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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62013CJ0664

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 25. Juni 2015.
    VAS „Ceļu satiksmes drošības direkcija“ und Latvijas Republikas Satiksmes ministrija gegen Kaspars Nīmanis.
    Vorabentscheidungsersuchen der Administratīvā apgabaltiesa.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Führerschein – Erneuerung durch den Ausstellermitgliedstaat – Voraussetzung eines Wohnsitzes in diesem Mitgliedstaat – Erklärung des Wohnsitzes.
    Rechtssache C-664/13.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2015:417

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

    25. Juni 2015 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Verkehr — Führerschein — Erneuerung durch den Ausstellermitgliedstaat — Voraussetzung eines Wohnsitzes in diesem Mitgliedstaat — Erklärung des Wohnsitzes“

    In der Rechtssache C‑664/13

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Administratīvā apgabaltiesa (Lettland) mit Entscheidung vom 5. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2013, in dem Verfahren

    VAS „Ceļu satiksmes drošības direkcija“,

    Latvijas Republikas Satiksmes ministrija

    gegen

    Kaspars Nīmanis

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter C. Vajda, A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász und D. Šváby,

    Generalanwältin: E. Sharpston,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und L. Skolmeistare als Bevollmächtigte,

    der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell und E. Kalniņš als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. L 403, S. 18).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der VAS „Ceļu satiksmes drošības direkcija“ (Direktion für Straßenverkehrssicherheit, im Folgenden: CSDD) und dem Latvijas Republikas Satiksmes ministrija (Verkehrsministerium der Republik Lettland) auf der einen und Herrn Nīmanis auf der anderen Seite wegen der Weigerung, den Führerschein von Herrn Nīmanis zu erneuern.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/126 heißt es:

    „Die Regelungen zum Führerschein sind wesentliche Bestandteile der gemeinsamen Verkehrspolitik, tragen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei und erleichtern die Freizügigkeit der Personen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der den Führerschein ausgestellt hat, niederlassen. …“

    4

    Nach dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie sollten aus Gründen der Straßenverkehrssicherheit die Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis festgelegt werden.

    5

    Der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:

    „Die Mitgliedstaaten sollten aus Gründen der Verkehrssicherheit die Möglichkeit haben, ihre innerstaatlichen Bestimmungen über den Entzug, die Aussetzung, die Erneuerung und die Aufhebung einer Fahrerlaubnis auf jeden Führerscheininhaber anzuwenden, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet begründet hat.“

    6

    Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 werden „[d]ie von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine … gegenseitig anerkannt“.

    7

    Art. 7 der Richtlinie bestimmt:

    „1.   Ein Führerschein darf nur an Bewerber ausgestellt werden, die

    a)

    eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische Prüfung bestanden haben und die gesundheitlichen Anforderungen nach Maßgabe der Anhänge II und III erfüllen;

    e)

    im Hoheitsgebiet des den Führerschein ausstellenden Mitgliedstaats ihren ordentlichen Wohnsitz haben oder nachweisen können, dass sie während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten dort studiert haben.

    3.   Die Erneuerung eines Führerscheins bei Ablauf der Gültigkeitsdauer ist von Folgendem abhängig zu machen:

    b)

    vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats oder vom Nachweis, dass der Bewerber während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten dort studiert hat.

    5.   … Unbeschadet des Artikels 2 achten die Mitgliedstaaten bei der Erteilung einer Fahrerlaubnis sorgfältig darauf, dass eine Person die Anforderungen des Absatzes 1 des vorliegenden Artikels erfüllt; sie wenden ihre nationalen Vorschriften für die Aufhebung oder den Entzug der Fahrerlaubnis an, wenn feststeht, dass ein Führerschein ausgestellt worden ist, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorlagen.“

    8

    Art. 12 der Richtlinie 2006/126 sieht vor:

    „Im Sinne dieser Richtlinie gilt als ordentlicher Wohnsitz der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen dem Führerscheininhaber und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt.

    Als ordentlicher Wohnsitz eines Führerscheininhabers, dessen berufliche Bindungen an einem anderen Ort als dem seiner persönlichen Bindungen liegen und der sich daher abwechselnd an verschiedenen Orten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufhalten muss, gilt jedoch der Ort seiner persönlichen Bindungen, sofern er regelmäßig dorthin zurückkehrt. Diese letztgenannte Voraussetzung muss nicht erfüllt sein, wenn sich der Führerscheininhaber in einem Mitgliedstaat zur Ausführung eines Auftrags von bestimmter Dauer aufhält. Der Besuch einer Universität oder einer Schule hat keine Verlegung des ordentlichen Wohnsitzes zur Folge.“

    Lettisches Recht

    9

    Art. 22 Abs. 1 Nr. 1 des Straßenverkehrsgesetzes (Ceļu satiksmes likums) in seiner seit dem 1. Januar 2013 geltenden Fassung sieht vor, dass jede Person, die das gesetzlich vorgesehene Alter erreicht hat und ihren ordentlichen Wohnsitz in Lettland hat oder nachweisen kann, dass sie in den letzten sechs Monaten in Lettland studiert hat, eine Fahrerlaubnis und einen Führerschein für Kraftfahrzeuge erlangen kann.

    10

    In dieser Vorschrift heißt es:

    „… Eine Person hat ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne dieser Vorschrift in Lettland, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:

    a)

    Wegen persönlicher (enge Beziehungen zwischen der betreffenden Person und Lettland erkennen lassender) und beruflicher Bindungen befinden sich der Aufenthaltsort der Person und ihr erklärter Wohnsitz während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr in Lettland.

    b)

    Die Person verfügt über keine beruflichen Bindungen, doch befinden sich wegen persönlicher (enge Beziehungen zwischen der betreffenden Person und Lettland erkennen lassender) Bindungen ihr Aufenthaltsort und ihr erklärter Wohnsitz in Lettland.

    c)

    Die Person wohnt aus beruflichen Gründen im Ausland, kehrt aber wegen persönlicher (enge Beziehungen zwischen der betreffenden Person und Lettland erkennen lassender) Bindungen regelmäßig nach Lettland zurück und hält sich dort auf, und ihr erklärter Wohnsitz befindet sich in Lettland.

    d)

    Der erklärte Wohnsitz der Person befindet sich in Lettland, aber sie hält sich wegen eines Studiums im Ausland auf.“

    11

    Nach Art. 1 des Gesetzes über die Erklärung des Wohnsitzes (Dzīvesvietas deklarēšanas likuma) besteht das Ziel dieses Gesetzes darin, die Erreichbarkeit aller Personen im Rahmen ihrer Rechtsbeziehungen zum Staat und zur lokalen Verwaltung zu gewährleisten.

    12

    Art. 2 dieses Gesetzes regelt die Pflicht zur Erklärung des Wohnsitzes sowie die zu meldenden Daten und das Registrierungsverfahren. Gemäß diesem Artikel findet das Gesetz auf Personen Anwendung, die ihren Wohnsitz in Lettland haben. Außerdem begründet die Erklärung des Wohnsitzes für sich allein keine zivilrechtlichen Verpflichtungen.

    13

    Nach Art. 3 dieses Gesetzes ist der Wohnsitz jeder von der Person frei gewählte, an eine Immobilie gebundene Ort (mit Anschrift), an dem sie sich mit der ausdrücklichen oder stillschweigenden Absicht niederlässt, dort zu wohnen, an dem sie sich rechtmäßig aufhält und an dem sie im Rahmen ihrer Rechtsbeziehungen zum Staat und zur örtlichen Verwaltung erreichbar ist. Dieser Artikel sieht außerdem vor, dass sich eine Person rechtmäßig in einer bestimmten Immobilie aufhält, wenn sie ihr gehört, wenn sie einen Wohnungs- oder Gewerbemietvertrag über die Immobilie abgeschlossen hat oder wenn sie das Recht, die Immobilie zu nutzen, durch Heirat, Verwandtschaft, Verschwägerung oder auf einer anderen gesetzlichen oder vertraglichen Grundlage erworben hat.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    14

    Herrn Nīmanis wurde am 13. Dezember 2000 in Lettland, wo sich zu diesem Zeitpunkt sein erklärter Wohnsitz befand, ein Führerschein ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer des Führerscheins betrug nach Maßgabe der lettischen Rechtsvorschriften zehn Jahre.

    15

    Nach den Melderegisterdaten hat Herr Nīmanis seit Februar 2002 keinen erklärten Wohnsitz mehr in Lettland. Er ist jedoch der Auffassung, Anspruch auf die Erneuerung seines Führerscheins in diesem Mitgliedstaat zu haben, weil sich dort sein ordentlicher Wohnsitz befinde.

    16

    Um diese Erneuerung zu erlangen, wandte sich Herr Nīmanis an die CSDD, die bei der Prüfung der Melderegisterdaten feststellte, dass Herr Nīmanis keinen erklärten Wohnsitz in Lettland hatte.

    17

    Mit Entscheidung vom 30. Dezember 2010 lehnte die CSDD die Erbringung der Dienstleistung ab, da sich Herr Nīmanis, um sie in Anspruch nehmen zu können, an mehr als 185 Tagen in Lettland aufhalten und seinen Wohnsitz nach dem in den lettischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahren erklären müsse.

    18

    Nach Prüfung des Widerspruchs von Herrn Nīmanis stellte das Latvijas Republikas Satiksmes mit Entscheidung vom 3. Februar 2011 fest, dass die Entscheidung der CSDD mit Art. 22 des Straßenverkehrsgesetzes im Einklang stehe.

    19

    Herr Nīmanis erhob bei der Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht) Klage auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts in Form der Erneuerung seines Führerscheins.

    20

    Mit Entscheidung der Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) vom 3. Juni 2011 wurde die CSDD im Wege einstweiliger Maßnahmen verpflichtet, den Führerschein von Herrn Nīmanis zu erneuern.

    21

    Mit Entscheidung vom 3. April 2012 erkannte die Administratīvā rajona tiesa an, dass die CSDD nach den geltenden Rechtsvorschriften nicht berechtigt gewesen sei, sich auf das Erfordernis eines erklärten Wohnsitzes zu berufen, da die lettischen Rechtsvorschriften zum Zeitpunkt der Weigerung, den Führerschein von Herrn Nīmanis zu erneuern, dessen Erneuerung in diesem Mitgliedstaat nicht speziell davon abhängig gemacht hätten, dass der Betreffende einen erklärten Wohnsitz in Lettland habe.

    22

    Dieses Gericht hielt daher die Entscheidung des Latvijas Republikas Satiksmes ministrija für unbegründet, wonach nur der erklärte Wohnsitz als Beweis dafür dienen könne, dass der Betreffende seinen ordentlichen Wohnsitz in Lettland habe oder sich an mehr als 185 Tagen im Kalenderjahr in diesem Mitgliedstaat aufhalte. Diese Tatsachen könnten auch durch andere Anhaltspunkte nachgewiesen werden und nicht nur durch die Angaben im Melderegister zum erklärten Wohnsitz des Betreffenden.

    23

    Das vorlegende Gericht führt aus, die Administratīvā rajona tiesa habe weder festgestellt, dass die Staatsangehörigkeit von Herrn Nīmanis im vorliegenden Fall bestritten werde, noch, dass andere Beweise vorgelegt worden seien, nach denen er seinen ordentlichen Wohnsitz nicht in Lettland habe oder sich an weniger als 185 Tagen im Kalenderjahr in diesem Mitgliedstaat aufhalte.

    24

    Die CSDD legte gegen die Entscheidung der Administratīvā rajona tiesa beim vorlegenden Gericht Berufung ein und machte dabei u. a. folgende Argumente geltend.

    25

    Die Richtlinie 2006/126 sehe eine für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union geltende Regelung vor, um ein einheitliches Verfahren und einheitliche Kriterien für die Ausstellung von Führerscheinen festzulegen und um sicherzustellen, dass zum einen nicht missbräuchlich Gebrauch von der Möglichkeit gemacht werde, einen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat zu erlangen, wenn es aufgrund bestimmter Umstände nicht möglich sei, ihn im Wohnsitzmitgliedstaat zu erlangen, und dass zum anderen der Wohnsitz nur eines der für die Ausstellung eines Führerscheins festgelegten Kriterien sei. Wenn Herr Nīmanis die Erneuerung seines Führerscheins in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Lettland erlangen wolle, würde dieses Kriterium auch dort geprüft. Für die Ausstellung eines Führerscheins an Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats wende die CSDD ebenfalls die im Straßenverkehrsgesetz festgelegten Kriterien und die vom Ministerrat erlassenen Durchführungsbestimmungen an. Habe der Betreffende nicht erklärt, dass er seinen Wohnsitz in Lettland habe, und gebe es keine Angaben dazu im Melderegister, werde die Ausstellung des Führerscheins daher abgelehnt.

    26

    Außerdem handele es sich bei der Erklärung des Wohnsitzes nicht um eine reine Formalie, da sie auch für andere Fragen wesentlich sei.

    27

    Das Latvijas Republikas Satiksmes ministrija hat sich der Berufung der CSDD gegen die Entscheidung der Administratīvā rajona tiesa angeschlossen.

    28

    Das vorlegende Gericht führt aus, nach der Rechtsprechung der lettischen Gerichte müsse der Richter bei der Würdigung eines Antrags auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts prüfen, ob der Kläger unter den Umständen des Falles, mit dem er befasst sei, Anspruch auf den Erlass eines solchen Verwaltungsakts habe. Außerdem müsse der Fall anhand der zum Zeitpunkt seiner Prüfung festgestellten tatsächlichen und rechtlichen Umstände geprüft werden. Der Richter könne keine Entscheidung erlassen, mit der er den Behörden in Anwendung von Rechtsvorschriften, die nicht mehr in Kraft seien, eine Verpflichtung auferlege.

    29

    Um über einen Antrag auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts, d. h. im vorliegenden Fall die Erneuerung eines Führerscheins, zu entscheiden, müsse das vorlegende Gericht nach dieser Rechtsprechung das bei Erlass einer solchen Entscheidung geltende Recht berücksichtigen.

    30

    Die Regelung in Art. 22 des Straßenverkehrsgesetzes, der die Erteilung einer Fahrerlaubnis von der Voraussetzung eines erklärten Wohnsitzes in Lettland abhängig mache, sei im Anschluss an die Umsetzung der Richtlinie 2006/126 in lettisches Recht erlassen worden.

    31

    Für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits sei zu ermitteln, ob die Informationen, die das Melderegister zum erklärten Wohnsitz im lettischen Hoheitsgebiet enthalte, das einzige Mittel darstellten, mit dem Herr Nīmanis zwecks Erneuerung seines Führerscheins nachweisen könne, dass er seinen ordentlichen Wohnsitz in Lettland habe.

    32

    Das mit der im lettischen Recht vorgesehenen Erklärung des Wohnsitzes verfolgte Ziel bestehe darin, die Erreichbarkeit jeder Person im Rahmen ihrer Beziehungen zum Staat sicherzustellen. Das Fehlen eines erklärten Wohnsitzes bedeute für sich genommen nicht, dass die Person nicht in Lettland wohnhaft sei.

    33

    Außerdem habe eine Person, die ihren ordentlichen Wohnsitz, aber keinen erklärten Wohnsitz in Lettland habe, wegen ihres ordentlichen Wohnsitzes in diesem Mitgliedstaat auch keinen Anspruch auf die Ausstellung eines Führerscheins in einem anderen Mitgliedstaat, da sie die in der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes in diesem anderen Mitgliedstaat nicht erfülle.

    34

    Da die Administratīvā apgabaltiesa Zweifel an der Vereinbarkeit der lettischen Rechtsvorschriften mit Art. 12 der Richtlinie 2006/126 sowie mit den von dieser Richtlinie nach ihrem zweiten Erwägungsgrund verfolgten Zielen hat, die darin bestehen, die Verkehrssicherheit zu erhöhen und die Freizügigkeit der Personen zu erleichtern, die ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat als den Ausstellerstaat des Führerscheins verlegen, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist Art. 12 der Richtlinie 2006/126 in Verbindung mit dem ersten Satz ihres zweiten Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass der einzige Nachweis dafür, dass eine Person ihren ordentlichen Wohnsitz in diesem Staat (Lettland) hat, der erklärte Wohnsitz dieser Person ist? Unter „erklärter Wohnsitz“ ist die im nationalen Recht vorgesehene Pflicht des Einzelnen zu verstehen, sich in ein staatliches Register eintragen zu lassen, um seine Erreichbarkeit unter der erklärten Anschrift für die Zwecke seiner Rechtsbeziehungen zum Staat und zur örtlichen Verwaltung mitzuteilen.

    Zur Vorlagefrage

    35

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine Person, die die Ausstellung oder Erneuerung eines Führerscheins in diesem Mitgliedstaat beantragt, die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzung eines „ordentlichen Wohnsitzes“ im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Sinne von Art. 12 (im Folgenden: Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes) nur belegen kann, indem sie nachweist, dass sie im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats über einen erklärten Wohnsitz verfügt.

    36

    Vorab ist festzustellen, dass die Beachtung der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes ein wesentliches Element des mit der Richtlinie geschaffenen Systems darstellt, deren Schlussstein der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Hofmann, C‑419/10, EU:C:2012:240, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    37

    Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes mangels einer vollständigen Harmonisierung der Regelungen der Mitgliedstaaten über die Erteilung des Führerscheins u. a. dazu beiträgt, den „Führerschein-Tourismus“ zu bekämpfen, und dass diese Voraussetzung unerlässlich ist, um die Einhaltung der Voraussetzung der Fahreignung zu überprüfen (vgl., in Bezug auf die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein [ABl. L 237, S. 1], Urteile Wiedemann und Funk, C‑329/06 und C‑343/06, EU:C:2008:366, Rn. 69, Zerche u. a., C‑334/06 bis C‑336/06, EU:C:2008:367, Rn. 66, und Grasser, C‑184/10, EU:C:2011:324, Rn. 27).

    38

    Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass in bestimmten Fällen allein die Nichtbeachtung der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes die Weigerung eines Mitgliedstaats rechtfertigen kann, einen von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein anzuerkennen (vgl., in Bezug auf die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439, Urteile Apelt, C‑224/10, EU:C:2011:655, Rn. 34, und Akyüz, C‑467/10, EU:C:2012:112, Rn. 61).

    39

    Nur der Ausstellermitgliedstaat des Führerscheins ist für die Überprüfung zuständig, ob die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes eingehalten wurde (vgl. in diesem Sinne Beschluss Wierer, C‑445/08, EU:C:2009:443, Rn. 55). Diese Regel gilt auch in Bezug auf den Mitgliedstaat, in dem der Inhaber eines Führerscheins dessen Erneuerung beantragt.

    40

    Demzufolge ist es erforderlich, dass sich die in einem Mitgliedstaat für die Ausstellung und die Erneuerung von Führerscheinen zuständigen Behörden in zuverlässiger Weise vergewissern können, dass der Antragsteller tatsächlich die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes erfüllt.

    41

    Art. 7 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 sieht in diesem Zusammenhang vor, dass die Mitgliedstaaten bei der Erteilung einer Fahrerlaubnis sorgfältig darauf achten, dass eine Person die Anforderungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt, zu denen die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes zählt.

    42

    Zwar definiert Art. 12 der Richtlinie 2006/126 die Kriterien, anhand deren festgestellt werden kann, was für ihre Anwendung unter „ordentlichem Wohnsitz“ zu verstehen ist, doch enthält die Richtlinie keine Bestimmung, die näher präzisiert, wie vor den für die Ausstellung und Erneuerung von Führerscheinen zuständigen Behörden der Nachweis erbracht werden kann, dass ein solcher Wohnsitz vorliegt.

    43

    Es trifft zu, dass zum einen die Modalitäten dafür, wie die Einhaltung der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes gegenüber den für die Ausstellung und Erneuerung von Führerscheinen zuständigen Behörden nachzuweisen ist, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen und dass zum anderen die Richtlinie 2006/126, wie aus ihrem achten Erwägungsgrund hervorgeht, nur Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis durch die Mitgliedstaaten festlegt. Aus Art. 12 der Richtlinie in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 3 Buchst. b geht jedoch hervor, dass das von den Mitgliedstaaten im Einklang mit diesen Bestimmungen zu erzielende Ergebnis darin besteht, das Vorliegen der in Art. 12 aufgezählten Kriterien, anhand deren festgestellt werden kann, dass eine Person ihren ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet hat, zu ermitteln, damit geprüft werden kann, ob diese Person die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes erfüllt.

    44

    Somit dürfen die Modalitäten des Nachweises für die Einhaltung der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, damit sich die für die Ausstellung und Erneuerung von Führerscheinen zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats vergewissern können, dass der Betreffende diese Voraussetzung im Hinblick auf die in Art. 12 der Richtlinie 2006/126 genannten Kriterien erfüllt.

    45

    Zu diesem Zweck erscheint die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat die Ausstellung und die Erneuerung eines Führerscheins von der Pflicht abhängig macht, einen erklärten Wohnsitz in seinem Hoheitsgebiet zu haben, als geeignetes Mittel, um die Prüfung der Einhaltung der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes durch die zuständigen Behörden zu erleichtern.

    46

    Die absolute Pflicht, einen erklärten Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu haben, und damit die Weigerung, einer Person, die die Ausstellung eines Führerscheins beantragt, die Vorlage anderer Beweise für die Erfüllung der in Art. 12 der Richtlinie 2006/126 genannten Kriterien zu gestatten, geht über das hinaus, was erforderlich ist, damit sich die für die Ausstellung und Erneuerung von Führerscheinen zuständigen Behörden vergewissern können, dass der Betreffende die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes erfüllt.

    47

    Art. 12 der Richtlinie 2006/126 sieht nämlich in Bezug auf die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes eine Reihe objektiver Kriterien vor, anhand deren nachgewiesen werden kann, ob der Antragsteller seinen ordentlichen Wohnsitz in dem betreffenden Hoheitsgebiet hat.

    48

    Es ist jedoch denkbar, dass ein Antragsteller die Kriterien, anhand deren nachgewiesen werden kann, dass er seinen ordentlichen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, erfüllt, ohne aber einen erklärten Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat zu haben; dies scheint bei Herrn Nīmanis der Fall zu sein. Unter diesen Umständen könnte, ja müsste, einem solchen Antragsteller auch in anderen Mitgliedstaaten die Ausstellung eines Führerscheins auf der Grundlage der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes verweigert werden, da er seinen ordentlichen Wohnsitz im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2006/126 nicht in ihrem Hoheitsgebiet hat.

    49

    Dem Betreffenden könnte daher die Möglichkeit genommen werden, einen Führerschein in der Union zu erhalten, obwohl er seinen ordentlichen Wohnsitz im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2006/126 im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat.

    50

    Eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der eine Person, die die Ausstellung eines Führerscheins beantragt, den zuständigen Behörden die Erfüllung der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes nur belegen kann, indem sie nachweist, dass sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über einen erklärten Wohnsitz verfügt, hat überdies zu großen Ausschlusscharakter. Eine solche Regelung gibt nämlich einem Gesichtspunkt den Vorzug, der nicht alle in Art. 12 der Richtlinie 2006/126 genannten Kriterien widerspiegelt, da er jeden anderen Gesichtspunkt, der für die von diesem Artikel erfassten Sachverhalte repräsentativ ist, ausschließt.

    51

    Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 12 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine Person, die die Ausstellung oder Erneuerung eines Führerscheins in diesem Mitgliedstaat beantragt, die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzung eines „ordentlichen Wohnsitzes“ im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Sinne von Art. 12 nur belegen kann, indem sie nachweist, dass sie im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats über einen erklärten Wohnsitz verfügt.

    Kosten

    52

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 12 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine Person, die die Ausstellung oder Erneuerung eines Führerscheins in diesem Mitgliedstaat beantragt, die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzung eines „ordentlichen Wohnsitzes“ im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Sinne von Art. 12 nur belegen kann, indem sie nachweist, dass sie im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats über einen erklärten Wohnsitz verfügt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.

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