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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62017CC0469

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Szpunar vom 25. Oktober 2018.
    Funke Medien NRW GmbH gegen Bundesrepublik Deutschland.
    Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinie 2001/29/EG – Informationsgesellschaft – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte – Art. 2 Buchst. a – Vervielfältigungsrecht – Art. 3 Abs. 1 – Öffentliche Wiedergabe – Art. 5 Abs. 2 und 3 – Ausnahmen und Beschränkungen – Reichweite – Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
    Rechtssache C-469/17.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2018:870

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MACIEJ SZPUNAR

    vom 25. Oktober 2018 ( 1 )

    Rechtssache C‑469/17

    Funke Medien NRW GmbH

    gegen

    Bundesrepublik Deutschland

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Vervielfältigungsrecht – Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände – Ausnahmen und Beschränkungen – Modalitäten der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten – Beurteilung anhand der Grundrechte – Erschöpfender Charakter“

    Einleitung

    1.

    „Im Westen nichts Neues“ hieß es in dem wohl bekanntesten militärischen Lagebericht der Literaturgeschichte. Dieser Satz stammt aus dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque ( 2 ) und war selbstverständlich, wie das gesamte Werk, urheberrechtlich geschützt. Die vorliegende Rechtssache stellt den Gerichtshof vor eine komplexere Frage: Kann ein – ganz realer, nicht fiktiver – militärischer Lagebericht ebenso wie andere literarische Werke in den Genuss des unionsrechtlich harmonisierten Urheberrechtsschutzes kommen?

    2.

    Diese Frage wirft zwei Probleme auf. Erstens: Erfüllt ein solcher Bericht die (sich schon aus der Natur des Urheberrechts, aber auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden) Anforderungen, die ein Text erfüllen muss, um als urheberrechtlich schutzfähiges Werk eingestuft werden zu können? Zweitens: Gibt es andere Faktoren – wie die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) geschützte Freiheit der Meinungsäußerung –, die zu berücksichtigen sind, um diesen Schutz abzuschwächen oder sogar zu beseitigen? Die Beantwortung dieser beiden Fragen erscheint mir unerlässlich, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3.

    Art. 2 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ( 3 ) bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten:

    a)

    für die Urheber in Bezug auf ihre Werke,

    …“

    4.

    Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.“

    5.

    Art. 5 Abs. 3 Buchst. c und d der Richtlinie sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf die in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Rechte vorsehen:

    c)

    für die Vervielfältigung durch die Presse, die öffentliche Wiedergabe oder die Zugänglichmachung von veröffentlichten Artikeln zu Tagesfragen wirtschaftlicher, politischer oder religiöser Natur oder von gesendeten Werken oder sonstigen Schutzgegenständen dieser Art, sofern eine solche Nutzung nicht ausdrücklich vorbehalten ist und sofern die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird, oder die Nutzung von Werken oder sonstigen Schutzgegenständen in Verbindung mit der Berichterstattung über Tagesereignisse, soweit es der Informationszweck rechtfertigt und sofern – außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist – die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird;

    d)

    für Zitate zu Zwecken wie Kritik oder Rezensionen, sofern sie ein Werk oder einen sonstigen Schutzgegenstand betreffen, das bzw. der der Öffentlichkeit bereits rechtmäßig zugänglich gemacht wurde, sofern – außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist – die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird und sofern die Nutzung den anständigen Gepflogenheiten entspricht und in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist;

    …“

    Deutsches Recht

    6.

    Die Richtlinie 2001/29 wurde durch das Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965 (im Folgenden: UrhG) in deutsches Recht umgesetzt. In § 2 dieses Gesetzes werden die Kategorien geschützter Werke aufgezählt. § 2 Abs. 2 bestimmt:

    „Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen.“

    7.

    In Bezug auf den Schutz amtlicher Texte bestimmt § 5 UrhG:

    „(1)   Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen sowie Entscheidungen und amtlich verfasste Leitsätze zu Entscheidungen genießen keinen urheberrechtlichen Schutz.

    (2)   Das Gleiche gilt für andere amtliche Werke, die im amtlichen Interesse zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht worden sind, mit der Einschränkung, dass die Bestimmungen über Änderungsverbot und Quellenangabe in § 62 Abs. 1 bis 3 und § 63 Abs. 1 und 2 entsprechend anzuwenden sind.

    …“

    8.

    Das Vervielfältigungsrecht und das Recht der öffentlichen Wiedergabe werden in § 15 Abs. 1 und 2 UrhG geschützt. In den § 50 und 51 UrhG sind Ausnahmen für die Berichterstattung über Tagesereignisse bzw. Zitate geregelt.

    Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

    9.

    Die Revisionsbeklagte, die Bundesrepublik Deutschland, lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Entwicklungen im Einsatzgebiet erstellen. Diese Berichte werden unter der Bezeichnung „Unterrichtung des Parlaments“ (im Folgenden: UdP) an ausgewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestags, an Referate im Bundesministerium der Verteidigung und in anderen Bundesministerien sowie an bestimmte dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordnete Dienststellen übersandt. Die UdP sind als Verschlusssachen der niedrigsten Geheimhaltungsstufe „VS-Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Daneben veröffentlicht die Revisionsbeklagte gekürzte Fassungen der UdP als „Unterrichtung der Öffentlichkeit“ (UdÖ).

    10.

    Die Revisionsklägerin, die Funke Medien NRW GmbH (im Folgenden: Funke Medien), eine Gesellschaft deutschen Rechts, betreibt das Internetportal der Tageszeitung Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Am 27. September 2012 beantragte sie den Zugang zu sämtlichen UdP aus der Zeit vom 1. September 2001 bis zum 26. September 2012. Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass das Bekanntwerden der Informationen nachteilige Auswirkungen auf sicherheitsempfindliche Belange der Bundeswehr haben könnte. Die Revisionsklägerin gelangte jedoch auf unbekanntem Weg an einen Großteil der UdP und veröffentlichte einige von ihnen unter der Bezeichnung „Afghanistan-Papiere“.

    11.

    Die Bundesrepublik Deutschland war der Ansicht, Funke Medien habe ihr Urheberrecht an diesen Berichten verletzt, und nahm sie auf Unterlassung in Anspruch. Das Landgericht (Deutschland) verurteilte Funke Medien antragsgemäß. Die Berufung von Funke Medien wurde vom Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt Funke Medien ihren Antrag auf Abweisung der Unterlassungsklage weiter.

    12.

    Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Lassen die Vorschriften des Unionsrechts zum ausschließlichen Recht der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29) ihrer Werke und den Ausnahmen oder Beschränkungen dieser Rechte (Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29) Umsetzungsspielräume im nationalen Recht?

    2.

    In welcher Weise sind bei der Bestimmung der Reichweite der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29) ihrer Werke die Grundrechte der Charta zu berücksichtigen?

    3.

    Können die Grundrechte der Informationsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 Satz 2 der Charta) oder der Pressefreiheit (Art. 11 Abs. 2 der Charta) Ausnahmen oder Beschränkungen des ausschließlichen Rechts der Urheber zur Vervielfältigung (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29) und zur öffentlichen Wiedergabe einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29) ihrer Werke außerhalb der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen rechtfertigen?

    13.

    Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 4. August 2017 beim Gerichtshof eingegangen. Funke Medien, die deutsche und die französische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie waren auch in der mündlichen Verhandlung am 3. Juli 2018 vertreten.

    Analyse

    Zulässigkeit der Vorlagefragen

    14.

    Im Ausgangsverfahren geht es darum, dass Funke Medien die UdP, also regelmäßige Informationsberichte über die Tätigkeit der Bundeswehr im Ausland, an denen die Bundesrepublik Deutschland ein Urheberrecht zu haben glaubt, öffentlich wiedergibt. Der genaue Inhalt dieser Dokumente ist uns nicht bekannt, da Funke Medien sie von ihrer Website entfernen musste. Die UdÖ, die öffentliche Version der UdP, können jedoch eingesehen werden. In der mündlichen Verhandlung waren sich die Parteien uneinig darüber, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Versionen ist. Die deutsche Regierung hat angegeben, die UdP seien viel umfangreicher als die UdÖ, während sie nach den Angaben von Funke Medien nur einige Informationen mehr als die UdÖ enthalten. Jedenfalls deutet die Tatsache, dass Funke Medien beschloss, die in ihren Besitz gelangten UdP zu veröffentlichen, darauf hin, dass sich die beiden Versionen in Bezug auf die gelieferten Informationen unterscheiden. Meiner Ansicht nach darf jedoch angenommen werden, dass die Informationen in den UdP zwar umfangreicher sein mögen, aber die Art ihrer Darstellung (ihr Ausdruck, um es in der Sprache des Urheberrechts zu sagen) in beiden Fällen gleich ist. Die den UdÖ zu entnehmende Art der Darstellung weckt bei mir starke Zweifel daran, dass solche Dokumente als Werke einzustufen sind, die unter den Schutz des Urheberrechts fallen. Es handelt sich nämlich um reine Informationsdokumente, die in einer völlig neutralen und standardisierten Sprache abgefasst sind und genau über Ereignisse berichten oder aber darüber informieren, dass kein erwähnenswertes Ereignis vorgefallen ist ( 4 ).

    15.

    Allgemein ist als Grundsatz anerkannt, dass das Urheberrecht keine Ideen schützt, sondern ihren Ausdruck. Nach einer klassischen Formulierung sind Ideen in dem Sinne „frei“ („de libre parcours“) ( 5 ), dass sie nicht mittels des Urheberrechts monopolisiert werden dürfen. Anders ist dies beispielsweise bei Patenten, mit denen Ideen, Erfindungen, usw. geschützt werden. Das Urheberrecht schützt allein die Art, in der Ideen in einem Werk zum Ausdruck kommen. Die Ideen selbst, losgelöst von jedem Werk, können also frei vervielfältigt und wiedergegeben werden.

    16.

    Der Ausschluss der Ideen vom Urheberrechtsschutz erstreckt sich auch auf „rohe“, also als solche präsentierte Informationen. Sie können zwar in Form eines Textes wiedergegeben werden, doch handelt es sich dabei um einen Standardtext, der sich darauf beschränkt, drei grundlegende Fragen zu beantworten: Wer? Was? Wann? Da jede Ausschmückung fehlt, sind die Ausdrucksform der Information und die Information selbst deckungsgleich. Die Monopolisierung des Ausdrucks mittels des Urheberrechts würde also zur Monopolisierung der Information führen. Dieser Ausschluss des Schutzes roher Informationen war bereits in der am 9. September 1886 in Bern unterzeichneten Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Pariser Fassung vom 24. Juli 1971) in ihrer am 28. September 1979 geänderten Fassung (im Folgenden: Berner Übereinkunft), dem internationalen Hauptinstrument des Urheberrechtsschutzes, enthalten. Ihr Art. 2 Abs. 8 lautet: „Der Schutz dieser Übereinkunft besteht nicht für Tagesneuigkeiten oder vermischte Nachrichten, die einfache Zeitungsmitteilungen darstellen.“ ( 6 )

    17.

    Die Einstufung eines Ausdrucks als „Werk“ im Sinne des Urheberrechts setzt überdies voraus, dass es sich um „ein Original in dem Sinne handelt, dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt“ ( 7 ). Diese Voraussetzung für die Anwendbarkeit des insbesondere durch die Richtlinie 2001/29 im Unionsrecht harmonisierten Urheberrechts hat der Gerichtshof aus der Systematik der Richtlinie und der Berner Übereinkunft abgeleitet. Diese Voraussetzung ist allerdings keine Erfindung des Unionsrechts: Es gibt sie in den meisten nationalen Urheberrechten, zumindest in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen ( 8 ). Sie gehört also gewissermaßen zu den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten.

    18.

    Im Urheberrecht der Union ist der Begriff „eigene geistige Schöpfung seines Urhebers“ der Hauptbestandteil der Definition des Werks, das seinerseits ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist. Diese Definition wurde sodann in der nach dem Urteil Infopaq International ( 9 ) ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs weiterentwickelt. Der Gerichtshof hat dabei ausgeführt, dass es sich um eine eigene geistige Schöpfung des Urhebers handelt, wenn darin seine Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Dies ist der Fall, wenn der Urheber bei der Herstellung des Werks seine schöpferischen Fähigkeiten zum Ausdruck bringen konnte, indem er frei kreative Entscheidungen traf ( 10 ). Hingegen ist das Kriterium der Originalität nicht erfüllt, wenn der Ausdruck der Bestandteile des betreffenden Objekts durch ihre technische Funktion vorgegeben ist, denn die verschiedenen Möglichkeiten zur Umsetzung einer Idee sind dann so beschränkt, dass Idee und Ausdruck deckungsgleich sind. Eine solche Situation ermöglicht es dem Urheber nicht, seinen schöpferischen Geist in origineller Weise zum Ausdruck zu bringen und zu einem Ergebnis zu gelangen, das eine eigene geistige Schöpfung darstellt ( 11 ). Nur die eigene geistige Schöpfung des Urhebers im oben definierten Sinne kann ein durch das Urheberrecht geschütztes Werk sein. Gesichtspunkte wie die geistige Arbeit und das Know-how des Urhebers können als solche den Schutz des betreffenden Objekts durch das Urheberrecht nicht rechtfertigen, wenn in ihnen keine Originalität zum Ausdruck kommt ( 12 ).

    19.

    Wendet man diese Kriterien auf den vorliegenden Fall an, ergeben sich ernste Zweifel daran, ob die fraglichen Dokumente als Werke im Sinne des Urheberrechts der Union in seiner Auslegung durch den Gerichtshof eingestuft werden können. Es erscheint mir nämlich wenig wahrscheinlich, dass der oder die Urheber der Dokumente, die uns zwar unbekannt sind, bei denen es sich aber vermutlich um Beamte oder Bundeswehroffiziere handelt, frei kreative Entscheidungen treffen konnten, um bei der Ausarbeitung der Dokumente ihre schöpferischen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Da es sich um rein informative und zwangsläufig in einer einfachen und neutralen Sprache gehaltene Dokumente handelt, wird ihr Inhalt vollständig durch die in ihnen enthaltenen Informationen determiniert, so dass diese Informationen und ihr Ausdruck deckungsgleich sind, was jede Originalität ausschließt. Ihre Ausarbeitung erfordert zweifellos gewisse Anstrengungen und ein Know-how, aber diese Gesichtspunkte können für sich genommen keinen Urheberrechtsschutz rechtfertigen. Bei der Erörterung dieses Punktes während der Sitzung haben die Parteien auch angeführt, dass die Struktur der fraglichen Dokumente urheberrechtlich geschützt sein könnte. Diese Struktur besteht jedoch darin, in regelmäßigen Abständen Informationen zu jedem Auslandseinsatz zu liefern, an dem die Bundeswehr beteiligt ist. Die Struktur der Berichte erscheint mir demnach nicht kreativer als ihr Inhalt.

    20.

    Die Zweifel an der Einstufung der fraglichen Dokumente als urheberrechtlich schutzfähige Werke sind im Ausgangsverfahren sowie in der vorliegenden Rechtssache u. a. von Funke Medien angesprochen worden. Das vorlegende Gericht teilt uns mit, dass diese Frage von den Vorinstanzen im Ausgangsverfahren nicht beantwortet worden sei ( 13 ). Eine Zurückverweisung der Rechtssache an das Berufungsgericht zur Klärung dieses Punktes erscheint ihm jedoch nicht sachgerecht, da sich aus den Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen ergeben könnte, dass den Dokumenten kein Urheberrechtsschutz zu gewähren sei.

    21.

    Ich habe Verständnis für diese verfahrensökonomische Erwägung. Die Vorlagefragen in der vorliegenden Rechtssache werfen jedoch grundlegende Rechtsprobleme in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Urheberrecht und den Grundrechten auf, die die Legitimität oder gar die Gültigkeit des Urheberrechts aus grundrechtlicher Sicht in Frage stellen könnten. Diese Probleme beruhen zu einem erheblichen Teil auf dem ungewöhnlichen Charakter der fraglichen Dokumente als Gegenstände des Urheberrechts, da ihr Inhalt rein informativ ist, da sie vom Staat stammen und in dessen Eigentum verbleiben und da sie vertraulich sind. Es wäre daher meines Erachtens zumindest wünschenswert, sich vor der Befassung mit diesen grundlegenden Problemen zu vergewissern, ob die fraglichen Dokumente tatsächlich unter das Urheberrecht – und allgemeiner unter das Unionsrecht – fallen.

    22.

    Die Einstufung der fraglichen Dokumente als „Werke“ im Sinne des unionsrechtlich harmonisierten Urheberrechts gehört natürlich zur Tatsachenwürdigung, die allein von den nationalen Gerichten vorzunehmen ist. Angesichts der oben angesprochenen Zweifel an der Anwendbarkeit des Urheberrechts der Union auf die genannten Dokumente – die im Übrigen vom vorlegenden Gericht offenbar geteilt werden – bin ich aber der Ansicht, dass der Gerichtshof in Erwägung ziehen könnte, in Anwendung einer gefestigten Rechtsprechung die Vorlagefragen in der vorliegenden Rechtssache für unzulässig zu erklären, da sie auf einer vom vorlegenden Gericht nicht überprüften Prämisse beruhen und im gegenwärtigen Stadium des Ausgangsverfahrens daher hypothetisch sind ( 14 ).

    23.

    Für den Fall, dass der Gerichtshof diesem Vorschlag nicht folgen sollte, komme ich nun zur inhaltlichen Prüfung der Rechtssache.

    Vorbemerkungen zum Inhalt der Vorlagefragen

    24.

    In der vorliegenden Rechtssache betreffen alle gestellten Vorlagefragen auf die eine oder andere Art die Frage des Verhältnisses zwischen dem mit der Richtlinie 2001/29 harmonisierten Urheberrecht und den Grundrechten, insbesondere der durch Art. 11 der Charta geschützten Freiheit der Meinungsäußerung.

    25.

    Dabei möchte das vorlegende Gericht mit der ersten, im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland) gestellten Vorlagefrage wissen, ob die Vorschriften des deutschen Rechts zur Umsetzung der Richtlinie 2001/29 allein im Licht der sich aus der Unionsrechtsordnung ergebenden Grundrechte auszulegen sind oder auch im Licht der im nationalen Verfassungsrecht verankerten Grundrechte.

    26.

    Bei der zweiten Vorlagefrage geht es darum, wie die Grundrechte bei der Auslegung der in der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen des Urheberrechts zu berücksichtigen sind. Zwar wird die Frage so nicht ausdrücklich gestellt, doch geht aus ihrer Formulierung hervor, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Berücksichtigung der Grundrechte und insbesondere der Informationsfreiheit zu einer Auslegung dieser Ausnahmen führen kann, die die Nutzung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dokumente erfassen würde.

    27.

    Die dritte Vorlagefrage wirft schließlich das Problem auf, ob es möglicherweise andere Ausnahmen oder Beschränkungen des Urheberrechts gibt, die weder in den Bestimmungen der Richtlinie 2001/29 noch in einem anderen Unionsrechtsakt vorgesehen, aber zur Gewährleistung der Wahrung der Grundrechte unentbehrlich sind.

    28.

    Diese drei sehr allgemein formulierten Fragen wurden auch im Rahmen zweier anderer Rechtssachen gestellt, die derzeit aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen desselben Gerichts beim Gerichtshof anhängig sind ( 15 ). Diese drei Rechtssachen betreffen aber völlig unterschiedliche Sachverhalte und ganz verschiedene Grundrechte. Es gibt vermutlich unendlich viele weitere tatsächliche und rechtliche Konfigurationen, in denen sich dieselben allgemeinen Fragen nach dem Verhältnis zwischen dem Urheberrecht und den Grundrechten stellen könnten.

    29.

    Daher erscheint es mir nicht zweckdienlich, das im Ausgangsverfahren aufgeworfene Problem in so allgemeiner Weise zu untersuchen. Jede allgemein gehaltene Antwort, die von der konkreten Situation eines möglichen Konflikts zwischen dem Urheberrecht und einem Grundrecht abstrahiert, wäre meines Erachtens entweder zu rigide, weil sie eine etwa erforderliche Anpassung des Systems des Urheberrechts nicht zuließe, oder zu lax, weil sie seine Infragestellung in jeder Situation ermöglichen und ihm damit jede Rechtssicherheit nehmen würde.

    30.

    Dies gilt umso mehr, als das Urheberrecht selbst, wie ich später ausführen werde, bereits Mechanismen enthält, die dazu dienen, es mit der Beachtung der Grundrechte, vor allem mit der Freiheit der Meinungsäußerung, in Einklang zu bringen. Diese Mechanismen dürften in der Regel ausreichen, es sei denn, man stellt schon die Vereinbarkeit der Urheberrechtsvorschriften als solche mit den Grundrechten in Frage. Das Problem der Gültigkeit der Vorschriften der Richtlinie 2001/29 ist in der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht aufgeworfen worden, und ich halte es nicht für nötig, dies zu tun.

    31.

    Jede über die bloße Auslegung der Vorschriften des Urheberrechts hinausgehende Gewichtung des Urheberrechts und der Grundrechte, die an der Grenze zwischen Rechtsauslegung und ‑anwendung stattfindet, muss deshalb meines Erachtens im Licht der Umstände jedes Einzelfalls vorgenommen werden. Diese Orientierung am Einzelfall ermöglicht es, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit am besten zu wahren, indem ungerechtfertigte Beeinträchtigungen sowohl des Urheberrechts als auch der Grundrechte vermieden werden.

    32.

    Das Ausgangsverfahren betrifft die Anwendung des Urheberrechts in einem Fall, der mehrere Besonderheiten aufweist. Erstens besteht der geschützte Gegenstand aus Dokumenten des Staates, die, wie bereits erwähnt, rein informativen Charakter haben. Daher ist es schwierig, sie als Gegenstand des Urheberrechts von den in ihnen enthaltenen Informationen zu unterscheiden. Zweitens steht das Urheberrecht dem Staat zu, der durch die Grundrechte nicht begünstigt, sondern verpflichtet wird. Drittens schließlich ist, auch wenn hier die Mechanismen des Urheberrechtsschutzes genutzt werden, das offen angestrebte Ziel nicht die Verwertung des Werks, sondern der Schutz der Vertraulichkeit der in ihm enthaltenen Informationen. Aus diesen Gründen würde die bloße Beantwortung der Vorlagefragen, so wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert wurden, es meines Erachtens nicht ermöglichen, ihm eine angemessene Lösung für das Problem zu bieten, das sich ihm stellt.

    33.

    Um dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits, der im Ausgangsverfahren bei ihm anhängig ist, sachdienliche Antwort zu geben, schlage ich dem Gerichtshof daher vor, die Vorlagefragen umzuformulieren, sie zusammen zu behandeln und als Ausgangspunkt nicht das Urheberrecht der Bundesrepublik Deutschland zu wählen, sondern die Meinungsfreiheit von Funke Medien. Meines Erachtens möchte das vorlegende Gericht nämlich der Sache nach wissen, ob Art. 11 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, sich auf sein Urheberrecht an Dokumenten wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu berufen, um die in diesem Artikel verankerte Freiheit der Meinungsäußerung zu beschränken.

    Urheberrecht und Freiheit der Meinungsäußerung

    34.

    Nach Art. 11 der Charta gehört zu der von ihm geschützten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit die Freiheit, „Informationen und Ideen … zu empfangen und weiterzugeben“. Art. 11 Abs. 2 fügt die Freiheit der Medien hinzu. Dieses Recht findet eine Entsprechung in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), deren Art. 10 die Freiheit der Meinungsäußerung mit den gleichen Worten wie Art. 11 Abs. 1 der Charta definiert.

    35.

    Dagegen behält das unionsrechtlich harmonisierte Urheberrecht den Urhebern das ausschließliche Recht vor, die Vervielfältigung und die öffentliche Wiedergabe ihrer Werke zu erlauben oder zu verbieten. Auch wenn das Urheberrecht, wie ich zuvor näher ausgeführt habe, nicht die in den Werken enthaltenen Informationen oder Ideen schützt, sondern deren Ausdruck, liegen Konflikte zwischen ihm und der Freiheit der Meinungsäußerung in der Natur der Sache. Denn erstens fällt die Wiedergabe eines urheberrechtlich geschützten Werkes – ob durch den Urheber selbst, mit seiner Zustimmung oder ohne eine solche Zustimmung – selbstverständlich in den Anwendungsbereich dieser Freiheit. Zweitens ist es, auch wenn das Werk nicht der einzige oder hauptsächliche Gegenstand der Wiedergabe ist, bisweilen sehr schwierig oder sogar unmöglich, bestimmte Ideen wiederzugeben, ohne zugleich zumindest teilweise ein fremdes Werk wiederzugeben. Nehmen wir als Beispiel die Kunstkritik. Indem das Urheberrecht die vorherige Zustimmung des Urhebers verlangt (und ihm das Recht einräumt, sie nicht zu erteilen), beschränkt es somit notwendigerweise die Freiheit der Meinungsäußerung.

    36.

    Es ist allgemein anerkannt, dass das Urheberrecht selbst Mechanismen enthält, die es ermöglichen, etwaige Widersprüche zwischen den Grundrechten, insbesondere der Freiheit der Meinungsäußerung, und dem Urheberrecht abzuschwächen ( 16 ).

    37.

    Dabei handelt es sich erstens um den Grundsatz, dass das Urheberrecht keine Ideen schützt, sondern ihren Ausdruck. Auf diese Weise wird die Freiheit der Meinungsäußerung in Bezug auf die Weitergabe und den Empfang von Informationen geschützt. Diesen Grundsatz habe ich bereits in dem die Zulässigkeit der Vorlagefragen betreffenden Teil geprüft ( 17 ) und werde daher nicht erneut auf ihn eingehen.

    38.

    Zweitens wird das Urheberrecht durch verschiedene Ausnahmen mit den Grundrechten in Einklang gebracht. Diese Ausnahmen ermöglichen die Nutzung von Werken in verschiedenen Situationen, in denen unterschiedliche Grundrechte und ‑freiheiten zum Tragen kommen können, ohne jedoch den Urhebern den Kerngehalt ihrer Rechte, d. h. die Achtung der Verbindung zwischen ihnen und ihren Werken und die Möglichkeit, sie wirtschaftlich zu verwerten, zu entziehen.

    39.

    Im Unionsrecht wurden die Ausnahmen vom Urheberrecht u. a. in Art. 5 der Richtlinie 2001/29 harmonisiert. Es ist richtig, dass diese Ausnahmen fakultativen Charakter haben; formal sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, sie in ihrem nationalen Recht vorzusehen. Meines Erachtens handelt es sich allerdings eher um ein Mittel für den Unionsgesetzgeber, den Mitgliedstaaten größere Flexibilität bei der Umsetzung der Ausnahmen zu geben, als um eine tatsächliche Befugnis, sie vorzusehen oder nicht. Das Urheberrecht existierte in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nämlich schon lange vor seiner unionsrechtlichen Harmonisierung durch die Richtlinie 2001/29. Eben darum wurde es im Übrigen harmonisiert ( 18 ). Der Unionsgesetzgeber wollte aber ersichtlich die verschiedenen Traditionen und Formulierungen der Ausnahmen, die sich in den nationalen Rechtssystemen entwickelt hatten, nicht umstoßen. Dies ändert nichts daran, dass es die meisten der in Art. 5 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen in der einen oder anderen Form in allen nationalen Urheberrechten der Mitgliedstaaten gibt ( 19 ).

    40.

    Normalerweise können durch diese urheberrechtsimmanenten Schranken die Grundrechte und ‑freiheiten mit den ausschließlichen Rechten der Urheber in Bezug auf die Nutzung ihrer Werke in insgesamt zufriedenstellender Weise in Einklang gebracht werden. Obwohl es diese Schranken gibt, bleibt die Anwendung des Urheberrechts, wie die jedes anderen Rechtskörpers, gleichwohl dem Erfordernis der Wahrung der Grundrechte unterworfen, die gerichtlich überprüft werden kann. Sollte sich herausstellen, dass der Schutz eines Grundrechts im Urheberrecht systemische Mängel aufweist, würde dies die Gültigkeit des Urheberrechts in Frage stellen, und eine Gesetzesänderung könnte geboten sein. Es kann jedoch außergewöhnliche Situationen geben, in denen das Urheberrecht – das unter anderen Umständen völlig zu Recht rechtlichen und gerichtlichen Schutz genießt – hinter einem wichtigen, die Verwirklichung eines Grundrechts oder einer Grundfreiheit betreffenden Interesse zurücktreten muss.

    41.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) hat kürzlich wieder auf die Existenz einer solchen externen Beschränkung des Urheberrechts hingewiesen. In zwei Entscheidungen ( 20 ) hat er ausgeführt, dass das Tätigwerden einer Vertragspartei der EMRK im Bereich des Urheberrechtsschutzes der Kontrolle im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit der in Art. 10 EMRK verankerten Freiheit der Meinungsäußerung unterliegen kann. In den beiden oben angeführten Rechtssachen hat der EGMR keine Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung festgestellt. In Anbetracht der Art der fraglichen Wiedergaben (mit denen ein gewerblicher Zweck verfolgt wurde) und der Rechte anderer Beteiligter (der Inhaber der Urheberrechte) kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Beklagten (die Unterzeichnerstaaten der EMRK) über ein weites Ermessen in Bezug auf die Erforderlichkeit von Beschränkungen der genannten Freiheit durch das Urheberrecht in einer demokratischen Gesellschaft verfügten.

    42.

    Unter anderen Umständen als denen, um die es in den beiden oben angeführten Rechtssachen ging, könnte das Ergebnis der Prüfung allerdings anders ausfallen, insbesondere dann, wenn die Wiedergabe des angeblich geschützten Werkes wie im vorliegenden Fall zu einer Diskussion von allgemeinem Interesse beigetragen hat oder wenn das Werk aus amtlichen Dokumenten eines Staates besteht, die Informationscharakter haben. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, sich der Argumentation des EGMR anzuschließen.

    43.

    Dieser Vorschlag ist zumal deshalb gerechtfertigt, weil nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Art. 11 der Charta entspricht Art. 10 EMRK ( 21 ). Wie das vorlegende Gericht in seinem Ersuchen ausführt, hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass die Gültigkeit von Bestimmungen sowohl des Unionsrechts als auch des nationalen Rechts allein anhand der Charta zu prüfen ist, da die EMRK nicht formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde ( 22 ). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR nicht im Rahmen dieser Prüfung bei der Auslegung der Charta herangezogen werden darf ( 23 ). Dann würde Art. 52 Abs. 3 der Charta nämlich jeden Sinn verlieren.

    Der Schutz des Urheberrechts an militärischen Lageberichten im Licht von Art. 11 der Charta

    44.

    Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt sie u. a. für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Anwendung der Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie 2001/29 durch die deutschen Gerichte im Ausgangsverfahren gehört eindeutig zur Durchführung des Unionsrechts. Sie unterliegt also den Bestimmungen der Charta, insbesondere der Pflicht, bei der Durchführung des Unionsrechts die Freiheit der Meinungsäußerung von Funke Medien im Sinne von Art. 11 der Charta zu wahren. In der vorliegenden Rechtssache führen aber mehrere Gesichtspunkte zu dem Schluss, dass der urheberrechtliche Schutz der fraglichen Dokumente gegen Art. 11 der Charta verstoßen würde.

    Mögliche Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung

    45.

    Dass die Veröffentlichung vertraulicher Dokumente wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unter die Freiheit der Meinungsäußerung fällt, steht meines Erachtens außer Zweifel ( 24 ). Ebenfalls klar zu sein scheint mir, dass das Urheberrecht, auf das sich die Bundesrepublik Deutschland beruft, die Freiheit der Meinungsäußerung beschränkt ( 25 ). Dazu bedarf es keiner näheren Ausführungen. Solche Beschränkungen dieser Freiheit sind nicht ausnahmslos verboten. Sowohl Art. 10 Abs. 2 EMRK als auch Art. 52 Abs. 1 der Charta enthalten Gründe, aus denen Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt sein können, und die Voraussetzungen, die sie erfüllen müssen.

    46.

    Ich werde nicht auf die Debatte über einen eventuellen Vorrang der Beschränkungsgründe der EMRK vor denen der Charta bei Freiheiten eingehen, die beide in vergleichbarer Weise schützen ( 26 ). Ich schlage vielmehr vor, sie als äquivalent zu behandeln, da dies meines Erachtens am besten dem Postulat in Art. 52 Abs. 3 der Charta entspricht, wonach die einander entsprechenden Rechte in der Charta und der EMRK die gleiche Bedeutung und Tragweite haben.

    47.

    In Bezug auf die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens scheint mir der offensichtlichste Grund darin zu bestehen, die Verbreitung vertraulicher Informationen im Zusammenhang mit den Erfordernissen der nationalen Sicherheit zu verhindern. Diese beiden Gründe für die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung sind in Art. 10 Abs. 2 EMRK ausdrücklich vorgesehen.

    48.

    Die Charta ist weniger explizit: In ihrem Art. 52 Abs. 1 ist lediglich allgemein von den „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ die Rede. Nach den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta gehören zum Gemeinwohl nicht nur die in Art. 3 EUV aufgeführten Ziele, sondern auch die von der Union zu achtenden Interessen der Mitgliedstaaten. Insbesondere wird in der Erläuterung ausdrücklich Art. 346 AEUV genannt, wonach ein Mitgliedstaat „nicht verpflichtet [ist], Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht“. Der Schutz der nationalen Sicherheit gehört auch zu den „grundlegenden Funktionen des Staates“, die die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV zu achten hat.

    49.

    Daraus folgt, dass der Schutz der Vertraulichkeit bestimmter Informationen zur Wahrung der nationalen Sicherheit sowohl nach der EMRK als auch nach der Charta ein legitimer Grund für die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung ist. Im Ausgangsverfahren geht es jedoch um den Schutz der in Rede stehenden Dokumente nicht als vertrauliche Informationen, sondern als Gegenstände des Urheberrechts. Wie der Vertreter der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt hat, besteht zwar das einzige Ziel der Klage gegen Funke Medien im Schutz der in den Dokumenten enthaltenen vertraulichen Informationen, doch hält die Bundesrepublik Deutschland die von ihrer Verbreitung ausgehende Gefahr für die Sicherheit des Staates nicht für so groß, dass sie eine Beeinträchtigung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Pressefreiheit rechtfertigt. Anstelle der Einleitung eines Strafverfahrens wegen der Verbreitung vertraulicher Informationen hat dieser Mitgliedstaat daher auf ein „ungewöhnliches“ rechtliches Vorgehen zurückgegriffen, und zwar auf den Schutz seines Urheberrechts an diesen Dokumenten.

    50.

    Zu prüfen ist demnach, ob der Schutz dieses Urheberrechts im Licht von Art. 10 EMRK und Art. 11 der Charta die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung rechtfertigen kann.

    Das Urheberrecht des Staates an militärischen Lageberichten als Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung

    51.

    Die Ausübung des Urheberrechts als subjektives Recht fällt normalerweise nicht unter das Gemeinwohl. Eine Person, die sich auf ihr Urheberrecht beruft, handelt nicht im Interesse des Gemeinwohls, sondern im eigenen Interesse. Das Urheberrecht kann die Beschränkung von Grundrechten wie der Freiheit der Meinungsäußerung demnach nur wegen des Schutzes der Rechte anderer – eines sowohl in Art. 10 Abs. 2 EMRK als auch in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Beschränkungsgrundes – rechtfertigen ( 27 ).

    52.

    Zu diesen Rechten anderer gehören in erster Linie die von der EMRK und der Charta gewährleisteten Rechte und Freiheiten. Eine solche Konfliktsituation zwischen verschiedenen Grundrechten erfordert ihre Abwägung ( 28 ). Das Urheberrecht als Recht des geistigen Eigentums wird für die Zwecke dieses Schutzes dem durch Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK und durch Art. 17 der Charta gewährleisteten Eigentumsrecht gleichgestellt ( 29 ). Der Gerichtshof hat wiederholt anerkannt, dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Recht am geistigen Eigentum, einschließlich des Urheberrechts, und anderen durch die Charta gewährleisteten Rechten sichergestellt werden muss ( 30 ).

    53.

    Meiner Ansicht nach kann dieser Gedanke jedoch nicht in der speziellen Situation angewandt werden, in der wie im vorliegenden Fall der Inhaber des Urheberrechts ein Mitgliedstaat ist. Die Mitgliedstaaten werden, wie die Unterzeichnerstaaten der EMRK, durch die Grundrechte nicht begünstigt, sondern verpflichtet. Sie sind verpflichtet, diese Rechte zu achten und zu schützen, und zwar nicht in eigener Sache, sondern für ihre Bürger. Vor wem sollten die Staaten denn durch ihre Grundrechte geschützt werden? Natürlich nicht vor sich selbst, sondern vor den Bürgern. Dies würde dem Grundgedanken der Grundrechte in ihrer Ausgestaltung seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 widersprechen, der darin besteht, nicht die Staatsgewalt vor dem Bürger zu schützen, sondern den Bürger vor der Staatsgewalt.

    54.

    Damit will ich natürlich nicht sagen, dass der Staat nicht über zivilrechtliches Eigentum einschließlich geistigen Eigentums verfügen kann. Der Staat kann sich aber nicht auf das Grundrecht am Eigentum berufen, um ein anderes durch die EMRK oder die Charta garantiertes Grundrecht zu beschränken.

    55.

    Selbst wenn man davon ausginge, dass zu den in Art. 10 Abs. 2 EMRK und in Art. 52 Abs. 1 der Charta als mögliche Rechtfertigung für die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung erwähnten Rechten anderer nicht nur die von diesen Instrumenten geschützten, sondern auch andere Rechte gehören, glaube ich aus den oben dargestellten Gründen, dass diese Rechtfertigung nicht auf die Rechte des Staates selbst gestützt werden kann. Könnte der Staat sich nämlich neben dem Gemeinwohl auf seine individuellen Rechte berufen, um Grundrechte zu beschränken, würde dies darauf hinauslaufen, Letztere außer Kraft zu setzen.

    56.

    Somit ist der einzige Grund, auf den sich ein Mitgliedstaat stützen kann, um die Beschränkung eines durch die EMRK oder die Charta gewährleisteten Rechts zu rechtfertigen, das Gemeinwohl. Wie ich oben erwähnt habe, war die Bundesrepublik Deutschland im vorliegenden Fall aber der Auffassung, dass die mit einer Verfolgung von Funke Medien wegen der Verbreitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dokumente verbundene Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Pressefreiheit außer Verhältnis zum Gemeinwohlinteresse am Schutz der Vertraulichkeit dieser Dokumente stünde. In einer solchen Situation darf sich der Mitgliedstaat nicht anstelle des Gemeinwohls auf sein Urheberrecht berufen.

    57.

    Selbst wenn man diese Schwierigkeit überwände, indem man z. B. davon ausginge, dass der Schutz der Urheberrechte des Staates unter das Gemeinwohl fällt, woran ich zweifele, verlangen sowohl Art. 10 Abs. 2 EMRK als auch Art. 52 Abs. 1 der Charta, dass die Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung notwendig bzw. erforderlich sind ( 31 ). Diese Voraussetzung scheint mir aber im vorliegenden Fall nicht erfüllt zu sein.

    Zur Erforderlichkeit des Schutzes des Urheberrechts an militärischen Lageberichten

    58.

    Mit dem Urheberrecht werden zwei Hauptziele verwirklicht. Das erste Ziel ist der Schutz der persönlichen Verbindung zwischen dem Urheber und seinem Werk, das seine geistige Schöpfung und damit gewissermaßen eine Emanation seiner Persönlichkeit darstellt. Es handelt sich hauptsächlich um den Bereich der Persönlichkeitsrechte. Das zweite Ziel besteht darin, den Urhebern die wirtschaftliche Nutzung ihrer Werke und damit die Erzielung von Einkünften aus ihrer schöpferischen Tätigkeit zu ermöglichen. Es handelt sich um den Bereich der Vermögensrechte, die Gegenstand einer Harmonisierung auf Unionsebene sind. Damit eine auf dem Urheberrecht beruhende Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung als erforderlich eingestuft werden kann, muss sie mindestens einem dieser beiden Ziele entsprechen. Mir scheint aber, dass der Schutz des Urheberrechts an militärischen Lageberichten wie denen, um die es im Ausgangsverfahren geht, keinem von ihnen entspricht.

    59.

    Erstens ist in Bezug auf den Schutz des Verhältnisses zwischen dem Urheber und seinem Werk darauf hinzuweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland zwar durch eine Art von juristischer Fiktion die Inhaberin der Urheberrechte an den fraglichen Dokumenten sein kann, doch ist sie aus Gründen, die auf der Hand liegen, sicher nicht ihr Urheber. Der wahre Verfasser (oder wohl eher die Verfasser) bleibt völlig anonym, da die fraglichen Dokumente fortlaufend erstellt werden und, wie jedes offizielle Dokument, eine hierarchische Kontrolle durchlaufen müssen. Die Verfasser arbeiten die Dokumente oder Teile von ihnen nicht im Rahmen einer persönlichen kreativen Tätigkeit aus, sondern im Rahmen ihrer beruflichen Pflichten als Beamte oder Offiziere ( 32 ). Die Dokumente haben also im Grunde keinen wirklichen Urheber im urheberrechtlichen Sinne dieses Begriffs, so dass vom Schutz seiner Verbindung zu dem Werk keine Rede sein kann.

    60.

    Zwar bleiben, wie der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29 bestätigt, die Persönlichkeitsrechte außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie, wie im Übrigen des Unionsrechts im Allgemeinen. Alle Urheberrechte, sowohl Persönlichkeits- als auch Vermögensrechte, haben ihren Ursprung und ihre Rechtfertigung jedoch in dem speziellen Verhältnis zwischen dem Urheber und seinem Werk. Deshalb kann es ohne Urheber auch keine Urheberrechte geben, weder Persönlichkeits- noch Vermögensrechte.

    61.

    Zweitens ist in Bezug auf die wirtschaftliche Nutzung unstreitig, dass das einzige Ziel, das die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Klage im Ausgangsverfahren verfolgt, der Schutz des vertraulichen Charakters nicht der fraglichen Dokumente insgesamt ist – da ja eine Fassung von ihnen in Form der UdÖ veröffentlicht wird –, sondern nur bestimmter als sensibel eingestufter Informationen. Dies hat aber überhaupt nichts mit den Zielen des Urheberrechts zu tun. Das Urheberrecht wird hier somit für die Verfolgung von Zielen instrumentalisiert, die ihm völlig fremd sind.

    62.

    Da die Bundesrepublik Deutschland der Ansicht war, dass das Interesse am Schutz der fraglichen Dokumente als vertrauliche Informationen die damit verbundene Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung nicht rechtfertige, beschloss sie, zum selben Ergebnis zu kommen, indem sie sich auf ihr Urheberrecht an den Dokumenten berief, obwohl mit dem Urheberrecht völlig andere Ziele verfolgt werden und nicht einmal feststeht, dass die Dokumente Werke im Sinne des Urheberrechts darstellen.

    63.

    Eine solche Vorgehensweise halte ich nicht für akzeptabel.

    64.

    Die Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung, die sich aus dem Schutz der fraglichen Dokumente durch das Urheberrecht ergeben würde, ist nämlich in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur nicht erforderlich, sondern wäre für sie auch äußerst schädlich. Eine der wichtigsten Funktionen der Freiheit der Meinungsäußerung und ihres Bestandteils, der in Art. 11 Abs. 2 der Charta ausdrücklich erwähnten Freiheit der Medien, besteht in der Kontrolle der Staatsgewalt durch die Bürger, die für jede demokratische Gesellschaft unerlässlich ist. Diese Kontrolle kann u. a. durch die Verbreitung bestimmter Informationen oder Dokumente ausgeübt werden, deren Inhalt oder auch deren Existenz (oder Nicht-Existenz) die Staatsgewalt verschleiern möchte. Manche Informationen müssen natürlich selbst in einer demokratischen Gesellschaft geheim bleiben, wenn ihre Verbreitung eine Bedrohung für die wesentlichen Interessen des Staates und infolgedessen für diese Gesellschaft selbst darstellt. Dann müssen sie nach den hierfür vorgesehenen, unter gerichtlicher Kontrolle angewandten Verfahren klassifiziert und geschützt werden. Außerhalb dieser Verfahren oder wenn der Staat selbst sie nicht anwendet, kann ihm nicht gestattet werden, sich in Bezug auf beliebige Dokumente auf sein Urheberrecht zu berufen, um die Kontrolle seines Handelns zu verhindern.

    Ergebnis dieses Abschnitts

    65.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein etwaiger Schutz der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dokumente durch das Urheberrecht nicht unter das Grundrecht des geistigen Eigentums fällt und daher allein als Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung im Sinne von Art. 11 der Charta zu prüfen ist. Diese Beschränkung ist jedoch nicht erforderlich und entspricht tatsächlich weder dem Gemeinwohl noch dem Erfordernis des Schutzes der Rechte anderer im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta.

    66.

    Sollte der Gerichtshof beschließen, die Vorlagefragen in der vorliegenden Rechtssache inhaltlich zu prüfen, schlage ich ihm daher vor, zu antworten, dass Art. 11 der Charta in Verbindung mit ihrem Art. 52 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf das Urheberrecht im Sinne von Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 berufen kann, um die öffentliche Wiedergabe vertraulicher Dokumente dieses Mitgliedstaats im Rahmen einer Debatte über Fragen des Gemeinwohls zu verhindern. Diese Auslegung hindert den Mitgliedstaat nicht daran, unter Beachtung des Unionsrechts andere Bestimmungen seines nationalen Rechts, insbesondere Bestimmungen über den Schutz vertraulicher Informationen, anzuwenden.

    Die Vorlagefragen

    67.

    Wie in meinen Vorbemerkungen bereits angesprochen, schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen umzuformulieren, um eine Analyse der Anwendbarkeit des unionsrechtlich harmonisierten Urheberrechts auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dokumente im Licht der Freiheit der Meinungsäußerung vorzunehmen. Diese Analyse und infolgedessen das befürwortete Ergebnis sind den Vorlagefragen, wie sie in der Vorlageentscheidung formuliert sind, vorgelagert.

    68.

    Die erste Vorlagefrage betrifft nämlich den Spielraum, den die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2001/29 haben. Wie das vorlegende Gericht in seinem Ersuchen ausführt, ist diese Frage im Kontext der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestellt worden. Nach dieser Rechtsprechung sei, wenn die Mitgliedstaaten über einen Spielraum bei der Anwendung des Unionsrechts verfügten, dessen Anwendung im Licht der Grundrechte des Grundgesetzes zu beurteilen; bestehe kein solcher Spielraum, sei allein die Charta maßgebend. Das Bundesverfassungsgericht habe diese Rechtsprechung infolge der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt ( 33 ). Die Antwort, die ich vorschlage, ergibt sich jedoch vollständig aus dem Verhältnis zwischen den Bestimmungen des Unionsrechts, und zwar denen der Richtlinie 2001/29 und der Charta, ohne dass der Spielraum der Mitgliedstaaten analysiert zu werden braucht.

    69.

    Mit der zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Freiheit der Meinungsäußerung bei der Auslegung der in Art. 5 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen vom Urheberrecht berücksichtigt werden kann (oder muss). Der Gerichtshof hat zwar im Urteil Deckmyn und Vrijheidsfonds ( 34 ) ihre Berücksichtigung empfohlen. In dieser Rechtssache war die Sachlage jedoch eine andere als in der vorliegenden Rechtssache. Die Entscheidung in der Rechtssache, in der das Urteil Deckmyn und Vrijheidsfonds ergangen ist, beruhte nämlich auf der Prämisse der Anwendbarkeit der betreffenden Ausnahme (Parodie) auf den konkreten Fall ( 35 ). Es ging darum, ob ihre Anwendung unterbleiben konnte, weil ihr die berechtigten Interessen der betreffenden Urheberrechtsinhaber entgegenstanden ( 36 ).

    70.

    Im vorliegenden Fall scheint das vorlegende Gericht eine durch die Freiheit der Meinungsäußerung beeinflusste weite Auslegung der Tragweite selbst und der Voraussetzungen für die Anwendung der möglichen Ausnahmen zu befürworten. Ich bin aber der Ansicht, dass in einer besonderen Konstellation wie der des Ausgangsverfahrens der Urheberrechtsschutz ungeachtet der etwaigen Anwendbarkeit einer Ausnahme versagt werden muss.

    71.

    Mit seiner dritten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, sich mit der Möglichkeit zu befassen, auf das Urheberrecht zum Schutz der Freiheit der Meinungsäußerung andere als die in der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen anzuwenden. Die von mir vorgeschlagene Antwort könnte als Zustimmung zu dem in dieser Vorlagefrage gemachten Vorschlag angesehen werden. Zwischen dem Ansatz des vorlegenden Gerichts und dem von mir in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagenen Ansatz besteht jedoch ein erheblicher Unterschied. Denn es ist eine Sache, in einer konkreten und ganz speziellen Situation der Freiheit der Meinungsäußerung Vorrang vor dem Urheberrecht einzuräumen, aber es ist eine andere Sache, in das harmonisierte System des Urheberrechts, neben den Bestimmungen des positiven Unionsrechts, die diesen Bereich regeln, Ausnahmen und Beschränkungen aufzunehmen, die ihrem Wesen nach allgemein anzuwenden wären.

    72.

    Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen nicht detailliert zu prüfen. Da die gleichen Fragen in zwei anderen, von mir bereits erwähnten Rechtssachen aufgeworfen werden, wird der Gerichtshof zudem Gelegenheit haben, sie zu beantworten. Diese beiden anderen Rechtssachen betreffen typische Situationen für die Anwendung des Urheberrechts, in denen die Analyse dieser Fragen völlig sachgerecht sein wird.

    Ergebnis

    73.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Bundesgerichtshofs (Deutschland) in der vorliegenden Rechtssache entweder für unzulässig zu erklären oder sie wie folgt zu beantworten:

    Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist in Zusammenhang mit ihrem Art. 52 Abs. 1 dahin auszulegen, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf das Urheberrecht im Sinne von Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft berufen kann, um die öffentliche Wiedergabe vertraulicher Dokumente dieses Mitgliedstaats im Rahmen einer Debatte über Fragen des Gemeinwohls zu verhindern. Diese Auslegung hindert den Mitgliedstaat nicht daran, unter Beachtung des Unionsrechts andere Bestimmungen seines nationalen Rechts, insbesondere Bestimmungen über den Schutz vertraulicher Informationen, anzuwenden.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) Remarque, E. M., Im Westen nichts Neues, Propyläen Verlag, Berlin, 1929.

    ( 3 ) ABl. 2001, L 167, S. 10.

    ( 4 ) Zur Veranschaulichung zitiere ich einen Auszug der zum Zeitpunkt der Erstellung der vorliegenden Schlussanträge jüngsten verfügbaren UdÖ (Nr. 36/18 vom 5. September 2018). Auf ihrer ersten Seite befindet sich eine Übersichtskarte eines Teils der Welt, auf der die Einsatzländer der Bundeswehr zu sehen sind. Es folgt eine Liste dieser Einsätze. Sodann werden Informationen in der Reihenfolge der verschiedenen Einsätze gegeben, z. B.

    „Resolute Support (RS)/NATO-Einsatz in Afghanistan

    Train-Advise-Assist-Command (TAAC) North/Deutsches Einsatzkontingent

    Die Operationsführung der afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Defence and Security Forces/ANDSF) in der Nordregion konzentrierte sich im Berichtszeitraum auf die Provinz Faryab mit Schwerpunkt im Raum nördlich von Maimanah. Darüber hinaus wurden Operationen in den Provinzen Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar durchgeführt. Für den Bereich Kunduz gilt unverändert, dass das seit November 2016 gültige Sicherheitskonzept der ANDSF für das Stadtgebiet Kunduz für weitgehende Sicherheit und Stabilität sorgt.

    Im Verantwortungsbereich des TAAC North kam es im Berichtszeitraum zu verschiedenen Angriffen auf Kontroll- und Sicherungsposten der ANDSF.

    Deutsche Beteiligung: 1.124 Soldatinnen und Soldaten (Stand: 03.09.18).

    Kosovo Force (KFOR)/NATO-Einsatz im Kosovo

    Keine berichtenswerten Ereignisse.

    Deutsche Beteiligung: 315 Soldatinnen und Soldaten (Stand: 03.09.18).

    …“

    ( 5 ) Vivant, M., Buguière, J.‑M., Droit d’auteur et droits voisins, Dalloz, Paris, 2016, S. 151.

    ( 6 ) Die Europäische Union ist nicht Partei der Berner Übereinkunft, aber sie ist Partei des am 20. Dezember 1996 in Genf angenommenen und am 6. März 2002 in Kraft getretenen Urheberrechtsvertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), der die Unterzeichner verpflichtet, die Art. 1 bis 12 der Übereinkunft einzuhalten (vgl. Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 über die Zustimmung – im Namen der Europäischen Gemeinschaft – zum WIPO-Urheberrechtsvertrag und zum WIPO-Vertrag über Darbietungen und Tonträger, ABl. 2000, L 89, S. 6). Unionsrechtsakte, die das Urheberrecht betreffen, sind deshalb im Licht dieser Übereinkunft auszulegen (vgl. Urteil vom 7. Dezember 2006, SGAE, C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 34 und 35).

    ( 7 ) Urteil vom 16. Juli 2009, Infopaq International (C‑5/08, EU:C:2009:465, Rn. 37).

    ( 8 ) Dies ist u. a. beim deutschen Recht der Fall, in dem Art. 2 Abs. 2 UrhG bestimmt: „Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen.“ Dieses Konzept findet sich wieder im Begriff „originalité“ im französischen Urheberrecht (Urteil der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich], Plenum, 7. März 1986, Babolat/Pachot, Nr. 83-10477, veröffentlicht im Bulletin des arrêts de la Cour de cassation) sowie im polnischen Recht (Art. 1 Abs. 1 der Ustawa o prawie autorskim i prawach pokrewnych [Gesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte] vom 4. Februar 1994) und im spanischen Recht (Art. 10 der Ley de Propiedad Intelectual [Gesetz über geistiges Eigentum] vom 24. April 1996). Anders verhält es sich bei den Copyright-Systemen der angelsächsischen Länder.

    ( 9 ) Urteil vom 16. Juli 2009 (C‑5/08, EU:C:2009:465).

    ( 10 ) Urteil vom 1. Dezember 2011, Painer (C‑145/10, EU:C:2011:798, Rn. 88 und 89).

    ( 11 ) Urteil vom 22. Dezember 2010, Bezpečnostní softwarová asociace (C‑393/09, EU:C:2010:816, Rn. 49 und 50).

    ( 12 ) Urteil vom 1. März 2012, Football Dataco u. a. (C‑604/10, EU:C:2012:115, Rn. 33).

    ( 13 ) Das vorlegende Gericht gibt lediglich an, dass die Dokumente nicht a priori als amtliche Veröffentlichungen nach § 5 Abs. 2 UrhG vom Schutz des Urheberrechts ausgeschlossen seien. Dies liegt auf der Hand, handelt es sich doch um vertrauliche Dokumente, die somit nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Ein amtliches Dokument kann aber nicht schon dann in den Genuss des Urheberrechtsschutzes kommen, wenn es nach der genannten Bestimmung nicht davon ausgeschlossen ist. Es muss die Kriterien eines Werkes im Sinne des Urheberrechts erfüllen. Dieser Aspekt wurde aber im Rahmen des Ausgangsverfahrens nicht geklärt.

    ( 14 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a. (C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 31 und 39).

    ( 15 ) Rechtssachen C‑476/17, Pelham, und C‑516/17, Spiegel Online.

    ( 16 ) Vgl. insbesondere Barta, J., Markiewicz, R., Prawo autorskie, Wolters Kluwer, Warschau, 2016, S. 635 ff., und Vivant, M., Buguière, J.‑M., Droit d’auteur et droits voisins, Dalloz, Paris, 2016, S. 519 ff. Vgl. ebenfalls z. B. Geiger, C., und Izyumenko, E., „Copyright on the human rights’ trial: redefining the boundaries of exclusivity through freedom of expression“, International Review of Intellectual Property and Competition Law, Bd. 45 (2014), S. 316 bis 342, und Lucas, A., Ginsburg, J. C., „Droit d’auteur, liberté d’expression et libre accès à l’information (étude comparée de droit américain et européen)“, Revue internationale du droit d’auteur, Bd. 249 (2016), S. 4 bis 153.

    ( 17 ) Siehe Nrn. 15 und 16 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 18 ) Vgl. Erwägungsgründe 6 und 7 der Richtlinie 2001/29.

    ( 19 ) Ausgenommen vielleicht wiederum das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, wo sich im Einklang mit der Tradition des angelsächsischen Copyright das Konzept des fair use entwickelt hat, eine von Fall zu Fall vorgenommene allgemeine Beschränkung des Urheberrechts.

    ( 20 ) Urteil des EGMR vom 10. Januar 2013, Ashby Donald u. a./Frankreich (CE:ECHR:2013:0110JUD003676908), und Entscheidung des EGMR vom 19. Februar 2013, Fredrik Neij und Peter Sunde Kolmisoppi/Schweden (CE:ECHR:2013:0219DEC004039712).

    ( 21 ) Vgl. die Erläuterung zu Art. 52 der Charta.

    ( 22 ) Vgl. Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45 und 46 und die dort angeführte Rechtsprechung), bzw. Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti (C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15).

    ( 23 ) Wie der Gerichtshof im Übrigen bereits festgestellt hat, vgl. Urteile vom 5. Oktober 2010, McB. (C‑400/10 PPU, EU:C:2010:582, Rn. 53), und vom 22. Dezember 2010, DEB (C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 35).

    ( 24 ) Vgl. insbesondere, neben anderen, Urteil des EGMR vom 19. Januar 2016, Görmüş u. a./Türkei (CE:ECHR:2016:0119JUD004908507, Rn. 32).

    ( 25 ) Vgl. Urteil des EGMR vom 10. Januar 2013, Ashby Donald u. a./Frankreich (CE:ECHR:2013:0110JUD003676908, Rn. 34).

    ( 26 ) Eine eingehende Prüfung dieser Problematik wurde von Peers, S., in Peers, S., u. a. (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights. A Commentary, Hart Publishing, Oxford, 2014, S. 1515 bis 1521, vorgenommen.

    ( 27 ) Genauer gesagt spricht die Charta von den „Rechten und Freiheiten anderer“, die EMRK lediglich von den „Rechten anderer“. Ich halte diese Begriffe jedoch für äquivalent.

    ( 28 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 10. Januar 2013, Ashby Donald u. a./Frankreich (CE:ECHR:2013:0110JUD003676908, Rn. 40). Vgl. auch Peers, S., a. a. O., S. 1475.

    ( 29 ) In Art. 17 Abs. 2 der Charta wird das geistige Eigentum sogar ausdrücklich erwähnt.

    ( 30 ) Vgl. als Beispiel jüngeren Datums Urteil vom 15. September 2016, Mc Fadden (C‑484/14, EU:C:2016:689, Rn. 82 bis 84).

    ( 31 ) In der EMRK wird hinzugefügt, dass die Einschränkungen „in einer demokratischen Gesellschaft“ notwendig sein müssen, was die Charta wohl als gegeben ansieht. Ich erörtere hier nicht die Anforderung, dass die Beschränkungen gesetzlicher Natur sein müssen, denn der Urheberrechtsschutz ergibt sich unbestreitbar aus dem Gesetz.

    ( 32 ) Siehe auch meine Ausführungen zur Eigenschaft dieser Dokumente als Werke in dem der Zulässigkeit der Vorlagefragen gewidmeten Teil der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 33 ) Insbesondere des Urteils vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29).

    ( 34 ) Urteil vom 3. September 2014 (C‑201/13, EU:C:2014:2132, Nr. 2 Abs. 2 des Tenors).

    ( 35 ) „[Sofern] die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zeichnung die genannten wesentlichen Merkmale der Parodie aufweist …“ (Urteil vom 3. September 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, C‑201/13, EU:C:2014:2132, Nr. 2 Abs. 3 des Tenors).

    ( 36 ) Urteil vom 3. September 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds (C‑201/13, EU:C:2014:2132, Rn. 30 bis 32).

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