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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62014CJ0561

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. April 2016.
Caner Genc gegen Integrationsministeriet.
Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG – Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 13 – Stillhalteklausel – Familienzusammenführung – Nationale Regelung, die neue und strengere Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Fall nicht erwerbstätiger Familienangehöriger von erwerbstätigen türkischen Staatsangehörigen vorsieht, die sich im fraglichen Mitgliedstaat aufhalten und dort aufenthaltsberechtigt sind – Voraussetzung einer hinreichenden Verbindung, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen.
Rechtssache C-561/14.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2016:247

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

12. April 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Assoziierungsabkommen EWG — Türkei — Beschluss Nr. 1/80 — Art. 13 — Stillhalteklausel — Familienzusammenführung — Nationale Regelung, die neue und strengere Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Fall nicht erwerbstätiger Familienangehöriger von erwerbstätigen türkischen Staatsangehörigen vorsieht, die sich im fraglichen Mitgliedstaat aufhalten und dort aufenthaltsberechtigt sind — Voraussetzung einer hinreichenden Verbindung, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen“

In der Rechtssache C‑561/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost, Dänemark) mit Entscheidung vom 3. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2014, in dem Verfahren

Caner Genc

gegen

Integrationsministeriet

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, F. Biltgen und C. Lycourgos, der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet, J. Malenovský und E. Levits, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters M. Vilaras,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: T. Millett, Beigeordneter Kanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Genc, vertreten durch T. Ryhl, advokat,

der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning als Bevollmächtigten im Beistand von R. Holdgaard, advokat,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Clausen, C. Tufvesson, D. Martin und F. Erlbacher als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80), der dem von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ABl. 1964, 217, S. 3685) (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) beigefügt ist.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Genc und dem Integrationsministerium wegen dessen Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Dänemark zum Zweck der Familienzusammenführung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Assoziierungsabkommen

3

Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.

4

Art. 12 des Assoziierungsabkommens lautet: „Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“ In Art. 13 des Abkommens vereinbaren die Vertragsparteien, „sich von den Artikeln [43 EG] bis [46 EG] und [48 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben“.

Beschluss Nr. 1/80

5

Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“

6

Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:

„(1)   Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.

(2)   Er berührt nicht die Rechte und Pflichten, die sich aus den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder zweiseitigen Abkommen zwischen der Türkei und den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ergeben, soweit sie für ihre Staatsangehörigen eine günstigere Regelung vorsehen.“

Zusatzprotokoll

7

Das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll) ist nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens.

8

Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls sieht vor:

„Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“

Dänisches Recht

9

Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d des Ausländergesetzes (Udlændingeloven) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: dänisches Ausländergesetz) kann einem unverheirateten minderjährigen Kind, welches das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, einer Person, die sich dauerhaft in Dänemark aufhält, oder des Ehegatten dieser Person, sofern das Kind sich bei der Person, der das Sorgerecht für das Kind zusteht, aufhält und keine eigene Familie durch eine Lebensgemeinschaft gegründet hat und sofern der Person, die ihren Daueraufenthalt in Dänemark hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit zum Daueraufenthalt erteilt worden ist, auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.

10

§ 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes, der durch das Gesetz Nr. 427 vom 9. Juni 2004 zur Änderung des dänischen Ausländergesetzes und des Integrationsgesetzes eingeführt worden ist, bestimmt:

„In Fällen, in denen der Antragsteller und einer seiner Elternteile im Herkunftsland oder einem Drittland wohnen, kann eine Aufenthaltserlaubnis nach [§ 9] Abs. 1 Nr. 2 [dieses Gesetzes] nur erteilt werden, wenn der Antragsteller zu Dänemark eine solche Verbindung hat oder die Möglichkeit zu deren Entwicklung hat, dass die Grundlage für eine erfolgreiche Integration gegeben ist. Dies gilt nicht, wenn der Antrag spätestens zwei Jahre nach dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem die sich in Dänemark aufhaltende Person die Voraussetzungen von § 9 Abs. 1 Nr. 2 [dieses Gesetzes] erfüllt, oder wenn besondere zwingende Gründe, etwa bei Berücksichtigung des Familienverbands, dagegen sprechen.“

11

Nach den Gesetzesmaterialien zu § 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes soll diese Vorschrift verhindern, dass Eltern ihr Kind absichtlich mit einem Elternteil des Kindes im Herkunftsstaat zurücklassen, bis es fast erwachsen ist, obwohl das Kind bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis in Dänemark hätte erlangen können, um auf diese Weise sicherzustellen, dass das Kind in der Kultur und nach den Sitten des Herkunftsstaats aufwächst und in seiner Kindheit nicht von dänischen Normen und Wertvorstellungen beeinflusst wird.

12

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass nach der in der Mitteilung des Integrationsministeriums vom 2. Juli 2007 beschriebenen Praxis die Fähigkeit des minderjährigen Kindes, sich erfolgreich zu integrieren, einer Beurteilung nach Ermessensgesichtspunkten unterliegt, wozu insbesondere Kriterien zählen wie die Dauer und die Art des Aufenthalts des Kindes in den jeweiligen Staaten sowie u. a. ein eventueller vorheriger Aufenthalt des Kindes in Dänemark, der Staat, in dem es den Großteil seiner Kindheit und Jugend verbracht hat, der Ort, an dem es die Schule besucht hat, und die Fragen, ob das Kind Dänisch spricht, ob es die Sprache seines Herkunftsstaats spricht und ob es während seiner Kindheit zu einem hinreichenden Grad von dänischen Normen und Wertvorstellungen beeinflusst worden ist, um zu Dänemark eine solche Verbindung oder die Möglichkeit zu deren Entwicklung zu haben, dass die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat gegeben ist. Zudem wird im Zusammenhang mit den übrigen Umständen auch der Frage eine gewisse Bedeutung zugemessen, ob derjenige Elternteil, der sich dauerhaft in Dänemark aufhält, dort gut integriert ist und eine enge Verbindung mit der dänischen Gesellschaft aufweist.

13

Aus der Vorlageentscheidung geht des Weiteren hervor, dass es in bestimmten Ausnahmefällen ganz besondere Gründe gibt, aus denen die Voraussetzung einer hinreichenden, eine gute Integration ermöglichenden Verbindung mit diesem Mitgliedstaat nicht erforderlich ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Ablehnung der Familienzusammenführung den internationalen Verpflichtungen des Königreichs Dänemark oder dem überwiegenden Kindesinteresse im Sinne des am 20. November 1989 unterzeichneten und von allen Mitgliedstaaten ratifizierten New Yorker Übereinkommens über die Rechte des Kindes widerspräche oder wenn es wegen einer schweren Krankheit oder einer schweren Behinderung aus humanitärer Sicht unvertretbar wäre, den sich dauerhaft in Dänemark aufhaltenden Elternteil in einen Staat zurückzuschicken, in dem keine Aufnahme- und Behandlungsmöglichkeit besteht, oder wenn der Elternteil, der im Herkunftsstaat wohnt, nicht in der Lage ist, für das betreffende Kind zu sorgen.

14

Das vorlegende Gericht führt aus, dass § 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes nur für Anträge auf Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, die sich in Dänemark aufhalten, und ihren Familienangehörigen gilt und dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 keine Regelung wie die des § 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes galt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Herr Genc, der Kläger des Ausgangsverfahrens, ist ein am 17. August 1991 geborener türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, reiste am 14. Dezember 1997 nach Dänemark ein und besitzt seit dem 21. April 2001 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in diesem Mitgliedstaat.

16

Die Eltern von Herrn Genc wurden mit Urteil eines Gerichts in Haymana (Türkei) vom 30. Dezember 1997 geschieden. Obgleich der Vater des Klägers des Ausgangsverfahrens sowohl für Herrn Genc als auch für dessen zwei ältere Brüder das Sorgerecht erhalten hatte, lebte der Kläger des Ausgangsverfahrens nach der Scheidung weiterhin bei seinen Großeltern in der Türkei.

17

Die beiden älteren Brüder von Herrn Genc besitzen seit Mai 2003 eine Aufenthaltserlaubnis in Dänemark.

18

Am 5. Januar 2005 beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens erstmals eine Aufenthaltserlaubnis in Dänemark. Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater als Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat beschäftigt.

19

Am 15. August 2006 lehnte die dänische Ausländerbehörde (Udlændingeservice) seinen Antrag auf der Grundlage von § 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes ab, da der Betroffene keine hinreichende Verbindung mit Dänemark, um ihm eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat zu ermöglichen, besitze oder besitzen könne. Diese Entscheidung wurde am 18. Dezember 2006 vom Integrationsministerium bestätigt.

20

In seiner Entscheidung vom 18. Dezember 2006 kam das Integrationsministerium unter Berücksichtigung insbesondere der Gesichtspunkte, dass Herr Genc in der Türkei geboren worden sei, dort seine ganze Kindheit verbracht habe und bis zu diesem Zeitpunkt zur Schule gegangen sei, dass er niemals in Dänemark gewesen sei, dass er nur Türkisch spreche, dass es nichts gebe, was ihn mit der dänischen Gesellschaft verbinde, und dass er seinen Vater in den letzten zwei Jahren nur zweimal gesehen habe, zu dem Ergebnis, dass er in seiner Jugend nicht zu einem solchen Grad durch die dänischen Werte und Normen geprägt worden sei, dass er eine hinreichende Verbindung mit Dänemark, um ihm eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat zu ermöglichen, besitze oder besitzen könne.

21

Das Integrationsministerium war ferner der Ansicht, dass auch nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Vater von Herrn Genc so gut in die dänische Gesellschaft integriert sei und er eine hinreichend starke Verbindung mit dieser habe, um im Hinblick auf den Kläger des Ausgangsverfahrens zu einem anderen Ergebnis als dem in der vorherigen Randnummer genannten gelangen zu können.

22

Schließlich führte das Integrationsministerium aus, dass es ungeachtet des Umstands, dass Herr Genc eine hinreichende Verbindung mit Dänemark, um ihm eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen, nicht besitze und nicht besitzen könne, keine besonderen Gründe, etwa bei Berücksichtigung des Familienverbands, gebe, die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ihn sprächen, und dass für den Vater des Klägers des Ausgangsverfahrens auch keine ernsthaften Hindernisse bestünden, in die Türkei einzureisen, um dort ein Familienleben mit Herrn Genc führen zu können, oder aber ein Familienleben unter denselben Umständen wie jenen nach seiner freiwilligen Einreise nach Dänemark im Jahr 1997 fortzusetzen.

23

Am 17. September 2007 lehnte das Integrationsministerium die Überprüfung des von Herrn Genc gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab.

24

Daraufhin erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Klage beim Glostrup Ret (Gericht Glostrup, Dänemark), das mit Urteil vom 9. Dezember 2011 die Entscheidung des Integrationsministeriums, die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu versagen, bestätigte.

25

Gegen dieses Urteil legte Herr Genc Berufung beim Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost, Dänemark) ein.

26

Der Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost) führt aus, es sei vom Gerichtshof in dem Urteil Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066) anerkannt worden, dass die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit dahin auszulegen sei, dass sie einem Mitgliedstaat die Einführung neuer Beschränkungen einer möglichen Familienzusammenführung mit einem aus der Türkei stammenden Ehegatten verwehre.

27

Der Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost) hat jedoch zum Ersten Zweifel an der Vereinbarkeit dieses Urteils sowohl mit der älteren Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Stillhalteklauseln als auch mit dem historischen Kontext und dem Zweck des Assoziierungsabkommens.

28

Zum Zweiten wirft er die Frage auf, ob der rechtliche Grundsatz, der sich aus dem Urteil Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066) für die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ergebe, angesichts des unterschiedlichen Wortlauts beider Vorschriften auch für Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 gelte.

29

Schließlich verweist das vorlegende Gericht auf die Urteile Demir (C‑225/12, EU:C:2013:725) und Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066), wonach neue Beschränkungen im Anwendungsbereich einer Stillhalteklausel dann zulässig sein könnten, wenn die Beschränkung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet sei, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe. Damit stelle sich sowohl die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Auslegung mit dem Urteil Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734) als auch die, nach welchen Maßstäben bei der Prüfung der Beschränkung und der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit vorzugehen sei.

30

In diesem Kontext hat der Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und/oder die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen, dass neue und verschärfte Voraussetzungen für den Nachzug wirtschaftlich nicht tätiger Familienangehöriger, einschließlich minderjähriger Kinder, von wirtschaftlich tätigen türkischen Staatsangehörigen, die sich mit einer Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat aufhalten, von der Stillhalteverpflichtung erfasst werden unter Berücksichtigung

a)

der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der Stillhalteklauseln in seinen Urteilen Derin (C‑325/05, EU:C:2007:442), Ziebell (C‑371/08, EU:C:2011:809), Dülger (C‑451/11, EU:C:2012:504) und Demirkan (C‑221/11, EU:C:2013:583),

b)

des Ziels und des Inhalts des Assoziierungsabkommens in der Auslegung in den Urteilen Ziebell (C‑371/08, EU:C:2011:809) und Demirkan (C‑221/11, EU:C:2013:583) und unter Berücksichtigung

des Umstands, dass das Assoziierungsabkommen und die ihm beigefügten Protokolle und Beschlüsse keine Bestimmungen über die Familienzusammenführung enthalten, sowie

des Umstands, dass die Familienzusammenführung damals in der Europäischen Gemeinschaft und jetzt in der Europäischen Union stets im abgeleiteten Recht geregelt war, derzeit in der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77)?

2.

Der Gerichtshof wird ersucht, im Rahmen der Beantwortung der ersten Frage anzugeben, ob ein etwaiges abgeleitetes Recht auf Familienzusammenführung für Familienangehörige wirtschaftlich tätiger türkischer Staatsangehöriger, die sich mit einer Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat aufhalten, auf Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer nach Maßgabe von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 oder nur auf Familienangehörige selbständig erwerbstätiger türkischer Personen nach Maßgabe von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls Anwendung findet?

3.

Falls die erste Frage in Verbindung mit der zweiten Frage bejaht wird, wird der Gerichtshof um Angabe ersucht, ob die Stillhalteklausel in Art. 13 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine neue Beschränkung, die „durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet [ist], die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und … nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus[geht]“, (auch über Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 hinaus) zulässig ist?

4.

Falls die dritte Frage bejaht wird, wird der Gerichtshof insbesondere um folgende Angaben ersucht:

a)

Anhand welcher Maßstäbe ist die Beurteilung der Zulässigkeit von Beschränkungen und der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen? Der Gerichtshof wird u. a. um Angabe ersucht, ob dieselben Grundsätze gelten, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Familienzusammenführung im Rahmen der Freizügigkeit der Unionsbürger aufgestellt worden sind und die auf der Richtlinie 2004/38 bzw. den Bestimmungen des AEUV beruhen, oder ob ein anderer Beurteilungsmaßstab anzuwenden ist.

b)

Falls ein anderer Beurteilungsmaßstab anzuwenden ist als derjenige, der sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Familienzusammenführung im Rahmen der Freizügigkeit der Unionsbürger ergibt, wird der Gerichtshof außerdem um Angabe ersucht, ob die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die im Rahmen von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Achtung des Familienlebens und in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durchgeführt wird, als Anknüpfungspunkt dienen sollte oder, falls nicht, welche anderweitigen Grundsätze zu beachten sind.

c)

Unabhängig davon, welche Beurteilungsmethode anzuwenden ist: Kann eine Vorschrift wie § 9 Abs. 16 (zuvor § 9 Abs. 13) des dänischen Ausländergesetzes in der geänderten Fassung – wonach für die Familienzusammenführung zwischen einem Drittstaatsangehörigen, der sich mit einer Aufenthaltserlaubnis in Dänemark aufhält, und seinem minderjährigen Kind, wenn sich das Kind und der andere Elternteil des Kindes im Herkunftsland oder in einem Drittland aufhalten, zur Voraussetzung gemacht wird, dass das Kind mit Dänemark eine solche Verbindung hat oder die Möglichkeit zu deren Entwicklung hat, dass die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in Dänemark gegeben ist – als eine Regelung angesehen werden, die „durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet [ist], die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und … nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus[geht]“?

31

Mit Schreiben, das am 30. März 2015 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die dänische Regierung gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, dass dieser als Große Kammer tagt.

Zu den Vorlagefragen

32

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die es für die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat legal aufhält, und seinem minderjährigen Kind zur Voraussetzung macht, dass das Kind eine hinreichende Verbindung mit diesem Mitgliedstaat, um ihm eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen, besitzt oder besitzen kann, wenn das Kind und sein anderer Elternteil im Herkunftsstaat oder in einem Drittstaat ansässig sind und der Antrag auf Familienzusammenführung nach einer Frist von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem der Elternteil, der seinen Aufenthalt im betreffenden Mitgliedstaat hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit zum Daueraufenthalt erhalten hat, eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und/oder von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellt und ob, sollte dies der Fall sein, eine solche Beschränkung gleichwohl gerechtfertigt sein kann.

33

Nach ständiger Rechtsprechung verbieten die in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltenen Stillhalteklauseln allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit durch einen türkischen Staatsangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses oder des Zusatzprotokolls in diesem Mitgliedstaat galten (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, C‑37/98, EU:C:2000:224, Rn. 69, sowie Sahin, C‑242/06, EU:C:2009:554, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung, nämlich § 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes, nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 und des Zusatzprotokolls in Dänemark eingeführt worden ist und dass diese Bestimmung eine Verschärfung der zuvor für minderjährige Kinder von Arbeitnehmern, die Staatsangehörige eines Drittstaats sind, bestehenden Voraussetzungen für die Zulassung der Familienzusammenführung nach sich zieht, so dass sie diese Familienzusammenführung erschwert.

35

Des Weiteren steht fest, dass Herr Genc nach Dänemark einreisen möchte, um dort zu seinem Vater zu ziehen. Es ist ebenfalls unstreitig, dass der Vater von Herrn Genc zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser seine Aufenthaltserlaubnis beantragt hat, in Dänemark als Arbeitnehmer beschäftigt war.

36

Unter diesen Umständen ist es der Vater des Klägers des Ausgangsverfahrens, dessen Situation einen Bezug zu einer wirtschaftlichen Freiheit, hier der Arbeitnehmerfreizügigkeit, aufweist und der daher als ordnungsgemäß in den dänischen Arbeitsmarkt eingegliederter Arbeitnehmer unter Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, C‑37/98, EU:C:2000:224, Rn. 58, sowie Abatay u. a., C‑317/01 und C‑369/01, EU:C:2003:572, Rn. 75 bis 84).

37

Folglich ist nur auf die Situation des im betreffenden Mitgliedstaat wohnenden türkischen Arbeitnehmers, im vorliegenden Fall also die des Vaters von Herrn Genc, abzustellen, um zu klären, ob nach der Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unangewendet zu lassen ist, wenn diese erwiesenermaßen geeignet ist, seine Freiheit zur Ausübung einer Tätigkeit als Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat zu beeinträchtigen.

38

Somit ist zu untersuchen, ob die Einführung einer neuen Regelung, die die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme der minderjährigen Kinder türkischer Staatsangehöriger, die sich, wie der Vater von Herrn Genc, als Arbeitnehmer in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, im Vergleich zu denjenigen verschärft, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in diesem Mitgliedstaat galten, eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in dem Mitgliedstaat darstellen kann.

39

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellt (Urteil Dogan, C‑138/13, EU:C:2014:2066, Rn. 36).

40

Der Grund hierfür ist, dass es sich auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, negativ auswirken kann, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Dogan, C‑138/13, EU:C:2014:2066, Rn. 35).

41

Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die Auslegung des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ebenso in Bezug auf die Stillhalteverpflichtung gelten muss, die die Grundlage von Art. 13 im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit bildet, da die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und diejenige in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls gleichartig sind und die beiden Klauseln dasselbe Ziel verfolgen (Urteil Kommission/Niederlande, C‑92/07, EU:C:2010:228, Rn. 48).

42

Folglich lässt sich die Auslegung, die der Gerichtshof in Rn. 36 des Urteils Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066) gegeben hat, auf das Ausgangsverfahren übertragen.

43

Soweit das vorlegende Gericht und die dänische Regierung Zweifel an der Vereinbarkeit der im Urteil Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066) gewählten Auslegung mit dem ausschließlich wirtschaftlichen Zweck des Assoziierungsabkommens äußern, ist darauf hinzuweisen, dass es, wie sich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen der Ausübung wirtschaftlicher Freiheiten durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat und der Familienzusammenführung – weil nämlich die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt der Familienangehörigen dieses türkischen Staatsangehörigen geeignet erschienen, seine Ausübung dieser Freiheiten zu beeinträchtigen – war, was den Gerichtshof im Urteil Dogan zu der Schlussfolgerung veranlasst hat, dass die in jenem Urteil fragliche Regelung in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls fiel.

44

Demgemäß fällt, wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine nationale Regelung, die die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verschärft – wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende –, nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, als sie geeignet ist, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats durch türkische Arbeitnehmer – wie den Vater von Herrn Genc – zu beeinträchtigen.

45

Daher umfassen die Stillhalteklauseln in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof weder die Anerkennung eines Rechts auf Familienzusammenführung noch die eines Niederlassungs- und Aufenthaltsrechts für Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer.

46

Hinsichtlich der Familienzusammenführung misst die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie aus dem Urteil Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066) hervorgeht, der Stillhalteklausel keine andere Wirkung als die bei, dass die Aufstellung neuer Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verboten wird, die geeignet wären, die Ausübung der wirtschaftlichen Freiheiten durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat zu beeinträchtigen.

47

Schließlich bestand in der Rechtssache, in der das von der dänischen Regierung vor allem angeführte Urteil Demirkan (C‑221/11, EU:C:2013:583) ergangen ist, keinerlei Zusammenhang der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art.

48

Dieses Urteil betraf vielmehr eine türkische Staatsangehörige, die sich für ihre Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat auf die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls mit der Begründung berufen hatte, dass sie nach ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Empfängerin von Dienstleistungen sein würde. Da der Gerichtshof jedoch befand, dass die passive Dienstleistungsfreiheit vom Begriff des „freien Dienstleistungsverkehrs“ nicht umfasst wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 60 und 63), bestand kein Zusammenhang zwischen der Einreise und dem Aufenthalt dieser türkischen Staatsangehörigen im betreffenden Mitgliedstaat und der Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit, womit sie sich nicht auf die Stillhalteklausel berufen konnte.

49

Die aus dem Urteil Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066) hervorgehende Auslegung steht außerdem im Einklang mit der vom Gerichtshof zu Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 entwickelten Auslegung, wonach der Zweck dieser weiteren Bestimmung des Beschlusses darin besteht, die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu fördern, um die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaats angehört, zu erleichtern (vgl. Urteile Kadiman, C‑351/95, EU:C:1997:205, Rn. 34 bis 36, Eyüp, C‑65/98, EU:C:2000:336, Rn. 26, und Ayaz, C‑275/02, EU:C:2004:570, Rn. 41).

50

Daher ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme minderjähriger Kinder von sich im betreffenden Mitgliedstaat als Arbeitnehmer aufhaltenden türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, und die somit geeignet ist, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet zu beeinträchtigen, eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in dem Mitgliedstaat darstellt.

51

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 galten, verboten ist, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 dieses Beschlusses aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (Urteil Demir, C‑225/12, EU:C:2013:725, Rn. 40).

52

Nach Art. 12 des Assoziierungsabkommens haben die Vertragsparteien im Einklang mit dem ausschließlich wirtschaftlichen Zweck, der die Grundlage der Assoziation EWG–Türkei bildet, nämlich vereinbart, sich von den die Arbeitnehmerfreizügigkeit betreffenden Bestimmungen des Primärrechts der Europäischen Union leiten zu lassen, so dass die im Rahmen dieser Bestimmungen geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden müssen, die Rechte aufgrund dieses Assoziierungsabkommens besitzen (vgl. in diesem Sinne Urteil Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 58 und 65 bis 68).

53

Es ist damit zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt und daher rechtmäßig ist.

54

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die in § 9 Abs. 13 des dänischen Ausländergesetzes vorgesehene Voraussetzung nicht unter Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 fällt. Die dänische Regierung macht hingegen geltend, dass diese Voraussetzung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich die Gewährleistung einer erfolgreichen Integration, gerechtfertigt sei und dass sie verhältnismäßig sei, weil diese Bestimmung geeignet sei, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und auch nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe.

55

Hinsichtlich der Frage, ob das Ziel, eine erfolgreiche Integration zu erreichen, einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die Integrationsmaßnahmen im Rahmen des Unionsrechts beigemessen wird, wie sich aus Art. 79 Abs. 4 AEUV, der sich auf die Begünstigung der Integration der Drittstaatsangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaaten als zu fördernde und zu unterstützende Bemühungen der Mitgliedstaaten bezieht, und aus mehreren Richtlinien, wie der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12) und der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), ergibt, denen zufolge die Integration von Drittstaatsangehörigen entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts beiträgt, der als eines der Hauptziele der Union im Vertrag angegeben ist.

56

Unter diesen Umständen kann, wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das von der dänischen Regierung geltend gemachte Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration der Drittstaatsangehörigen im betreffenden Mitgliedstaat einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen.

57

Was die Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung betrifft, so ist, da diese Bestimmung – wie in Rn. 50 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist – eine Beschränkung der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer darstellt, darauf hinzuweisen, dass ihre Beurteilung, wie der Generalanwalt in den Nrn. 37 und 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, anhand dieser Freiheit vorzunehmen ist, wie sie den türkischen Staatsangehörigen nach Maßgabe der die Assoziation EWG–Türkei regelnden Bestimmungen zusteht.

58

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass es nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung für die Familienzusammenführung in Fällen, in denen das betreffende Kind und ein Elternteil im Herkunftsstaat oder einem Drittstaat ansässig sind, grundsätzlich erforderlich ist, dass das Kind eine hinreichende Verbindung mit Dänemark, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen, besitzt oder besitzen kann.

59

Diese Voraussetzung findet jedoch nur Anwendung, wenn der Antrag mehr als zwei Jahre nach dem Zeitpunkt gestellt wird, an dem der Elternteil, der seinen Aufenthalt im dänischen Hoheitsgebiet hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit Möglichkeit zum Daueraufenthalt erhalten hat.

60

Da, wie die dänische Regierung vorbringt, das Erfordernis, eine hinreichende Verbindung mit Dänemark nachzuweisen, für die betreffenden Kinder eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat gewährleisten soll, geht die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung offenkundig von der Annahme aus, dass sich diejenigen Kinder, für die der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb der gesetzten Frist gestellt worden ist, in einer Lage befinden, in der ihre Integration in Dänemark nur gewährleistet ist, wenn sie dieses Erfordernis erfüllen.

61

Dieses Erfordernis, das durch das Ziel einer Ermöglichung der Integration der betreffenden minderjährigen Kinder in Dänemark gerechtfertigt sein soll, gelangt jedoch nicht nach Maßgabe der persönlichen Situation der Kinder zur Anwendung, die einen negativen Einfluss auf ihre Integration im betreffenden Mitgliedstaat haben kann, wie etwa ihr Alter oder ihre Verbindungen mit diesem Mitgliedstaat, sondern nach Maßgabe eines Kriteriums, das von vornherein keinen Zusammenhang mit den Chancen für die Erreichung dieser Integration aufweist, nämlich der Zeitspanne zwischen der Gewährung einer endgültigen Aufenthaltserlaubnis in Dänemark für den betreffenden Elternteil und dem Tag der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung.

62

Insoweit ist schwer nachvollziehbar, inwiefern die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung nach der Zweijahresfrist, die der Erteilung einer endgültigen Aufenthaltserlaubnis in Dänemark an den sich in diesem Mitgliedstaat aufhaltenden Elternteil folgt, das Kind in eine ungünstigere Situation versetzt, um seine Integration in Dänemark zu ermöglichen, weshalb der Antragsteller verpflichtet sein soll, eine hinreichende Verbindung des Kindes mit diesem Mitgliedstaat nachzuweisen.

63

Der Umstand, dass der Antrag auf Familienzusammenführung vor oder nach den zwei Jahren gestellt worden ist, die der Erteilung der endgültigen Aufenthaltserlaubnis an den sich im betreffenden Mitgliedstaat aufhaltenden Elternteil folgen, kann nämlich für sich genommen kein Indiz bilden, das als solches darüber Aufschluss böte, welche Absichten die Eltern des von diesem Antrag betroffenen Minderjährigen hinsichtlich seiner Integration in diesem Mitgliedstaat hegen.

64

Im Übrigen führt die Verwendung dieses Kriteriums für die Abgrenzung, für welche Kinder eine hinreichende Verbindung mit Dänemark nachzuweisen ist und für welche nicht, zu unstimmigen Ergebnissen bei der Beurteilung der Fähigkeit, sich erfolgreich in diesem Mitgliedstaat zu integrieren.

65

Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, findet dieses Kriterium zum einen ohne Berücksichtigung der persönlichen Situation des Kindes und seiner Verbindungen mit dem fraglichen Mitgliedstaat Anwendung und birgt zum anderen die Gefahr in sich, dass je nach dem Zeitpunkt der Antragstellung für die Familienzusammenführung Kinder ungleich behandelt werden, die sich sowohl im Hinblick auf ihr Alter als auch auf ihre Verbindungen zu Dänemark sowie hinsichtlich ihrer Beziehung zu dem dort ansässigen Elternteil in einer völlig gleichartigen persönlichen Situation befinden.

66

Dazu ist festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die Beurteilung der persönlichen Situation des betreffenden Kindes durch die nationalen Behörden auf der Grundlage hinreichend genauer, objektiver und nicht diskriminierender Kriterien zu erfolgen hat, die im Einzelfall zu prüfen sind und deren Anwendung zu einer mit Gründen versehenen Entscheidung führen muss, gegen die mit einem wirksamen Rechtsbehelf vorgegangen werden kann, um eine Verwaltungspraxis der systematischen Ablehnung zu vermeiden.

67

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die es für die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat legal aufhält, und seinem minderjährigen Kind zur Voraussetzung macht, dass das Kind eine hinreichende Verbindung mit diesem Mitgliedstaat, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen, besitzt oder besitzen kann, wenn das Kind und sein anderer Elternteil im Herkunftsstaat oder in einem Drittstaat ansässig sind und der Antrag auf Familienzusammenführung nach einer Frist von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem der Elternteil, der seinen Aufenthalt im betreffenden Mitgliedstaat hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit zum Daueraufenthalt erhalten hat, eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellt. Eine solche Beschränkung ist nicht gerechtfertigt.

Kosten

68

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die es für die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat legal aufhält, und seinem minderjährigen Kind zur Voraussetzung macht, dass das Kind eine hinreichende Verbindung mit diesem Mitgliedstaat, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen, besitzt oder besitzen kann, wenn das Kind und sein anderer Elternteil im Herkunftsstaat oder in einem Drittstaat ansässig sind und der Antrag auf Familienzusammenführung nach einer Frist von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem der Elternteil, der seinen Aufenthalt im betreffenden Mitgliedstaat hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit zum Daueraufenthalt erhalten hat, stellt eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der dem von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei beigefügt ist, dar.

 

Eine solche Beschränkung ist nicht gerechtfertigt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Dänisch.

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