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Dokument 62014CJ0375

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 28. Januar 2016.
Strafverfahren gegen Rosanna Laezza.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Frosinone.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 AEUV und 56 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Dienstleistungsfreiheit – Glücksspiel – Urteil des Gerichtshofs, mit dem nationale Vorschriften über Konzessionen für die Annahme von Wetten für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurden – Neuordnung des Systems durch eine Neuausschreibung – Unentgeltliche Gebrauchsüberlassung der im Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden – Beschränkung – Zwingende Gründe des Allgemeininteresses – Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-375/14.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2016:60

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

28. Januar 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 49 AEUV und 56 AEUV — Niederlassungsfreiheit — Dienstleistungsfreiheit — Glücksspiel — Urteil des Gerichtshofs, mit dem nationale Vorschriften über Konzessionen für die Annahme von Wetten für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurden — Neuordnung des Systems durch eine Neuausschreibung — Unentgeltliche Gebrauchsüberlassung der im Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden — Beschränkung — Zwingende Gründe des Allgemeininteresses — Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑375/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Frosinone (Landesgericht Frosinone, Italien) mit Entscheidung vom 9. Juli 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 6. August 2014, in dem Strafverfahren gegen

Rosanna Laezza

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer M. Ilešič, in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, des Richters A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin), sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. September 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau R. Laezza, vertreten durch D. Agnello, R. Jacchia, A. Terranova, F. Ferraro und M. Mura, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Marrone und S. Fiorentino, avvocati dello Stato,

der belgischen Regierung, vertreten durch J. Van Holm, L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck, B. Van Vooren und R. Verbeke, advocaten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. November 2015

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV und 56 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Frau Laezza wegen Verstoßes gegen die italienischen Vorschriften über die Annahme von Wetten.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 10 Abs. 9 octies und 9 novies des Gesetzesdekrets Nr. 16 über Eilbestimmungen zur Steuervereinfachung, zur Effizienzsteigerung und Verstärkung der Kontrollverfahren (Decreto-legge – Disposizioni urgenti in materia di semplificazioni tributarie, di efficientamento e potenziamento delle procedure di accertamento) vom 2. März 2012 (GURI Nr. 52 vom 2. März 2012), mit Änderungen umgewandelt in Gesetz Nr. 44 vom 26. April 2012 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 99 vom 28. April 2012) (im Folgenden: Gesetzesdekret von 2012) bestimmt:

„9 octies.   Im Rahmen einer Neuordnung der Bestimmungen im Bereich des öffentlichen Glücksspiels, u. a. derjenigen auf dem Gebiet der Wetten auf sportliche Ereignisse einschließlich Pferderennen und auf andere Ereignisse, sollen die Bestimmungen des vorliegenden Absatzes diese Neuordnung durch eine erste Anpassung der Zeitpunkte, zu denen die Konzessionen für die Annahme dieser Wetten ablaufen, erleichtern, wobei der Notwendigkeit einer Anpassung der nationalen Rechtsvorschriften über die Auswahl der Personen, die im Auftrag des Staates Wetten auf sportliche Ereignisse einschließlich Pferderennen und auf andere Ereignisse annehmen, an die im Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16. Februar 2012 in den Rechtssachen [Costa und Cifone (C‑72/10 und C‑77/10, EU:C:2012:80)] aufgestellten Grundsätze Rechnung zu tragen ist. Daher führt die autonome Staatsmonopolverwaltung [nunmehr Zoll- und Monopolagentur (Agenzia delle dogane e dei Monopoli, im Folgenden: ADM)] angesichts des bevorstehenden Ablaufs einer Reihe von Konzessionen für die Annahme dieser Wetten sofort und jedenfalls bis spätestens 31. Juli 2012 eine Ausschreibung zur Auswahl von Betreibern durch, die solche Wetten unter Berücksichtigung wenigstens der folgenden Voraussetzungen annehmen:

a)

Möglichkeit zur Teilnahme für Betreiber, die bereits die Tätigkeit der Annahme von Glücksspielen in einem der Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums, in dem sie ihren satzungsmäßigen oder wirtschaftlichen Sitz haben, auf Grundlage einer gültigen und wirksamen, nach dem Recht dieses Staates erteilten Genehmigung ausübten und die auch die von der [ADM] vorgesehenen Voraussetzungen in Bezug auf Redlichkeit, Zuverlässigkeit und wirtschaftlich-finanzielle Leistungsfähigkeit erfüllen, unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 220 [Gesetz mit Vorschriften über die Aufstellung des jährlichen und mehrjährigen Haushalts des Staates (Stabilitätsgesetz 2011) (Legge n. 220 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato [Legge di stabilità 2011]) vom 13. Dezember 2010 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 297 vom 21. Dezember 2010) in der durch das Gesetz Nr. 111 vom 15. Juli 2011 geänderten Fassung (im Folgenden: Stabilitätsgesetz 2011)] und des Gesetzesdekrets Nr. 98 vom 6. Juli 2011, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 111 vom 15. Juli 2011;

b)

Erteilung einer Höchstzahl von 2000 Konzessionen, die zum 30. Juni 2016 ablaufen, für die Annahme von Wetten auf sportliche Ereignisse einschließlich Pferderennen und auf andere Ereignisse ausschließlich in einem physischen Netzwerk in Annahmestellen, die die Vermarktung öffentlicher Glücksspielerzeugnisse als ausschließliche Tätigkeit betreiben, ohne Beschränkung durch Mindestabstände zwischen ihnen oder zu anderen auf dem Gebiet der gleichen Wetten bereits tätigen Annahmestellen.

c)

als Preisbestandteil wird ein Auftragspreis von 11000 Euro pro Niederlassung festgesetzt;

d)

Abschluss eines Konzessionsvertrags, dessen Inhalt mit allen anderen Grundsätzen, die aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16. Februar 2012 folgen, und mit den nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des öffentlichen Glücksspiels vereinbar ist;

e)

Möglichkeit zum Betrieb der Niederlassungen in jedem Ort oder in jeder Provinz, ohne Begrenzung der Anzahl in einem bestimmten geografischen Gebiet und ohne Vorzugsbedingungen für zur Annahme gleicher Wetten bereits zugelassene Konzessionäre oder solche Bedingungen, die sich zumindest als für diese günstig erweisen können;

f)

Kautionsleistung im Einklang mit den Bestimmungen von Art. 24 des Gesetzesdekrets Nr. 98 vom 6. Juli 2011, umgewandelt und geändert durch das Gesetz Nr. 111 vom 15. Juli 2011.

9 novies.   Die Konzessionäre für die Annahme der in Abs. 9 octies genannten Wetten, deren Konzessionen zum 30. Juni 2012 ablaufen, üben ihre Tätigkeit der Annahme bis zum Abschluss der Verträge über die nach dem vorgenannten Absatz vergebenen Konzessionen aus.“

4

Auf der Grundlage der vorstehenden Bestimmungen des Gesetzesdekrets von 2012 wurden Lizenzen mit einer Gültigkeitsdauer von 40 Monaten vergeben, während die früher erteilten Lizenzen eine Gültigkeitsdauer zwischen neun und zwölf Jahren besaßen.

5

Art. 1 Abs. 77 des Stabilitätsgesetzes 2011 bestimmt:

„Um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Interessen bei der Veranstaltung und Verwaltung öffentlicher Glücksspiele sicherzustellen, unter Berücksichtigung des Staatsmonopols auf dem Gebiet des Glücksspiels … und der für die Auswahl von Wettbewerbern in diesem Sektor geltenden Grundsätze – auch der Europäischen Union – sowie zur Steigerung der Effizienz und Effektivität der Bekämpfung der Verbreitung des unlauteren oder illegalen Glücksspiels in Italien, des Verbraucherschutzes – insbesondere von Minderjährigen, der öffentlichen Ordnung, der Bekämpfung der Spielsucht Minderjähriger und des Eindringens der organisierten Kriminalität in den Glücksspielsektor … wird [die ADM] unverzüglich eine Neufassung des Mustervertrags für Konzessionen für die Ausübung und Annahme öffentlicher Glücksspiele, die in anderer Weise als über den Fernabsatz oder zumindest über ein physisches Netzwerk erfolgen, ausarbeiten.“

6

Nach Art. 1 Abs. 78 Buchst. b Nr. 26 des Stabilitätsgesetzes 2011 muss der Konzessionsvertrag zwingend eine Klausel enthalten, die Folgendes vorsieht: „Die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung oder … der Übergang der Infrastruktur zur Spielverwaltung und ‑annahme an die [ADM] zum Zeitpunkt des Ablaufs der Konzessionsfrist erfolgt ausschließlich auf deren vorheriges Verlangen, das wenigstens sechs Monate vor diesem Fristende oder mit der Widerrufs- oder Entzugsentscheidung erklärt werden muss.“

7

Der Vertragsentwurf für die Vergabe von Konzessionen, der der im Jahr 2012 durchgeführten Ausschreibung beigefügt ist (im Folgenden: Vertragsentwurf), enthält die Gründe für den Widerruf und den Entzug der Konzessionen.

8

Nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. a, e und k des Vertragsentwurfs kann ein Widerruf oder Entzug insbesondere dann erfolgen, wenn ein Gericht über Verstöße zu entscheiden hat, die nach Ansicht der ADM belegen, dass dem Konzessionär die gebotene Zuverlässigkeit, Professionalität und sittliche Eignung fehlen, wenn öffentliche Glücksspiele in einer Weise organisiert, veranstaltet und angenommen werden, die nicht den geltenden Rechtsvorschriften und vertraglichen Bestimmungen entspricht, und wenn die im Bereich des Ordnungsrechts zur Beschränkung von Wetten und Glücksspiel zuständigen Behörden Zuwiderhandlungen feststellen.

9

Art. 25 des Vertragsentwurfs sieht vor:

„1.   Auf ausdrückliches Verlangen der ADM und für den in der Vereinbarung festgelegten Zeitraum verpflichtet sich der Konzessionär, bei Beendigung der Tätigkeit aufgrund des Ablaufs der Konzessionsfrist oder aufgrund von Entzugs- oder Widerrufsentscheidungen, die in seinem Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, der ADM oder einem von ihr in einem Vergabeverfahren ausgewählten anderen Konzessionär frei von Rechten Dritter nach Maßgabe der folgenden Absätze unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen.

2.   Die zu überlassenden Vermögensgegenstände werden gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. e in das Inventar und dessen spätere Änderungen aufgenommen.

3.   Die Gebrauchsüberlassung – die in einem kontradiktorischen Verfahren zwischen der ADM und dem Konzessionär, in dem entsprechende Protokolle erstellt werden, erfolgt – beginnt in dem Halbjahr, das dem Auslaufen des Vertrags vorangeht; dabei wird dem Erfordernis Rechnung getragen, die Funktionsfähigkeit des Systems auch während dieses Zeitraums nicht zu beeinträchtigen, da die Vermögensgegenstände der ADM in einem Zustand zu überlassen sind, der die Kontinuität der Funktionsfähigkeit des elektronischen Netzwerks gewährleistet. Die Kosten einer eventuellen physischen Verbringung der Geräte, Ausstattungen und sonstigen Bestandteile des elektronischen Netzwerks sind vom Konzessionär zu tragen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Stanley International Betting Ltd, eine im Vereinigten Königreich eingetragene Gesellschaft, und ihre maltesische Tochtergesellschaft Stanleybet Malta Ltd sind in Italien über sogenannte „Datenübertragungszentren“ auf dem Gebiet der Annahme von Wetten tätig. Seit etwa 15 Jahren üben die Inhaber der Datenübertragungszentren diese Tätigkeit in Italien in der vertraglichen Form eines Auftrags aus, ohne über eine Konzession oder eine polizeiliche Genehmigung zu verfügen.

11

Nachdem sich bei einer am 5. Juni 2014 von der Guardia di Finanza (Finanzpolizei) von Frosinone (Italien) in den Räumlichkeiten eines von Frau Laezza betriebenen, mit der Stanleybet Malta Ltd verbundenen Datenübertragungszentrums durchgeführten Kontrolle herausgestellt hatte, dass dort ohne Genehmigung Wetten angenommen wurden, wurden einige der EDV-Ausstattungen für die Entgegennahme und die Übertragung dieser Wetten beschlagnahmt.

12

Mit Beschluss vom 10. Juni 2014 bestätigte der Ermittlungsrichter des Tribunale di Cassino (Landesgericht Cassino) diese Beschlagnahme und ordnete die vorsorgliche Beschlagnahme dieser Ausstattungen an.

13

Frau Laezza beantragte beim vorlegenden Gericht, diesen Beschluss für nichtig zu erklären. In diesem Antrag verwies sie auch auf die Klage der Gesellschaften des Stanley-Konzerns, mit denen das von ihr betriebene Datenübertragungszentrum verbunden ist, auf Nichtigerklärung der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 9 octies und 9 novies des Gesetzesdekrets von 2012 durchgeführten Ausschreibung für die Vergabe von Glücksspielkonzessionen in Italien und berief sich insoweit auf deren diskriminierenden Charakter.

14

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Consiglio di Stato (Staatsrat) dem Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Stanley International Betting und Stanleybet Malta (C‑463/13, EU:C:2015:25) ergangen ist, bereits zwei Vorlagefragen gestellt hat, die insbesondere die verkürzte Geltungsdauer der neuen Konzessionen im Vergleich zu den alten Konzessionen betrafen, es ist jedoch der Ansicht, dass das Unionsrecht der nationalen Bestimmung, die diese Geltungsdauer festlege, nicht entgegenstehe.

15

Das vorlegende Gericht verweist aber auf Art. 25 des Vertragsentwurfs, der die Verpflichtung des Konzessionärs vorsieht, bei Beendigung der Tätigkeit aufgrund des Ablaufs der Konzessionsfrist oder aufgrund von Entzugs- oder Widerrufsentscheidungen die in seinem Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, einem anderen unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen.

16

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann diese Bestimmung, die in der italienischen Gesetzgebung keine Vorläufer habe, zwar eventuell in dem Fall, in dem die Beendigung der Tätigkeit auf einer Entzugs- oder Widerrufsentscheidung beruhe, einer Sanktionslogik entsprechen, erscheine aber in den Fällen, in denen es nur aufgrund des Ablaufs der Konzessionsfrist zur Beendigung der Tätigkeit komme, besonders nachteilig. Hinzu komme die Verpflichtung des Konzessionärs, alle mit dieser unentgeltlichen Gebrauchsüberlassung verbundenen Kosten zu tragen.

17

Das vorlegende Gericht äußert Zweifel daran, dass sich eine solche unterschiedliche Behandlung der alten und der neuen Konzessionäre durch ein zwingendes Erfordernis des öffentlichen Interesses rechtfertigen lässt.

18

Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Frosinone (Landesgericht Frosinone) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Zur Vorlagefrage

19

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 49 AEUV und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, der zufolge der Konzessionär verpflichtet ist, die in seinem Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, bei Beendigung der Tätigkeit aufgrund des Ablaufs der Konzessionsfrist oder aufgrund von Entzugs- oder Widerrufsentscheidungen einem anderen unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen.

20

Zunächst ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 27 und 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hervorzuheben, dass die vorliegende Rechtssache einzig die Vereinbarkeit von Art. 25 des Vertragsentwurfs mit dem Unionsrecht betrifft und nicht darauf abzielt, das neue Konzessionierungssystem, das 2012 im italienischen Glückspielsektor eingeführt wurde, insgesamt in Frage zu stellen.

Zum Vorliegen einer Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten

21

Erstens ist daran zu erinnern, dass als Beschränkungen der Niederlassungs- und/oder der Dienstleistungsfreiheit alle Maßnahmen zu verstehen sind, die die Ausübung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteil Stanley International Betting und Stanleybet Malta, C‑463/13, EU:C:2015:25, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine mitgliedstaatliche Regelung, die die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit vom Erhalt einer Konzession abhängig macht und mehrere Tatbestände des Konzessionsentzugs vorsieht, eine Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten darstellt (Urteil Stanley International Betting und Stanleybet Malta, C‑463/13, EU:C:2015:25, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Im vorliegenden Fall kann, wie der Generalanwalt in den Nrn. 62 und 63 seiner Schlussanträge im Wesentlichen dargelegt hat, eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der der Konzessionär bei Beendigung der Tätigkeit, auch wenn es aufgrund des bloßen Ablaufs der Konzessionsfrist zu dieser Beendigung kommt, verpflichtet ist, die Ausstattungen zur Annahme von Wetten einem anderen unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen, die Ausübung dieser Tätigkeit weniger attraktiv machen. Das Risiko für ein Unternehmen, die in seinem Besitz befindlichen Vermögensgegenstände einem anderen ohne finanzielle Entschädigung zum Gebrauch überlassen zu müssen, kann die Rentabilität seiner Investitionen zunichte machen.

24

Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung stellt daher eine Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten dar.

Zum behaupteten diskriminierenden Charakter der Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten

25

Zweitens ist klarzustellen, dass der Gerichtshof zwar bereits eine Reihe von zwingenden Gründen des Allgemeininteresses herausgestellt hat, die zur Rechtfertigung einer Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten geltend gemacht werden können, jedoch ist eine Berufung auf diese Ziele nicht möglich, um diskriminierend angewandte Beschränkungen zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Blanco und Fabretti, C‑344/13 und C‑367/13, EU:C:2014:2311, Rn. 37).

26

Ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende einschränkende Bestimmung nämlich diskriminierend, kann sie nur mit den in den Art. 51 AEUV und 52 AEUV vorgesehenen Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt werden, wozu weder das Ziel, Straftaten im Zusammenhang mit Glücksspielen zu bekämpfen, noch die Kontinuität der rechtmäßigen Tätigkeit der Wettannahme, die im vorliegenden Fall geltend gemacht wird, zählen (vgl. entsprechend Urteil Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, EU:C:2006:208, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Nach Ansicht von Frau Laezza ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung diskriminierend, weil sie zu einer unterschiedlichen Behandlung der Betreiber, die im Zuge der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 9 octies und 9 novies des Gesetzesdekrets von 2012 durchgeführten Ausschreibung eine Konzession erhalten hätten, und der Betreiber, die eine solche Konzession im Zuge früherer Ausschreibungen erhalten hätten, führe. Letztgenannte Betreiber hätten nämlich, bevor ihnen gegebenenfalls die Verpflichtung auferlegt werde, die für die Tätigkeit der Annahme von Wetten genutzten Vermögensgegenstände mit Ablauf der Konzessionsfrist einem anderen unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen, von einem längeren Zeitraum für die Amortisierung dieser Vermögensgegenstände profitieren können.

28

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 67 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, scheint sich aus den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen allerdings zu ergeben, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer gilt, die an der auf Grundlage von Art. 10 Abs. 9 octies und 9 novies des Gesetzesdekrets von 2012 durchgeführten Ausschreibung teilgenommen haben, und zwar unabhängig vom Standort ihrer Niederlassung.

29

Somit ergibt sich, dass der Umstand, dass die italienischen Behörden beschlossen haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt die Voraussetzungen zu ändern, unter denen alle Wirtschaftsteilnehmer, die über eine Genehmigung verfügen, ihre Tätigkeit der Annahme von Wetten in Italien ausüben, für die Beurteilung eines möglicherweise diskriminierenden Charakters der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung nicht relevant ist.

30

Das vorlegende Gericht hat jedoch nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände, die bei dem neuen Ausschreibungsverfahren eine Rolle gespielt haben, zu beurteilen, ob diese Bestimmung diskriminierend ist.

Zur Rechtfertigung der Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten

31

Drittens ist zu prüfen, ob die Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten, wie sie durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung erfolgt, im Rahmen der Ausnahmeregelungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die in den nach Art. 62 AEUV auch auf dem Gebiet des freien Dienstleistungsverkehrs anwendbaren Art. 51 AEUV und 52 AEUV ausdrücklich vorgesehen sind, zulässig oder, sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass diese Bestimmung ohne Diskriminierung angewandt wird, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Digibet und Albers, C‑156/13, EU:C:2014:1756, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung), wie etwa dem Verbraucherschutz, der Betrugsvorbeugung und der Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen (Urteil HIT und HIT LARIX, C‑176/11, EU:C:2012:454, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Der Gerichtshof hat hinsichtlich der italienischen Regelung über Glücksspiele bereits festgestellt, dass das Ziel, Straftaten im Zusammenhang mit Glücksspielen zu bekämpfen, geeignet ist, Beschränkungen der Grundfreiheiten, die sich aus dieser Regelung ergeben, zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Biasci u. a., C‑660/11 und C‑8/12, EU:C:2013:550, Rn. 23).

33

Im vorliegenden Fall macht die italienische Regierung geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung im Rahmen des Ziels, Straftaten im Zusammenhang mit Glücksspielen zu bekämpfen, durch das Interesse an der Kontinuität der rechtmäßigen Tätigkeit der Wettannahme, durch die der Entwicklung einer rechtswidrigen Paralleltätigkeit Einhalt geboten werden solle, gerechtfertigt sei.

34

Ein solches Ziel kann einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der geeignet ist, eine Beschränkung von Grundfreiheiten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu rechtfertigen.

35

Für die Feststellung, welche Ziele mit der genannten Bestimmung tatsächlich verfolgt werden, ist allerdings das vorlegende Gericht zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 47).

Zur Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der durch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV garantierten Freiheiten

36

Viertens ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, da eine solche einschränkende nationale Regelung diese Voraussetzung nur dann erfüllt, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil HIT und HIT LARIX, C‑176/11, EU:C:2012:454, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

In dieser Hinsicht ist daran zu erinnern, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände, die bei der Erteilung der neuen Konzessionen eine Rolle gespielt haben, unter Berücksichtigung der Hinweise des Gerichtshofs zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügt (vgl. in diesem Sinne Urteil Digibet und Albers, C‑156/13, EU:C:2014:1756, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Hinsichtlich der Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels sicherzustellen, wird das vorlegende Gericht, wie der Generalanwalt in den Nrn. 91 bis 93 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, insbesondere zu prüfen haben, ob sich der Umstand, dass die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung der materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, an die ADM oder an einen anderen Konzessionär nicht systematisch angeordnet wird, sondern nur „[a]uf ausdrückliches Verlangen der ADM“ erfolgt, auf die Geeignetheit der im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmung, das angestrebte Ziel zu erreichen, auswirken kann.

39

Was die Frage betrifft, ob diese Bestimmung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Fall des Entzugs oder des Widerrufs des betreffenden Konzessionsvertrags als Sanktionsmaßnahme die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung der materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, an die ADM oder einen anderen Konzessionär verhältnismäßig ist.

40

Wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge dargelegt hat, ist dies hingegen nicht zwangsläufig der Fall, wenn es aufgrund des bloßen Ablaufs der Konzession zur Beendigung der Tätigkeit kommt.

41

Läuft nämlich der Konzessionsvertrag, der für eine erheblich kürzere Dauer als die vor dem Erlass des Gesetzesdekrets von 2012 eingegangenen Verträge geschlossen wurde, in der vorgesehenen Weise zum Ende der Konzessionsfrist ab, scheint der unentgeltliche Charakter einer solchen Überlassungsverpflichtung dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu widersprechen, insbesondere wenn das Ziel der Kontinuität der genehmigten Tätigkeit der Wettannahme durch weniger belastende Maßnahmen erreicht werden könnte, wie etwa eine entgeltliche Überlassungsverpflichtung der betreffenden Vermögensgegenstände zu deren Marktwert.

42

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 96 und 97 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat das vorlegende Gericht im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung auch den Marktwert der Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, die Gegenstand der Überlassungsverpflichtung sind.

43

Im Übrigen ist auf die Beeinträchtigung der Rechtssicherheit hinzuweisen, zu der die mangelnde Transparenz der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung führen kann. Diese Bestimmung, die vorsieht, dass die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung der Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, nur „[a]uf ausdrückliches Verlangen der ADM“ und nicht systematisch erfolgt, legt nämlich die Bedingungen und Modalitäten, nach denen ein solches Verlangen zum Ausdruck gebracht werden muss, nicht näher fest. Die Bedingungen und Modalitäten einer Ausschreibung wie der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen müssen jedoch klar, genau und eindeutig formuliert sein (vgl. in diesem Sinne Urteil Costa und Cifone, C‑72/10 und C‑77/10, EU:C:2012:80, Rn. 92 und Tenor).

44

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Art. 49 AEUV und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer einschränkenden nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach der der Konzessionär verpflichtet ist, die in seinem Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, bei Beendigung der Tätigkeit aufgrund des Ablaufs der Konzessionsfrist einem anderen unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen, entgegenstehen, sofern diese Beschränkung über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit dieser Bestimmung tatsächlich verfolgten Ziels erforderlich ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

Kosten

45

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer einschränkenden nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach der der Konzessionär verpflichtet ist, die in seinem Eigentum stehenden materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände, die die Infrastruktur der Spielverwaltung und ‑annahme bilden, bei Beendigung der Tätigkeit aufgrund des Ablaufs der Konzessionsfrist einem anderen unentgeltlich zum Gebrauch zu überlassen, entgegenstehen, sofern diese Beschränkung über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit dieser Bestimmung tatsächlich verfolgten Ziels erforderlich ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

 

Unterschriften


( *1 )   Verfahrenssprache: Italienisch.

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