entscheidung über eine Klage gegen eine Maßnahme wie das in der streitigen Entscheidung enthaltene einstweilige Verbot der Ausübung des Amtes des Präsidenten der Zentralbank Lettlands zuständig ist.

    56

    Als Zweites macht die Republik Lettland geltend, dass der Gerichtshof nicht für die Entscheidung über eine Entscheidung zuständig sei, die ihrer Auffassung nach dazu bestimmt ist, die effiziente Durchführung des gegen die von dieser Entscheidung betroffenen Person eingeleiteten Strafverfahrens zu gewährleisten. Für die Beurteilung der Anhaltspunkte, die die Auferlegung von Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines Strafverfahrens rechtfertigten, seien daher allein die nationalen Behörden zuständig. Diese Anhaltspunkte fielen im Übrigen gemäß Art. 375 Abs. 1 der lettischen Strafprozessordnung unter das Ermittlungsgeheimnis und könnten folglich nicht an außerhalb des Strafverfahrens stehende Dritte weitergegeben werden. Art. 276 AEUV bestätige die Unzuständigkeit des Gerichtshofs, da er vorsehe, dass „[b]ei der Ausübung seiner Befugnisse im Rahmen der Bestimmungen des Dritten Teils Titel V Kapitel 4 und 5 [des AEU-Vertrags] über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts … der Gerichtshof der Europäischen Union nicht zuständig [ist] für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“.

    57

    Hierzu ist festzustellen, dass der Union auf dem Gebiet des Strafrechts von den Verfassern der Verträge zwar nur begrenzte Zuständigkeiten übertragen wurden, das Unionsrecht der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet aber nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gleichwohl Schranken setzt (Urteil vom 15. September 2011, Dickinger und Ömer, C‑347/09, EU:C:2011:582‚ Rn. 31). Diese Zuständigkeit der Mitgliedstaaten muss nämlich unter Wahrung nicht nur der durch das Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten wahrgenommen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, EU:C:1989:47‚ Rn. 19, und vom 19. Januar 1999, Calfa, C‑348/96, EU:C:1999:6‚ Rn. 17), sondern unter Wahrung des gesamten Unionsrechts, insbesondere des Primärrechts. Folglich können die Regeln des nationalen Strafverfahrens der Zuständigkeit, die dem Gerichtshof durch Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB übertragen ist, in all den Fällen nicht entgegenstehen, in denen diese Vorschrift anwendbar ist.

    58

    Ferner kann dem auf Art. 276 AEUV gestützten Vorbringen der Republik Lettland nicht gefolgt werden.

    59

    Diese Vorschrift schränkt nämlich die Zuständigkeit des Gerichtshofs nur bei der Ausübung seiner Befugnisse im Rahmen der Bestimmungen des Dritten Teils Titel V Kapitel 4 und 5 des AEU-Vertrags ein. Wie die Generalanwältin in Nr. 82 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, betrifft die vorliegende Rechtssache aber nicht diese Befugnisse, sondern diejenigen, die dem Gerichtshof unmittelbar und ausdrücklich aus Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB zustehen.

    60

    Als Drittes weist die Republik Lettland auf die – ihrer Ansicht nach nicht hinnehmbaren – Folgen einer Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs hin. Eine solche Zuständigkeit würde ihrer Ansicht nach dem Präsidenten der Zentralbank Lettlands strafrechtliche Immunität verleihen, die Zwangsmaßnahmen, die gegen ihn verhängt werden könnten, einschränken und sich erheblich auf den Ablauf des Strafverfahrens auswirken.

    61

    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB weder dem Präsidenten einer nationalen Zentralbank strafrechtliche Immunität verleiht, noch die Zwangsmaßnahmen einschränkt, die gegen ihn verhängt werden können. Diese Vorschrift verleiht lediglich Letzterem sowie dem EZB-Rat das Recht, jede Entscheidung, mit der ein solcher Präsident aus seinem Amt entlassen wird, vor dem Gerichtshof anzufechten. Das mögliche zeitliche Zusammentreffen der nach dieser Vorschrift vorgesehenen Klage und eines nationalen Strafverfahrens betrifft somit nur den Ausnahmefall, dass ein solches Verfahren dazu führt, dass gegen den Präsidenten einer nationalen Zentralbank eine einstweilige Maßnahme verhängt wird, die einer Entlassung aus dem Amt im Sinne dieser Vorschrift gleichgesetzt werden kann. Aber selbst bezüglich dieses Falles belegt keiner der von der Republik Lettland vorgebrachten Beweise, dass die in der Satzung des ESZB und der EZB vorgesehene Klage den normalen Ablauf der Ermittlungen behindern könnte.

    62

    Nach alledem ist die Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über die Klagen, die Herr Rimšēvičs und die EZB gemäß Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB gegen die streitige Entscheidung erhoben haben, zurückzuweisen.

    63

    Hinzuzufügen ist, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach dieser Bestimmung auf Klagen beschränkt ist, die gegen ein vorläufiges oder endgültiges Verbot der Ausübung des Amtes des Präsidenten einer nationalen Zentralbank gerichtet sind. Die streitige Entscheidung, mit der das KNAB mehrere Zwangsmaßnahmen erlassen hat, fällt nur insoweit in die Zuständigkeit des Gerichtshofs, als sie Herrn Rimšēvičs vorläufig untersagt, sein Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands auszuüben.

    Zu den Klagen

    Zur Art der Klagen

    64

    Der Gerichtshof ist von Herrn Rimšēvičs in seiner Eigenschaft als Präsident der Zentralbank Lettlands und von der EZB auf Beschluss des EZB-Rats gemäß Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB angerufen worden. Die Anträge in den beiden Klageschriften sind jedoch unterschiedlich formuliert. Herr Rimšēvičs beantragt im Wesentlichen, festzustellen, dass die im Namen der Republik Lettland ergangene streitige Entscheidung rechtswidrig sei, während die EZB den Gerichtshof ersucht, festzustellen, dass die Republik Lettland gegen Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB verstoßen habe. In der mündlichen Verhandlung zur Art der nach Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB vorgesehenen Klage befragt, hat die EZB klargestellt, dass sie den Erlass „eines Feststellungsurteils wie in Vertragsverletzungsverfahren“ beantrage.

    65

    Zunächst ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB keinen ausdrücklichen oder stillschweigenden Verweis auf das Verfahren der Feststellung einer Vertragsverletzung gemäß den Art. 258 bis 260 AEUV enthält.

    66

    Vielmehr folgt sowohl aus einer Auslegung nach dem Wortlaut als auch aus einer systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB, dass die nach dieser Vorschrift vorgesehene Klage als Nichtigkeitsklage einzustufen ist.

    67

    Was erstens den Wortlaut dieser Bestimmung anbelangt, ist festzustellen, dass die in Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB vorgesehene Klage wie die in Art. 263 AEUV vorgesehene Klage von einer Privatperson – hier dem aus seinem Amt entlassenen Zentralbankpräsidenten – gegen eine Entscheidung, deren Adressat diese Person ist, erhoben werden kann. Zudem muss jede dieser beiden Klagen innerhalb derselben Frist von zwei Monaten eingelegt werden, die gleichlautend in Art. 263 Abs. 6 AEUV und dem letzten Satz von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB festgelegt ist. Im Übrigen heißt es in den beiden Vorschriften gleichlautend, dass die Kläger Gründe geltend machen können, die auf eine „Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ gestützt werden.

    68

    Zweitens ergibt eine systematische Auslegung, dass die spezifische Regelung des Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB mit den Merkmalen einer Nichtigkeitsklage nicht unvereinbar ist.

    69

    Zwar stellt Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB, indem er dem Gerichtshof ausdrücklich die Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines nationalen Rechtsakts hinsichtlich einer „Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ überträgt, eine Ausnahme von der in den Verträgen und insbesondere in Art. 263 AEUV vorgesehenen allgemeinen Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den nationalen Gerichten und den Unionsgerichten dar, da sich eine auf die letztgenannte Vorschrift gestützte Klage nur auf Rechtsakte der Union beziehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1960, Humblet/Belgischer Staat, 6/60‑IMM, EU:C:1960:48). Diese Ausnahme erklärt sich jedoch durch den besonderen institutionellen Kontext des ESZB, in dem sie steht. Das ESZB stellt nämlich im Unionsrecht eine originäre Rechtsform dar, in der nationale Institutionen – die nationalen Zentralbanken – und ein Organ der Union – die EZB – vereint sind und eng zusammenarbeiten, und in der ein anderer Zusammenhang und eine weniger ausgeprägte Unterscheidung zwischen der Rechtsordnung der Union und den nationalen Rechtsordnungen vorherrschen.

    70

    Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB zieht aber die Konsequenzen aus diesem von den Verfassern der Verträge für das ESZB gewollten hochintegrierten System und insbesondere aus der funktionalen Doppelstellung des Präsidenten einer nationalen Zentralbank, der zwar nationale Behörde ist, aber im Rahmen des ESZB handelt und, wenn er Präsident einer nationalen Zentralbank eines Mitgliedstaats ist, dessen Währung der Euro ist, einen Sitz im wichtigsten Leitungsorgan der EZB hat. Aufgrund dieses hybriden Status und, wie in Rn. 48 des vorliegenden Urteils hervorgehoben worden ist, um die funktionale Unabhängigkeit der Präsidenten der nationalen Zentralbanken innerhalb des ESZB zu gewährleisten, kann ausnahmsweise eine Entscheidung einer nationalen Behörde, mit der einer dieser Präsidenten aus seinem Amt entlassen wird, dem Gerichtshof zur Überprüfung vorgelegt werden.

    71

    Dem in den Verträgen vorgesehenen Rechtsbehelfssystem wird somit durch Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB – wie sich aus der sehr geringen Zahl der Personen, denen er zusteht, dem alleinigen Gegenstand der Entscheidungen, gegen die er eingelegt werden kann, und den außergewöhnlichen Umständen, unter denen er eingelegt werden kann, ergibt – ein spezifischer Rechtsbehelf hinzugefügt.

    72

    Drittens gibt auch der Zweck, zu dem die in Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB vorgesehene Klage geschaffen wurde, Aufschluss über deren Art. Wie in den Rn. 49 ff. des vorliegenden Urteils ausgeführt, stellt diese Klage eine der Hauptgarantien dafür dar, dass die Präsidenten der nationalen Zentralbanken, obwohl sie von den Mitgliedstaaten ernannt und gegebenenfalls abberufen werden, die Aufgaben, die ihnen durch die Verträge übertragen werden, in völliger Unabhängigkeit wahrnehmen und gemäß Art. 130 AEUV sowie Art. 7 der Satzung des ESZB und der EZB keine Weisungen von den nationalen Behörden entgegennehmen. Sie ist somit ein wesentliches Element des institutionellen Gleichgewichts, das die enge Zusammenarbeit der nationalen Zentralbanken und der EZB innerhalb des ESZB erfordert.

    73

    Aufgrund der Bedeutung dieses Zwecks und der Nachteile jeglicher Verzögerung bei der Nichtigerklärung einer Entscheidung über die Entlassung eines Präsidenten einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt, die unter Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm beschlossen worden ist, haben die Verfasser der Verträge zugunsten der EZB und des betroffenen Präsidenten einen Rechtsweg zum Gerichtshof gegen einen solchen Rechtsakt geschaffen. Wie der Vizepräsident des Gerichtshofs in seiner Beurteilung der Voraussetzung der Dringlichkeit in dem im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangenen Beschluss vom 20. Juli 2018, EZB/Lettland (C‑238/18, EU:C:2018:581‚ Rn. 71 und 72), im Kern festgestellt hat, kann nämlich die länger andauernde Nichtteilnahme eines Mitglieds des EZB-Rats das ordnungsgemäße Funktionieren dieses wesentlichen Organs der EZB erheblich beeinträchtigen. Zudem kann die Entlassung eines Präsidenten einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt für den Betroffenen schwerwiegende und unmittelbare Folgen haben.

    74

    Allein die Nichtigkeitsklage, gegebenenfalls ergänzt durch einstweilige Anordnungen, die der Gerichtshof gemäß den Art. 278 und 279 AEUV erlassen kann, ermöglicht es, den Besorgnissen, die der Schaffung dieses Rechtswegs vorrangig zugrunde lagen, Rechnung zu tragen. Insbesondere würde dem Willen der Verfasser der Satzung des ESZB und der EZB nicht in angemessener Weise entsprochen, wenn ein gemäß Art. 14.2 Abs. 2 der genannten Satzung ergangenes Urteil Feststellungscharakter hätte und seine Wirkungen somit von seiner Durchführung durch die nationalen Behörden abhinge.

    75

    Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Europäische Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 14 der Satzung des ESZB und der EZB verstoßen habe, gemäß Art. 258 AEUV eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgeben kann und, wenn der betreffende Mitgliedstaat dieser Stellungnahme nicht nachkommt, beim Gerichtshof eine Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung erheben kann. Es kann daher nicht angenommen werden, dass die Verfasser des Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB mit der Schaffung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Klage lediglich ein paralleles Verfahren zu dem bereits in Art. 258 AEUV vorgesehenen Verfahren schaffen wollten.

    76

    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB vorgesehene Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung gerichtet ist, die erlassen worden ist, um einen Präsidenten einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt zu entlassen.

    77

    Folglich sind die von Herrn Rimšēvičs und der EZB erhobenen Klagen, da sie ausdrücklich auf der Grundlage von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB erhoben worden sind, als auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung gerichtet anzusehen.

    Zum Klagegrund der fehlenden Rechtfertigung der streitigen Entscheidung

    Vorbringen der Parteien

    78

    Herr Rimšēvičs macht geltend, dass die streitige Entscheidung nicht gerechtfertigt sei.

    79

    Erstens seien dieser Entscheidung weder angemessene Ermittlungen noch eine ausreichende Beweiserhebung vorangegangen. Das KNAB habe lediglich zwei Tage auf die am 15. Februar 2018 eingeleiteten Ermittlungen verwendet, bevor es am 17. Februar 2018 die Festnahme des Klägers beschlossen habe. Der Generalstaatsanwalt der Republik Lettland habe selbst am 21. Februar 2018 erklärt, dass es keine Anhaltspunkte gebe, die die eindeutige Feststellung erlaubten, dass eine Straftat begangen worden sei.

    80

    Zweitens sei es wenig wahrscheinlich, dass der Präsident der Zentralbank Lettlands die Straftat begangen habe, deren er verdächtigt werde, nämlich eine passive Bestechung zugunsten einer lettischen Privatbank, die ihre Geschäftstätigkeit 2016 eingestellt habe und deren Abwicklung eingeleitet worden sei. Er verfüge nämlich nicht über die Befugnisse, die es ihm ermöglichen würden, die Geschäftstätigkeit einer Privatbank in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Zudem würden alle Entscheidungen der Zentralbank Lettlands als Kollegialentscheidungen getroffen. Die Aufsicht über die lettischen Privatbanken falle nicht in die Zuständigkeit der Zentralbank Lettlands, sondern gemäß Art. 2 Abs. 1 des Finanšu un kapitāla tirgus komisijas likums (Gesetz über die Finanz- und Kapitalmarktkommission) in die Zuständigkeit der Finanz- und Kapitalmarktkommission.

    81

    Drittens sei die Quelle der Informationen, die den Ermittlungen zugrunde lägen, nicht glaubwürdig. Nach den dem Kläger vom KNAB übermittelten Informationen handle es sich bei der Person, die die im Jahr 2013 angeblich begangene Straftat angezeigt habe, um ein ehemaliges Mitglied des Vorstands der lettischen Privatbank, zu deren Gunsten die Bestechung begangen worden sein soll. Letzterer sei im Jahr 2016 wegen Geldwäsche festgenommen worden und habe die Einstellung der gegen ihn eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen im Gegenzug zur Anzeige des Herrn Rimšēvičs zur Last gelegten Bestechungssachverhalts erreicht.

    82

    Viertens macht Herr Rimšēvičs geltend, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe unpräzise seien. Das KNAB habe mitgeteilt, dass er mit dem Ziel bestochen worden sei, zu verhindern, dass er die Geschäftstätigkeit dieser lettischen Privatbank behindere. Der Präsident der Zentralbank Lettlands verfüge jedoch gar nicht über die Befugnis dazu. Er führt aus, dass ihm äußerst unpräzise eine negative Handlung (ein Unterlassen) vorgeworfen werde, da die Person, die diesen angeblichen Sachverhalt gemeldet habe, nicht in der Lage gewesen sei, eine positive Handlung zu benennen. Zudem weist er darauf hin, dass die EZB auf Empfehlung der Finanz- und Kapitalmarktkommission im Jahr 2016 der betreffenden lettischen Privatbank die Lizenz entzogen habe, was daran zweifeln lasse, dass der Kläger die Fortführung der Geschäftstätigkeit dieser Privatbank begünstigt habe.

    83

    Die EZB macht geltend, dass der Gerichtshof den Begriff der schweren Verfehlung im Sinne von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB, die es rechtfertigen könne, dass ein Präsident einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt entlassen werde, und die Art und Weise, in der der Beweis dafür zu erbringen sei, auslegen müsse.

    84

    Der Mitgliedstaat, der eine Maßnahme gemäß Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB erlasse, trage die Beweislast dafür, dass die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllt seien. Insoweit müssten diese Voraussetzungen von einem unabhängigen Gericht und nicht von einer staatlichen Agentur, der Staatsanwaltschaft oder einem Ermittlungsrichter, der über die Maßnahmen entscheide, festgestellt werden. Mit diesem Erfordernis könnten die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren und die Unschuldsvermutung, die einen wesentlichen Grundsatz des europäischen Justizsystems darstelle, gewährleistet werden. Die EZB habe damit die Gewähr, dass die Gründe, aus denen ein Präsident einer Zentralbank aus seinem Amt entlassen worden sei, untermauert seien. Es sei nicht erforderlich, dass die Entscheidung des Gerichts rechtskräftig sei, damit die Entscheidung über die Entlassung eines Präsidenten einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt erforderlichenfalls innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt werden könne.

    85

    Indes sei einzuräumen, dass ein Präsident einer Zentralbank eines Mitgliedstaats, dessen Währung der Euro ist, unter außergewöhnlichen Umständen noch vor seiner strafgerichtlichen Verurteilung aus dem Amt entlassen werden könne. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die Maßnahme auf der Grundlage eindeutiger oder unstreitiger Beweise erlassen werde.

    86

    Die EZB betont, dass im vorliegenden Fall das KNAB den Präsidenten der Zentralbank Lettlands vor seiner gerichtlichen Verurteilung wegen des ihm zur Last gelegten Sachverhalts aus seinem Amt entlassen habe, und sie derzeit über keinerlei Informationen verfüge, anhand deren sie feststellen könnte, ob außergewöhnliche Umstände vorlägen, die diese Maßnahme rechtfertigen könnten. Sie stellt klar, dass sie bereit sei, auf ihr Recht auf Einsicht in die Akten der Rechtssache zu verzichten, sollten die strafrechtlichen Ermittlungen eine vertrauliche Behandlung der dem Gerichtshof übermittelten Informationen erfordern.

    87

    Die Republik Lettland macht in beiden Rechtssachen geltend, dass der Inhalt der Strafakte von Herrn Rimšēvičs gemäß Art. 375 Abs. 1 der Strafprozessordnung unter das Ermittlungsgeheimnis falle.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    88

    Aus Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB geht ausdrücklich hervor, dass der betroffene Präsident oder der EZB-Rat zur Stützung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Klage eine „Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ geltend machen kann. Dieser Ausdruck bezieht sich in erster Linie auf eine Verletzung der Voraussetzungen, an die die genannte Vorschrift die Entlassung eines Präsidenten einer nationalen Zentralbank aus seinem Amt knüpft.

    89

    Die genannte Bestimmung sieht insoweit vor, dass der Präsident einer nationalen Zentralbank nur in zwei Fällen aus seinem Amt entlassen werden kann, nämlich wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder wenn er eine schwere Verfehlung begangen hat.

    90

    Im vorliegenden Fall wird das Herrn Rimšēvičs auferlegte Verbot, sein Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands auszuüben, mit dem Erfordernis strafrechtlicher Ermittlungen wegen angeblicher Machenschaften begründet, die als strafbar eingestuft werden und, sollten sie sich bestätigen, eine „schwere Verfehlung“ im Sinne von Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB darstellen würden.

    91

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wenn er mit einer Klage nach Art. 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB befasst ist, nicht befugt ist, an die Stelle der nationalen Gerichte zu treten, die für die Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des beschuldigten Präsidenten zuständig sind, oder gar, in die strafrechtlichen Ermittlungen einzugreifen, die die zuständigen Verwaltungs- oder Justizbehörden nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats gegen diesen Präsidenten führen. Für die Zwecke solcher Ermittlungen und insbesondere, um zu verhindern, dass der betroffene Präsident diese behindert, kann es erforderlich sein, zu beschließen, ihn vorläufig seines Amtes zu entheben.

    92

    Hingegen hat der Gerichtshof im Rahmen der ihm gemäß Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB übertragenen Zuständigkeiten zu überprüfen, dass ein dem betreffenden Präsidenten auferlegtes einstweiliges Verbot, sein Amt auszuüben, nur dann erlassen wird, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er eine schwere Verfehlung begangen hat, die eine solche Maßnahme rechtfertigen kann.

    93

    Im vorliegenden Fall macht der Betroffene vor dem Gerichtshof geltend, dass er keine der ihm zur Last gelegten Verfehlungen begangen habe. Wie die EZB ist er der Auffassung, dass die Republik Lettland nicht den geringsten Beweis für diese angeblichen Verfehlungen vorbringe. Tatsächlich hat die Republik Lettland im schriftlichen Verfahren vor dem Gerichtshof keinerlei Anfangsbeweis für die Bestechungsvorwürfe vorgebracht, die der Einleitung der Ermittlungen und dem Erlass der streitigen Entscheidung zugrunde lagen.

    94

    In der mündlichen Verhandlung hat der Präsident des Gerichtshofs die Vertreter der Republik Lettland aufgefordert – und diese haben sich dazu verpflichtet –, dem Gerichtshof kurzfristig die die streitige Entscheidung rechtfertigenden Dokumente zu übermitteln. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 125 bis 130 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, enthält jedoch keines der Dokumente, die die Republik Lettland nach der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, Beweise, die belegen könnten, dass hinreichende Anhaltspunkte für die Begründetheit der gegen den Betroffenen erhobenen Anschuldigungen vorliegen.

    95

    Mit Schreiben, das am 8. Januar 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Republik Lettland angeboten, „innerhalb angemessener Frist“ weitere Dokumente zu übermitteln, ohne die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beantragen, das gemäß Art. 82 Abs. 2 der Verfahrensordnung nach Stellung der Schlussanträge der Generalanwältin für abgeschlossen erklärt worden ist. Mit einem zweiten Schreiben vom 30. Januar 2019 hat die Republik Lettland ihr Beweisangebot erneuert und die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Dieses Beweisangebot, das dem Gerichtshof während der Beratung zugegangen ist, ist jedoch nicht mit einer Begründung versehen, die die Verspätung der Vorlage dieser Dokumente erklären würde, wie dies nach Art. 128 Abs. 2 der Verfahrensordnung erforderlich ist. Die Entwicklung der strafrechtlichen Ermittlungen, wie sie von der lettischen Regierung beschrieben worden ist, ist insoweit nämlich nicht relevant. Ferner enthält dieses Beweisangebot keinerlei konkrete, spezifische Angaben zum Inhalt der Dokumente, deren Übermittlung angeboten wird. Unter diesen Umständen und in Anbetracht des beschleunigten Charakters der Verfahren sind das Beweisangebot und der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zurückzuweisen.

    96

    Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Republik Lettland nicht nachgewiesen hat, dass die Entlassung von Herrn Rimšēvičs aus seinem Amt auf das Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte dafür gestützt ist, dass er eine schwere Verfehlung im Sinne von Art. 14.2 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB begangen hat, und gibt somit dem Klagegrund, mit dem gerügt wird, dass diese Entscheidung nicht gerechtfertigt sei, statt. Die übrigen Klagegründe brauchen folglich nicht geprüft zu werden.

    97

    Aus dem Vorstehenden folgt, dass die streitige Entscheidung für nichtig zu erklären ist, soweit damit Herrn Rimšēvičs untersagt wird, sein Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands auszuüben.

    Kosten

    98

    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Lettland unterlegen ist, sind ihr neben ihren eigenen Kosten die Kosten der EZB gemäß deren Antrag aufzuerlegen.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

     

    1.

    Die Rechtssachen C‑202/18 und C‑238/18 werden zu gemeinsamem Urteil verbunden.

     

    2.

    Die Entscheidung des Korupcijas novēršanas un apkarošanas birojs (Büro zur Verhütung und Bekämpfung der Korruption, Lettland) vom 19. Februar 2018 wird für nichtig erklärt, soweit damit Herrn Rimšēvičs untersagt wird, sein Amt als Präsident der Zentralbank Lettlands auszuüben.

     

    3.

    Die Republik Lettland trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Zentralbank (EZB).

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.

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