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Dokument 62012CC0497

Schlussanträge - 12. März 2015
Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C.
Rechtssache C-497/12
Generalanwalt: Wahl

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2015:168

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 12. März 2015 ( 1 )

Rechtssache C‑497/12

Davide Gullotta,

Farmacia di Gullotta Davide & C. Sas

gegen

Ministero della Salute,

Azienda Sanitaria Provinciale di Catania

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale per la Sicilia [Italien])

„Vorabentscheidungsersuchen — Zuständigkeit des Gerichtshofs — Zulässigkeit der Fragen — Ausgangsverfahren, dessen Sachverhaltselemente nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen — Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Niederlassungsfreiheit — Öffentliche Gesundheit — Parapharmazeutische Verkaufsstellen“

1. 

Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung durchgehend hervorgehoben, dass das Vorabentscheidungsverfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Verfahren benötigen ( 2 ). Der Gerichtshof hat auch den Geist der Zusammenarbeit hervorgehoben, der dem Vorabentscheidungsverfahren innewohnt und verlangt, dass die nationalen Gerichte auf die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe Rücksicht nehmen, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben ( 3 ).

2. 

Diese Grundsätze sind heute sogar bedeutender als zuvor, da der Gerichtshof Jahr um Jahr in einer nie dagewesenen Zahl von Fällen um Entscheidung ersucht wird, wobei es sich in der Mehrzahl der Fälle um Vorabentscheidungsersuchen handelt ( 4 ). Für einige Vorabentscheidungsersuchen muss der Gerichtshof Bestimmungen auf neuen Gebieten des Unionsrechts auslegen, und für andere Vorabentscheidungsersuchen muss er zentrale Grundsätze der Unionsrechtsordnung auf neue Situationen anwenden, die besonders heikle ethische oder gesellschaftspolitische Bereiche berühren können ( 5 ).

3. 

Zwar war der Gerichtshof in der Vergangenheit bei der Ablehnung seiner Zuständigkeit nach Art. 267 AEUV relativ zurückhaltend und bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen großzügig, doch mittlerweile kann man sich fragen, ob er auf diesem Gebiet nicht strenger vorgehen sollte. Wie ich bereits früher dargelegt habe, könnte die erhebliche Ausweitung der Zuständigkeit des Gerichtshofs, zu der es infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon und der Erweiterung der Europäischen Union in den vergangenen zehn Jahren gekommen ist, bedeutende Folgen für die Fähigkeit des Gerichtshofs nach sich ziehen, Rechtssachen mit der gebotenen Zügigkeit zu erledigen und dabei die Qualität seiner Entscheidungen aufrechtzuerhalten ( 6 ).

4. 

Meiner Ansicht nach bietet die vorliegende Rechtssache die Gelegenheit, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesen Fragen näher zu erläutern, indem einige aktuelle Entscheidungen des Gerichtshofs hervorgehoben werden, die auf bestimmte Entwicklungen hinzudeuten scheinen. Diese Entwicklungen stehen meiner Meinung nach im Einklang mit der Würdigung, die in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagen wird.

I – Rechtlicher Rahmen

5.

In Italien definierte das Gesetz Nr. 468/1913 die Arzneimittelversorgung als eine „primäre Tätigkeit des Staates“, die ausschließlich über kommunale Apotheken oder durch private Apotheken, die eine von der Regierung ausgestellte Lizenz besaßen, ausgeübt werden konnte. Es wurde ein administratives Instrument zur Beschränkung des Angebots eingeführt; die „pianta organica“ als eine Art territorialer Organisationsplan, der die gleichmäßige Verteilung von Arzneimitteln im gesamten nationalen Hoheitsgebiet gewährleisten sollte. Nach dem anschließend erlassenen Regio decreto Nr. 1265/1934 war der Verkauf von Arzneimitteln ausnahmslos Apotheken vorbehalten (Art. 122).

6.

Später erfolgte mit dem Gesetz Nr. 537/1993 eine Neuklassifizierung von Arzneimitteln nach folgenden Klassen: „Klasse A“ für wesentliche Arzneimittel und Arzneimittel für chronische Krankheiten; „Klasse B“ für (nicht in „Klasse A“ einzuordnende) Arzneimittel von erheblichem therapeutischem Nutzen sowie „Klasse C“ für Arzneimittel, die nicht in Klasse A oder Klasse B fallen. Nach Art. 8 Abs. 14 des Gesetzes Nr. 537/1993 sind die Kosten von Arzneimitteln der Klasse A oder der Klasse B vollständig vom „Servizio Sanitario Nazionale“ (italienischer nationaler Gesundheitsdienst, im Folgenden: SSN) zu tragen, die von Arzneimitteln der Klasse C hingegen vollständig vom Käufer.

7.

Später wurde die „Klasse B“ durch Art. 85 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 388/2000 gestrichen, und durch Art. 1 des Gesetzes Nr. 311/2004 wurde eine neue „Klasse C-bis“ für Arzneimittel geschaffen, die nicht verschreibungspflichtig sind und für die – im Gegensatz zu den Produkten, die in die anderen Klassen fallen – öffentlich geworben werden darf (im Allgemeinen als „OTC‑Arzneimittel“ [OTC: over the counter] bezeichnet). Die Kosten von Arzneimitteln der Klasse C-bis sind ebenso wie bei Arzneimitteln der Klasse C vom Käufer zu tragen.

8.

Das Decreto-legge Nr. 223/2006 (später umgewandelt in das Gesetz Nr. 248/2006) erlaubte die Eröffnung neuer Handelsbetriebe, die keine Apotheken waren. Sie werden im Allgemeinen als „parapharmazeutische Verkaufsstellen“ bezeichnet und sind zum Verkauf von OTC‑Arzneimitteln (Produkte der Klasse C-bis) berechtigt.

9.

In jüngerer Zeit wurde das Sortiment der Arzneimittel, die von parapharmazeutischen Verkaufsstellen abgegeben werden dürfen, durch das Decreto-legge Nr. 201/2011 (inzwischen umgewandelt in das Gesetz Nr. 214/2011) erweitert. Seither dürfen diese Verkaufsstellen auch einige nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel der Klasse C öffentlich vertreiben. Das Gesetz wurde durch Ministerialerlass vom 18. April 2012 umgesetzt. Schließlich wurde die Zahl der in der „pianta organica“ vorgesehenen Apotheken durch das Decreto-legge Nr. 1/2012 (später umgewandelt in das Gesetz Nr. 27/2012) erhöht: Während zuvor eine Apotheke für jeweils 4500 Personen vorgesehen war, sieht das Gesetz nun eine Apotheke für jeweils 3300 Personen vor.

II – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

10.

Herr Davide Giuseppe Gullotta (im Folgenden: Kläger) ist ein beim Ordine dei Farmacisti di Catania (Apothekerkammer von Catania) eingetragener zugelassener Apotheker und betreibt eine Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte in Italien.

11.

Im Ausgangsverfahren ficht der Kläger beim Tribunale Amministrativo Regionale per la Sicilia (im Folgenden: TAR Sicilia) die Verfügung Nr. 0034681 des Ministero della Salute (Gesundheitsministerium) vom 13. August 2011 (im Folgenden: angefochtene Verfügung) an, mit der sein Antrag, ihm den Verkauf verschreibungspflichtiger Arzneimittel zu erlauben, die keiner Kostenerstattung durch den SSN unterliegen, abgelehnt wurde. Der Kläger macht geltend, die vom Ministero della Salute in der angefochtenen Verfügung angewandte italienische Regelung sei aus mehreren Gründen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.

12.

Das italienische Gericht, das hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen italienischen Regelung mit dem Unionsrecht im Zweifel ist, hat das Verfahren ausgesetzt und die folgenden drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Stehen die in den Art. 49 ff. AEUV niedergelegten Grundsätze der Niederlassungsfreiheit, der Nichtdiskriminierung und des Schutzes des Wettbewerbs einer nationalen Regelung entgegen, die es einem zugelassenen und bei der entsprechenden Berufskammer eingetragenen Apotheker, der aber nicht Inhaber eines in den Organisationsplan aufgenommenen Handelsbetriebs ist, nicht erlaubt, in einer Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte, deren Inhaber er ist, auch die Arzneimittel im Einzelhandel zu vertreiben, für die ein ärztliches „weißes Rezept“ erforderlich ist, d. h. solche, die nicht zulasten des Nationalen Gesundheitsdiensts, sondern in vollem Umfang zulasten des Käufers gehen, und die damit auch in diesem Sektor ein Verbot des Verkaufs bestimmter Klassen von pharmazeutischen Erzeugnissen und eine zahlenmäßige Kontingentierung der Handelsbetriebe, die sich im nationalen Hoheitsgebiet niederlassen dürfen, begründet?

2.

Ist Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass der dort niedergelegte Grundsatz uneingeschränkt auch auf den Beruf des Apothekers anzuwenden ist, ohne dass die öffentlich-rechtliche Bedeutung dieses Berufs die unterschiedlichen Regelungen für die Inhaber von Apotheken und die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte in Bezug auf den Verkauf der in Frage 1 genannten Arzneimittel rechtfertigt?

3.

Sind die Art. 102 AEUV und 106 AEUV dahin auszulegen, dass das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung uneingeschränkt auf den Beruf des Apothekers anzuwenden ist, soweit ein Apotheker, der Inhaber einer traditionellen Apotheke ist und aufgrund eines Vertrags mit dem SSN Arzneimittel verkauft, sich das für die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte geltende Verbot, Arzneimittel der Klasse C zu verkaufen, zunutze macht, ohne dass dies durch die im Hinblick auf das Allgemeininteresse des Schutzes der Gesundheit der Bürger zweifellos bestehenden Besonderheiten des Apothekerberufs gerechtfertigt ist?

13.

Nachdem das TAR Sicilia eine Kopie des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache Venturini ( 7 ) erhalten hatte, die dieselbe nationale Regelung betrifft wie der vorliegende Fall, hat es dem Gerichtshof mit Schreiben vom 1. August 2014 mitgeteilt, dass es die zweite und die dritte Vorlagefrage aufrechterhalten wolle.

14.

Im vorliegenden Verfahren haben Herr Gullotta, Federfarma, die italienische, die griechische und die spanische Regierung sowie die Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Gerichtshof hat beschlossen, keine mündliche Verhandlung durchzuführen.

III – Würdigung

15.

Bevor ich die Vorlagefragen nacheinander prüfe, erscheinen mir einige Vorbemerkungen zu zwei unterschiedlichen, wenngleich eng miteinander verwandten Begriffen sinnvoll: die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV und die Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen. Die Beteiligten, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen eingereicht haben, scheinen diese beiden Begriffe nämlich in gewisser Weise durcheinanderzubringen. Dies ist nicht verwunderlich, da der Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht immer eine kohärente Terminologie verwendet hat.

A – Vorbemerkungen zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen.

16.

Die Rolle und die Funktionen des Gerichtshofs sind wie die der anderen Organe der Europäischen Union durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung geregelt. Art. 13 Abs. 2 EUV sieht insoweit vor: „Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind.“

17.

Dementsprechend wird die Zuständigkeit des Gerichtshofs von dem durch die Verträge geschaffenen System von Rechtsbehelfen eingerahmt, die nur dann zur Verfügung stehen, wenn die Voraussetzungen der maßgeblichen Vorschriften erfüllt sind ( 8 ).

18.

Was das Vorabentscheidungsverfahren betrifft, knüpft Art. 267 AEUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs ausdrücklich an mehrere Voraussetzungen ( 9 ). Insbesondere müssen die Vorlagefragen nach Art. 267 Abs. 1 AEUV Bestimmungen des Unionsrechts betreffen, an deren Auslegung oder Gültigkeit im Ausgangsverfahren Zweifel bestehen. Nach Art. 267 Abs. 2 AEUV muss es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein Gericht eines Mitgliedstaats handeln und die Entscheidung der Vorlagefrage zum Erlass seines Urteils im Ausgangsverfahren erforderlich sein. Die letzte Voraussetzung bedeutet insbesondere, dass beim vorlegenden Gericht ein echter Rechtsstreit anhängig sein und die Antwort des Gerichtshofs für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erheblich sein muss ( 10 ).

19.

Diese Voraussetzungen müssen nicht nur zu dem Zeitpunkt, zu dem der Gerichtshof vom nationalen Gericht angerufen wird, sondern während des gesamten Verfahrens vorliegen. Liegen die Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vor, muss sich der Gerichtshof für unzuständig erklären, und er kann dies zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens tun ( 11 ).

20.

Genügen die vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben nicht, damit der Gerichtshof seine Zuständigkeit positiv feststellen bzw. eine Antwort geben kann, die für das vorlegende Gericht hilfreich sein kann, so kann das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklärt werden. Die Angaben, die ein Vorabentscheidungsersuchen enthalten muss, sind in Art. 94 der Verfahrensordnung aufgeführt. Diese Angaben dienen zwei verschiedenen Zwecken: Nicht nur sollen sie dem Gerichtshof sachdienliche Antworten ermöglichen, sondern sie sollen auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit geben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs Erklärungen einzureichen ( 12 ).

21.

Somit beziehen sich die beiden oben beschriebenen Situationen (fehlende Zuständigkeit und Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens) auf verschiedene verfahrensrechtliche Fragen. Während die fehlende Zuständigkeit letztlich Ausdruck einer Beschränkung der Kompetenzen des Gerichtshofs ist, da ihm für bestimmte Sachverhalte keine Entscheidungsbefugnis erteilt wurde, geht die Unzulässigkeit typischerweise auf einen Verfahrensfehler zurück, der in der Nichteinhaltung der Verfahrensvorschriften durch das vorlegende Gericht begründet ist.

22.

In theoretischer Hinsicht sollte daher zwischen den beiden Situationen differenziert werden ( 13 ). Es gibt jedoch auch einen praktischen Gesichtspunkt, der für eine solche Differenzierung spricht. Das vorlegende Gericht kann die Unzuständigkeit grundsätzlich nicht beheben oder korrigieren. Daher wird ein Vorabentscheidungsersuchen, das wegen Unzuständigkeit zurückgewiesen wurde, nie vom Gerichtshof geprüft werden, es sei denn natürlich, dem Gerichtshof waren wichtige tatsächliche Gesichtspunkte nicht bekannt ( 14 ). Dagegen kann ein nationales Gericht, dessen Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklärt wird, gegebenenfalls ein neues Vorabentscheidungsersuchen beim Gerichtshof einreichen, das alle Voraussetzungen von Art. 94 der Verfahrensordnung erfüllt ( 15 ).

23.

Zwischen Vorabentscheidungsersuchen und Klagen lassen sich gewisse Parallelen ziehen. Auch im Zusammenhang mit Klagen unterscheiden die Unionsgerichte normalerweise zwischen Fällen, in denen sie unzuständig sind, und Fällen, in denen die Klage unzulässig ist. Beispielsweise wird eine Nichtigkeitsklage wegen Unzuständigkeit zurückgewiesen, wenn der Kläger die Gültigkeit von Handlungen nationaler Behörden ( 16 ) oder von Urteilen nationaler Gerichte ( 17 ) oder anderer internationaler Gerichte ( 18 ) anficht. Ebenso haben sich die Unionsgerichte in Bezug auf Schadensersatzklagen gegen nicht zur Union gehörende Einrichtungen wie z. B. Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten für unzuständig erklärt ( 19 ).

24.

Dagegen führen Verfahrensfehler eines Klägers, die der Fortsetzung des Verfahrens entgegenstehen, lediglich zu der Feststellung, dass die Klage unzulässig ist. Dies ist z. B. typischerweise der Fall bei Nichtigkeitsklagen, die nach Ablauf der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Zweimonatsfrist erhoben werden ( 20 ), Klagen von Personen, die nicht durch einen Anwalt vertreten sind ( 21 ), oder Vertragsverletzungsverfahren ohne ordnungsgemäße Beachtung der in Art. 258 AEUV vorgesehenen vorprozessualen Verfahrensphase ( 22 ).

25.

Dies vorausgeschickt, sollte der Unterschied zwischen Unzuständigkeit und Unzulässigkeit jedoch nicht überbetont werden, da die beiden Phänomene in der Praxis zum gleichen Ergebnis führen. Der Gerichtshof weist das Vorabentscheidungsersuchen des nationalen Gerichts zurück, ohne die Vorlagefragen inhaltlich zu erörtern.

B – Frage 1

26.

Mit der ersten Frage bittet das TAR Sicilia den Gerichtshof um Hinweise dazu, ob eine nationale Regelung, die den Verkauf von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, deren Kosten nicht vom SSN, sondern vom Käufer zu tragen sind, Apotheken vorbehält, mit den unionsrechtlichen Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit vereinbar ist.

27.

Ich möchte gleich darauf hinweisen, dass meiner Meinung nach davon auszugehen ist, dass diese Frage vom vorlegenden Gericht zurückgezogen wurde.

28.

Dem Gerichtshof wurde vom TAR Lombardia in der Rechtssache Venturini ( 23 ) eine vergleichbare Frage vorgelegt. Eine Kopie des Urteils des Gerichtshofs in jener Rechtssache ist dem TAR Sicilia durch die Kanzlei des Gerichtshofs zugestellt worden. In seiner Antwort hat das TAR Sicilia mitgeteilt, dass es die zweite und die dritte Vorlagefrage aufrechterhalten wolle, hat sich aber nicht ausdrücklich zur ersten Vorlagefrage geäußert. Aus dieser Antwort kann im Umkehrschluss abgeleitet werden, dass das vorlegende Gericht die erste Vorlagefrage zurückziehen wollte. Der allgemeine Tenor des Schreibens, mit dem das TAR Sicilia das Urteil Venturini zur Kenntnis nimmt, scheint diese Interpretation zu stützen.

29.

Ich werde Frage 1 dennoch kurz behandeln, da mir dies die Gelegenheit gibt, einige wichtige verfahrensrechtliche Fragen hervorzuheben.

1. Zuständigkeit des Gerichtshofs

30.

Nach Ansicht von Federfarma ist die erste Frage unzulässig. Federfarma macht geltend, alle Gesichtspunkte des Ausgangsverfahrens seien auf Italien begrenzt. Daher sei die Frage als hypothetisch anzusehen, da die unionsrechtlichen Vorschriften zur Niederlassungsfreiheit nicht anwendbar seien.

31.

Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung eine Prüfung der Vereinbarkeit der maßgeblichen inländischen Regelung mit den geltend gemachten unionsrechtlichen Vorschriften in Fällen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in keinem Zusammenhang mit der Ausübung einer Grundfreiheit steht, für den Erlass eines Urteils des nationalen Gerichts grundsätzlich nicht erforderlich. Da die Vorschriften des Vertrags auf das Ausgangsverfahren keine Anwendung finden, ist eine Beantwortung der Vorlagefragen für die Entscheidung des Rechtsstreits ohne Bedeutung ( 24 ).

32.

Dessen ungeachtet hat der Gerichtshof in einer Reihe von Fällen seine Zuständigkeit bejaht und ein Urteil erlassen, obwohl der Sachverhalt nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausging.

33.

In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Venturini habe ich versucht, einen kurzen Überblick zu diesen Fällen zu geben, indem ich sie drei wesentlichen Rechtsprechungslinien zugeordnet habe. In der ersten Rechtsprechungslinie (im Folgenden: Oosthoek-Rechtsprechung) hat der Gerichtshof festgestellt, dass zwar der Sachverhalt des Rechtsstreits nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinauswies, bestimmte grenzüberschreitende Auswirkungen der beanstandeten innerstaatlichen Regelung aber auf der Grundlage der in den Akten befindlichen Informationen nicht ausgeschlossen werden konnten. In der zweiten Rechtsprechungslinie (im Folgenden: Guimont-Rechtsprechung) hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen trotz des rein innerstaatlichen Charakters des Ausgangsverfahrens als zulässig angesehen, da die erbetene Auslegung des Unionsrechts dem vorlegenden Gericht offenkundig von Nutzen sein konnte, weil das nationale Recht vorschrieb, dass einem eigenen Staatsangehörigen die gleichen Rechte zu gewähren sind, die einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats in der gleichen Lage kraft Unionsrecht zustehen, d. h. das nationale Recht die umgekehrte Diskriminierung der eigenen Staatsangehörigen untersagte. Schließlich hat der Gerichtshof in einer dritten Rechtsprechungslinie (im Folgenden: Thomasdünger-Rechtsprechung) seine Zuständigkeit für Vorabentscheidungen über das Unionsrecht betreffende Fragen in Fällen bejaht, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den unmittelbaren Geltungsbereich der unionsrechtlichen Vorschriften fällt, diese aber durch das nationale Recht, das sich zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richtet, für anwendbar erklärt worden sind ( 25 ).

34.

Nachdem ich diese Rechtsprechungslinien identifiziert hatte, habe ich die Auffassung vertreten, dass sie eine korrekte Anwendung von Art. 267 AEUV darstellen. Sie betrafen nämlich Fälle, in denen zwar alle maßgeblichen tatsächlichen Gesichtspunkte nicht über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinauswiesen, dies aber für die rechtlichen Gesichtspunkte nicht zutraf. Ich habe allerdings auch hinzugefügt, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit in einigen dieser Fälle auf bloße Annahmen gestützt zu haben scheint, ohne wirklich zu prüfen, ob die maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt waren. Die Vorabentscheidungsersuchen enthielten nämliche keine Gesichtspunkte, die es dem Gerichtshof ermöglichten, seine Zuständigkeit positiv festzustellen. Dieses Vorgehen hielt ich – und halte ich bis heute ‐ für problematisch ( 26 ).

35.

Da die Zuständigkeit des Gerichtshofs für rein innerstaatliche Sachverhalte eines Mitgliedstaats eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz darstellt, habe ich in der Rechtssache Venturini vorgeschlagen, dass der Gerichtshof bei der Prüfung, ob die maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen, strenger sein sollte ( 27 ). Insbesondere habe ich vorgeschlagen, dass sich der Gerichtshof für unzuständig erklärt, wenn die Gründe, aus denen der Gerichtshof trotz des rein innerstaatlichen Charakters des Ausgangsverfahrens zuständig sein könnte, weder den Gerichtsakten noch dem Vorlagebeschluss zu entnehmen sind. Insoweit habe ich hervorgehoben, dass in diesen Fällen das nationale Gericht verpflichtet sein sollte, dem Gerichtshof darzulegen, weshalb z. B. die Anwendung der zu überprüfenden inländischen Maßnahme geeignet sein soll, ausländische Wirtschaftsteilnehmer an der Ausübung einer Grundfreiheit zu hindern, oder auf in seiner Rechtsordnung bestehende Regelungen oder Grundsätze hinzuweisen, die eine umgekehrte Diskriminierung verbieten und die auf den betreffenden Sachverhalt Anwendung finden können ( 28 ).

36.

Generalanwältin Kokott ist später in der Rechtssache Airport Shuttle Express zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. In ihren Schlussanträgen hat auch sie Kritik an einer Reihe von Urteilen geäußert, in denen der Gerichtshof die Vorlagefragen beantwortet hat, obwohl die Sachverhaltselemente des Ausgangsverfahrens offensichtlich keine grenzüberschreitenden Bezüge aufwiesen. Generalanwältin Kokott hat vorgeschlagen, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit nach Art. 267 AEUV in Fällen, die als rein innerstaatliche Sachverhalte eines Mitgliedstaats erscheinen, genauer prüfen sollte. Sie hat ausgeführt, dass der Gerichtshof in einigen dieser Fälle die Vorlagefragen möglicherweise dennoch beantworten muss, z. B., wenn das anwendbare nationale Recht die umgekehrte Diskriminierung untersagt. Allerdings hat Generalanwältin Kokott hervorgehoben, dass es in einem solchen Fall die Aufgabe des nationalen Gerichts ist, dem Gerichtshof detaillierte, aktuelle und verlässliche Informationen zu diesem Gesichtspunkt des nationalen Rechts zu liefern. Fehlen solche Informationen im Vorlagebeschluss, sollte sich der Gerichtshof nicht leichtfertig für zuständig erklären und daher die Beantwortung der Vorlagefragen generell ablehnen ( 29 ).

37.

Seitdem scheint eine Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofs zu belegen, dass er seine Zuständigkeit nach Art. 267 AEUV enger auslegt, wenn ein nationales Gericht trotz des Umstands, dass es sich um einen rein innerstaatlichen Rechtsstreit handelt, um Auslegung der Vertragsbestimmungen über die Grundfreiheiten ersucht.

38.

Im Urteil Airport Shuttle Express ist der Gerichtshof nämlich den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott gefolgt und hat seine Zuständigkeit für die Frage des nationalen Gerichts zur Auslegung von Art. 49 AEUV verneint. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass das Ausgangsverfahren einen rein innerstaatlichen Sachverhalt Italiens betraf und das Vorabentscheidungsersuchen keine Angaben dazu enthielt, wie sich die von den Klägern beanstandeten nationalen Maßnahmen auf ausländische Wirtschaftsteilnehmer auswirken konnten. Dementsprechend ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass die gewünschte Auslegung von Art. 49 AEUV für die beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht entscheidungserheblich war ( 30 ).

39.

Im Beschluss Tudoran hat der Gerichtshof die Beantwortung einer Frage abgelehnt, die die Vereinbarkeit bestimmter Vorschriften der rumänischen Zivilprozessordnung mit den Art. 49 AEUV und 56 AEUV betraf, da das Ausgangsverfahren einen rein innerstaatlichen Sachverhalt Rumäniens zum Gegenstand hatte und aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervorging, dass die Guimont- oder die Thomasdünger-Rechtsprechung ( 31 ) anwendbar sein könnte ( 32 ).

40.

Ebenso hat der Gerichtshof im Beschluss Szabó seine Zuständigkeit für eine der Vorlagefragen verneint, da das Ausgangsverfahren einen rein innerstaatlichen Sachverhalt Ungarns zum Gegenstand hatte und das vorlegende Gericht nicht dargelegt hatte, inwiefern die unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung es ersuchte, auf das Ausgangsverfahren anwendbar sein konnten ( 33 ).

41.

Einen ähnlichen Ansatz hat der Gerichtshof in anderen Rechtssachen verfolgt, die keine Grundfreiheiten betrafen, sondern mangels eines Bezugs zum Unionsrecht als rein innerstaatliche Sachverhalte des jeweiligen Mitgliedstaats angesehen wurden. Beispielsweise hat der Gerichtshof in der Rechtssache C ein Vorabentscheidungsersuchen zurückgewiesen, das die Auslegung einer Bestimmung der Richtlinie 2004/80/EG zur Entschädigung der Opfer von Straftaten ( 34 ) betraf, da die Klägerin Opfer einer Gewalttat war, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats begangen worden war, in dem sie wohnte. Der Gerichtshof hat zunächst darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2004/80 eine Entschädigung nur für den Fall einer vorsätzlichen Gewalttat vorsieht, die in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem das Opfer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Sodann hat der Gerichtshof festgestellt, dass er nach ständiger Rechtsprechung auch bei einem rein internen Sachverhalt die erbetene Auslegung vornehmen kann, wenn das nationale Recht das vorlegende Gericht verpflichtet, eine umgekehrte Diskriminierung eigener Staatsbürger zu verhindern. Der Gerichtshof hat jedoch hinzugefügt, dass es nicht seine Aufgabe ist, eine solche Initiative zu ergreifen, wenn sich dem Vorlagebeschluss nicht entnehmen lässt, dass dem vorlegenden Gericht tatsächlich eine solche Verpflichtung obliegt. In jener Rechtssache enthielt der Vorlagebeschluss dazu in der Tat keine Angaben ( 35 ).

42.

Ferner hat sich der Gerichtshof in der Rechtssache De Bellis u. a. für nicht zuständig erklärt, eine Frage zum Grundsatz des Vertrauensschutzes zu beantworten, da der betreffende Sachverhalt keinen Bezug zum Unionsrecht aufwies und die maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich auf Unionsrecht verwiesen. Somit waren die Voraussetzungen, die in der Thomasdünger-Rechtsprechung festgelegt worden waren, nicht erfüllt ( 36 ).

43.

Aufgrund dieser jüngsten Entscheidungen gelange ich zu dem Ergebnis, dass der Gerichtshof nicht mehr davon auszugehen scheint, dass bei rein innerstaatlichen Sachverhalten die Voraussetzungen für seine Zuständigkeit gegeben sind, wenn die Verfahrensakten nur vage Anzeichen dafür enthalten. In solchen Fällen verlangt der Gerichtshof nun, dass die vorlegenden Gerichte die Gründe, aus denen sie eine Zuständigkeit des Gerichtshofs annehmen, verständlicher und substantiierter erläutern.

44.

Diese Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Beurteilung seiner Zuständigkeit nach Art. 267 AEUV ist zu begrüßen. Die Bereitschaft des Gerichtshofs, mit nationalen Gerichten zusammenzuarbeiten, darf meiner Meinung nach nicht dazu führen, dass er Fragen beantwortet, die hypothetisch sind, so dass seine Zuständigkeit bestenfalls zweifelhaft ist.

45.

Vor diesem Hintergrund hätte der Gerichtshof, wenn die Frage nicht zurückgezogen worden wäre, vielleicht von Amts wegen prüfen können, ob er für die Beantwortung zuständig ist ( 37 ). Es ist nämlich unstreitig, dass alle Sachverhaltselemente des Ausgangsverfahrens auf Italien begrenzt sind: Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger, der seinen Wohnsitz in Italien hat und dort eine Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte betreibt. Der Vorlagebeschluss enthält keine grenzüberschreitenden Bezüge. Ebenso wenig enthält er andere Angaben zu der Frage, weshalb eine Auslegung von Art. 49 AEUV für die Entscheidung des Rechtsstreits dennoch von Nutzen sein könnte. Insbesondere finden sich keine Angaben dazu, dass eine maßgebliche Bestimmung des italienischen Rechts in derselben Weise wie Unionsrecht auszulegen ist. Vor allem wird nicht dargelegt, dass die Kläger im Ausgangsverfahren durch eine nationale Regelung, die eine umgekehrte Diskriminierung verbietet, geschützt sein könnten.

46.

Der Umstand, dass ein oder mehrere Vorlagebeschlüsse aus dem gleichen Mitgliedstaat zuvor konkret auf eine Regelung oder einen Grundsatz verwiesen haben, die bzw. der eine umgekehrte Diskriminierung der eigenen Staatsangehörigen verbietet, ist keine solide Grundlage für die Annahme, dass eine solche Regelung oder ein solcher Grundsatz auch auf den derzeit beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit anwendbar ist. Eine solche Annahme wäre bloße Spekulation, da der Gerichtshof nicht in der Lage ist (und auch nicht sein kann), den Geltungsbereich der Regelung oder des Grundsatzes und deren/dessen Rang in der Normenhierarchie sowie die maßgeblichen Entwicklungen im Bereich von Gesetzgebung und Rechtsprechung in dem betreffenden Mitgliedstaat mit Sicherheit zu kennen ( 38 ).

2. Zur Beantwortung der Frage

47.

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich der Gerichtshof mit der ersten Vorlagefrage inhaltlich befassen möchte, ist für mich jedenfalls eindeutig, wie die Frage zu beantworten ist.

48.

In seinem Urteil Venturini hat der Gerichtshof festgestellt, dass die betreffende nationale Regelung geeignet ist, die Niederlassung eines Apothekers in Italien, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und beabsichtigt, in Italien eine parapharmazeutische Verkaufsstelle zu betreiben, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Folglich stellt die Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV dar. Der Gerichtshof ist jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass die Regelung geeignet ist, das Ziel einer sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung und damit den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten, und dass sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist ( 39 ).

49.

Da die nationale Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, mit der nationalen Regelung, die der Gerichtshof im Urteil Venturini untersucht hat, identisch ist, müsste die Antwort auf die erste Vorlagefrage – wäre sie nicht zurückgezogen worden – gleich lauten: Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die es einem zugelassenen Apotheker nicht erlaubt, in einer Verkaufsstelle für parapharmazeutische Produkte, deren Inhaber er ist, diejenigen verschreibungspflichtigen Arzneimittel im Einzelhandel zu vertreiben, deren Kosten nicht vom SSN, sondern vom Käufer getragen werden.

C – Frage 2

50.

Mit der zweiten Vorlagefrage möchte TAR Sicilia wissen, ob Art. 15 der Charta („Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten“) dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die in Bezug auf das Recht zum Verkauf der in der ersten Vorlagefrage genannten Arzneimittel zwischen Apothekern, die Inhaber von Apotheken sind, und Apothekern, die Inhaber von Verkaufsstellen für parapharmazeutische Produkte sind, unterscheidet.

1. Zuständigkeit des Gerichtshofs

51.

Die italienische Regierung und die Kommission vertreten die Auffassung, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage des TAR Sicilia nicht zuständig, da die Charta auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar sei.

52.

Dieser Auffassung kann ich nicht folgen.

53.

Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung ist der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union ( 40 ).

54.

Diese Vorschrift bestätigt die ständige Rechtsprechung, wonach die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden ( 41 ). Wird eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine entsprechende Zuständigkeit begründen ( 42 ).

55.

In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta einen gewissen Grad von Zusammenhang verlangt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann ( 43 ). Um festzustellen, ob eine nationale Regelung die Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 der Charta betrifft, ist u. a. zu prüfen, i) ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, ii) welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie iii) ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann ( 44 ). Der Gerichtshof hat insbesondere festgestellt, dass die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen ( 45 ).

56.

Anhand dieser Grundsätze werde ich nun untersuchen, ob die rechtliche Situation, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 der Charta fällt.

57.

Leider enthält der Vorlagebeschluss keine konkreten Angaben zu dieser Frage. Trotz der offensichtlichen Mängel des Vorlagebeschlusses bin ich jedoch der Ansicht, dass die Frage bejaht werden sollte. Ich betrachte den Zusammenhang zwischen dem Sachverhalt und den im Ausgangsverfahren anwendbaren unionsrechtlichen Bestimmungen wie folgt.

58.

Einerseits scheint die in Rede stehende Regelung streng genommen nicht auf die Durchführung des Unionsrechts gerichtet zu sein: Die Regelung verfolgt das allgemeinere Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, und betrifft den Vertrieb von Arzneimitteln im Einzelhandel im gesamten Hoheitsgebiet Italiens, um eine sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten ( 46 ).

59.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 168 Abs. 7 AEUV bei der Tätigkeit der Union auf dem Gebiet der Gesundheit der Bevölkerung die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt werden muss. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel. Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass grundsätzlich die Mitgliedstaaten bestimmen können, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da dieses Niveau sich von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuzuerkennen ( 47 ).

60.

Andererseits enthält das Recht der Union jedoch spezielle Regelungen, nämlich die Art. 49 AEUV und 52 Abs. 1 AEUV, die grundsätzlich die Anwendbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung berühren können.

61.

Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass, wenn ein Mitgliedstaat sich auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung einer Grundfreiheit zu behindern, diese im Unionsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der nunmehr durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen ist. Die vorgesehenen Ausnahmen können daher für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat ( 48 ).

62.

Die Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte fällt somit eindeutig in den Geltungsbereich des Unionsrechts und folglich der Charta. Nimmt ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, muss dies daher, wie der Gerichtshof im Urteil Pfleger festgestellt hat, als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden ( 49 ).

63.

In Bezug auf den vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Art. 49 AEUV und 52 Abs. 1 AEUV den italienischen Behörden einige Verpflichtungen hinsichtlich des beim vorlegenden Gericht anhängigen Sachverhalts auferlegen. So muss die Maßnahme, die die Niederlassungsfreiheit beschränkt (die Beschränkungen des Verkaufs bestimmter Arzneimittel im Einzelhandel), ohne Diskriminierung angewandt werden; sie muss geeignet sein, um das mit ihr verfolgte legitime Gemeinwohlziel zu erreichen; und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist ( 50 ).

64.

Ich bin deshalb der Ansicht, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage des TAR Sicilia zuständig ist. Allerdings habe ich ernsthafte Zweifel an der Zulässigkeit der Frage.

2. Zulässigkeit

65.

Nach ständiger Rechtsprechung gebietet im Rahmen der Zusammenarbeit nach Art. 267 AEUV die Notwendigkeit, zu einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, dass dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen umreißt, in den sich die gestellten Fragen einfügen, oder dass es zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen ( 51 ). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof die Notwendigkeit hervorgehoben, dass das nationale Gericht die genauen Gründe angibt, aus denen ihm die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof erforderlich erscheinen ( 52 ). Der Gerichtshof hat insbesondere darauf hingewiesen, dass ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, und zu dem Zusammenhang, der nach seiner Auffassung zwischen diesen Bestimmungen und den auf das bei ihm anhängige Verfahren anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften besteht, im Vorlagebeschluss enthalten sein muss ( 53 ).

66.

Wie oben in Nr. 20 dargelegt, sind diese Voraussetzungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung festgelegt, und diese Vorschrift sollte dem nationalen Gericht ‐ wie der Gerichtshof jüngst hervorgehoben hat ‐ bekannt sein und von ihm streng eingehalten werden ( 54 ).

67.

Angesichts dieser Grundsätze vertrete ich die Auffassung, dass der Vorlagebeschluss diese Voraussetzungen in Bezug auf die zweite Vorlagefrage nicht erfüllt.

68.

Der Vorlagebeschluss enthält keine – nicht einmal summarische – Ausführungen zu den Gründen, aus denen das vorlegende Gericht die Auslegung von Art. 15 der Charta für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits als erforderlich ansieht. Das nationale Gericht stellt lediglich fest, dass es Zweifel habe, ob die in dieser Bestimmung enthaltenen Grundsätze uneingeschränkt auf den Beruf des Apothekers anwendbar seien, obwohl der Beruf einer Reihe von Verpflichtungen unterliege, die dem Gemeinwohl dienten.

69.

Hierzu möchte ich ganz klar sagen, dass allen im Binnenmarkt tätigen Arbeitnehmern und Unternehmen unabhängig davon, ob sie im Interesse des Gemeinwohls eine oder mehrere Verpflichtungen zu erfüllen haben, das Recht nach Art. 15 der Charta zusteht. Meiner Meinung nach lässt sich außerdem kaum leugnen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung dieses Recht teilweise beschränken kann ( 55 ).

70.

Ist jedoch nachgewiesen, dass diese Beschränkung durch die Notwendigkeit, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, gerechtfertigt ist ( 56 ), ist für mich nicht erkennbar, welche weiteren Aspekte der Unvereinbarkeit der in Rede stehenden nationalen Regelung mit Unionsrecht durch Art. 15 der Charta ins Spiel gebracht werden könnten.

71.

Art. 52 Abs. 1 der Charta lässt nämlich Einschränkungen der Ausübung von Rechten wie denjenigen zu, die in Art. 15 der Charta verankert sind, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen ( 57 ).

72.

In diesem Zusammenhang erübrigt sich fast der Hinweis, dass die Charta in Art. 35 auch das Grundrecht eines jeden Menschen auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung anerkennt.

73.

Vor diesem Hintergrund hätte man erwartet, dass der Vorlagebeschluss eine Erklärung für die Auffassung des vorlegenden Gerichts liefert, wonach die in Rede stehende nationale Regelung diese beiden Grundrechte nicht ausgewogen gewichte bzw. die nationale Regelung den Wesensgehalt des in Art. 15 der Charta garantierten Rechts nicht achte.

74.

Mangels jeglicher Ausführungen zu diesen entscheidenden Gesichtspunkten komme ich zu dem Ergebnis, dass die zweite Vorlagefrage des TAR Sicilia unzulässig ist, da der Vorlagebeschluss die Voraussetzungen von Art. 94 der Verfahrensordnung nicht erfüllt.

3. Zur Beantwortung der Frage

75.

Was die Beantwortung der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts betrifft, beschränke ich meine Analyse auf die folgenden Ausführungen.

76.

Weder dem Vorlagebeschluss noch den Erklärungen von Herrn Gullotta kann ich Anhaltspunkte entnehmen, die bezweifeln lassen, dass die in Rede stehende nationale Regelung die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten einerseits und das Recht auf Gesundheitsversorgung andererseits gerecht und angemessen zum Ausgleich bringt. Ebenso wenig finde ich Anhaltspunkte dafür, dass das in Art. 15 der Charta vorgesehene Recht so massiv beschränkt wurde, dass sein Wesensgehalt als gefährdet angesehen werden kann.

77.

Folglich bin ich nicht der Auffassung, dass Art. 15 der Charta einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.

D – Frage 3

78.

Schließlich möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen, ob die Art. 102 AEUV und 106 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die den Verkauf bestimmter Arzneimittel im Einzelhandel Apotheken vorbehält und parapharmazeutische Verkaufsstellen davon ausschließt.

1. Zulässigkeit

79.

Auch in Bezug auf die dritte Vorlagefrage habe ich Zweifel an der Zulässigkeit. Auch hier legt der Vorlagebeschluss nicht dar, weshalb das vorlegende Gericht die Auffassung vertritt, dass die in Rede stehende Regelung nicht mit den Art. 102 AEUV und 106 AEUV vereinbar sei.

80.

Was erstens Art. 102 AEUV betrifft, ist für mich nicht ersichtlich, ob nach Auffassung des vorlegenden Gerichts jede (oder einige) der über 15000 Apotheken in Italien über eine einzelne marktbeherrschende Stellung verfügt oder ob davon auszugehen ist, dass diese Einrichtungen gemeinsam eine marktbeherrschende Stellung innehaben. Zweitens müsste, selbst wenn man annimmt, dass eine marktbeherrschende Stellung nachgewiesen werden könnte, darüber hinaus festgestellt werden, in welcher Weise eine solche Stellung rechtswidrig zur Ausschaltung des Wettbewerbs auf dem maßgeblichen Markt bzw. den maßgeblichen Märkten missbraucht werden könnte.

81.

Sodann ist im Hinblick auf Art. 106 AEUV hervorzuheben, dass der Gerichtshof kürzlich erneut seine Rechtsprechung bestätigt hat, wonach ein Mitgliedstaat gegen die in Art. 106 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 102 AEUV aufgestellten Verbote verstößt, wenn er im Bereich der Gesetzgebung oder Verwaltung eine Maßnahme trifft, mit der er eine Situation schafft, in der ein öffentliches Unternehmen oder ein Unternehmen, dem er besondere oder ausschließliche Rechte verliehen hat, durch die bloße Ausübung der ihm übertragenen Vorzugsrechte seine beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzt oder wenn durch diese Rechte eine Lage geschaffen werden könnte, in der dieses Unternehmen einen solchen Missbrauch begeht. Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass ein Verstoß gegen Art. 106 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 102 AEUV den Nachweis einer potenziellen oder tatsächlichen wettbewerbswidrigen Wirkung erfordert, die sich aus dem Umstand ergeben könnte, dass der Staat einigen Unternehmen besondere oder ausschließliche Rechte verliehen hat ( 58 ).

82.

Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass, selbst wenn man annimmt, die in Rede stehende Regelung könne so verstanden werden, dass sie Apotheken besondere oder ausschließliche Rechte im Sinne von Art. 106 Abs. 1 AEUV verleiht, darüber hinaus nachvollziehbar sein müsste, inwiefern Apotheken – nach Auffassung des vorlegenden Gerichts – aufgrund der ihnen gewährten besonderen oder ausschließlichen Rechte dazu verleitet werden können, ihre beherrschende Stellung zu missbrauchen.

83.

Zu diesen Fragen finden sich jedoch keine Ausführungen. Unter diesen Umständen lässt sich daher nicht nachvollziehen, inwiefern die Art. 102 AEUV und 106 AEUV einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen könnten ( 59 ).

84.

In der Rechtssache Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti ist dem Gerichtshof eine recht ähnliche Frage vorgelegt worden, als ein italienisches Gericht wissen wollte, ob die Art. 102 AEUV und 106 AEUV einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Centri di Assistenza Fiscale (Steuerbeistandszentren in Form von Aktiengesellschaften, die vom italienischen Finanzministerium genehmigt werden) das Recht zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten der Beratung und des Beistands in Steuerfragen vorbehält. In seinem Urteil hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die bloße Schaffung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung besonderer oder ausschließlicher Rechte als solche noch nicht mit den Verträgen unvereinbar ist. Für einen Verstoß gegen die Art. 102 AEUV und 106 Abs. 1 AEUV ist es daher nicht nur erforderlich, dass die in Rede stehende nationale Regelung bewirkt, dass bestimmten Unternehmen besondere oder ausschließliche Rechte verliehen werden, sondern auch, dass eine solche Regelung diese Unternehmen zum Missbrauch einer beherrschenden Stellung verleiten kann. Der Gerichtshof ist jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass ihm weder mit dem Vorlagebeschluss noch mit den schriftlichen Erklärungen die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte an die Hand gegeben wurden, die ihm die Feststellung erlauben würden, ob die Voraussetzungen für das Vorliegen einer beherrschenden Stellung oder eines missbräuchlichen Verhaltens im Sinne der Art. 102 und 106 Abs. 1 AEUV erfüllt waren. Daher hat er die Vorlagefrage für unzulässig erklärt ( 60 ).

85.

Meiner Meinung nach gilt dieses Ergebnis auch für die vorliegende Rechtssache.

2. Zur Beantwortung der Frage

86.

Wie bereits dargelegt, kann ich weder dem Vorlagebeschluss noch den Erklärungen von Herrn Gullotta Anhaltspunkte für einen möglichen Verstoß gegen die Art. 102 AEUV und 106 Abs. 1 AEUV entnehmen.

87.

Folglich sehe ich nicht, aus welchem Grund die Art. 102 AEUV und 106 AEUV dahin auszulegen sein sollten, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die den Verkauf bestimmter Arzneimittel im Einzelhandel Apotheken vorbehält und parapharmazeutische Verkaufsstellen davon ausschließt.

E – Schlussbemerkungen

88.

Im Jahr 2014 hat der Gerichtshof in fast 40 Fällen Vorabentscheidungsersuchen zurückgewiesen, weil sie entweder in vollem Umfang unzulässig waren oder eindeutig keine Zuständigkeit gegeben war. In einer ebenso hohen Zahl von Fällen wurden Vorabentscheidungsersuchen aus diesen Gründen teilweise zurückgewiesen. Die überwiegende Mehrheit dieser Rechtssachen wies genau die Arten von verfahrensrechtlichen Fragen auf, die in den vorliegenden Schlussanträgen untersucht wurden: i) Fragen zur Auslegung der Grundfreiheiten, obwohl kein Gesichtspunkt des Ausgangsverfahrens über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinauswies ( 61 ), ii) Fragen zur Auslegung der Charta in Fällen, die keinen eindeutigen Zusammenhang zum Recht der Union aufwiesen ( 62 ), und iii) Vorlagebeschlüsse, die keine Ausführungen zum grundlegenden tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der vorgelegten Fragen enthielten ( 63 ).

89.

Leider ist es nicht unüblich, dass nationale Gerichte dem Gerichtshof Fragen vorlegen, die Zweifel an der Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Unionsrecht unter Verweis auf eine relativ hohe Zahl unionsrechtlicher Bestimmungen betreffen, ohne dass für die einzelnen Bestimmungen dargelegt wird, warum sie für die zu prüfende Rechtssache relevant sein könnten. Ähnliche Probleme entstehen durch Vorabentscheidungsersuchen, die die Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Unionsrecht in Frage stellen, ohne konkrete unionsrechtliche Bestimmungen zu nennen.

90.

Diese Praxis ist nicht akzeptabel. Jede Rechtssache, die aus verfahrensrechtlichen Gründen zurückgewiesen wird, führt zu einer erheblichen Vergeudung von Ressourcen sowohl des vorlegenden Gerichts als auch der Unionsgerichte (vor allem weil der Vorlagebeschluss in alle Amtssprachen der Europäischen Union übersetzt werden muss). Darüber hinaus müssen die Beteiligten des Ausgangsverfahrens eine Verzögerung des Verfahrens hinnehmen, die keinen Nutzen bringt.

91.

Nach Art. 19 Abs. 1 EUV wachen sowohl der Gerichtshof als auch die Gerichte der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Rechtsordnung der Europäischen Union und des Gerichtssystems der Europäischen Union. Sowohl den Unionsgerichten als auch den nationalen Gerichten obliegt die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen ( 64 ).

92.

Angesichts dieses zentralen verfassungsrechtlichen Grundsatzes ist der Gerichtshof bereit, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die nationalen Gerichte bei der Erfüllung ihrer gerichtlichen Funktion innerhalb der Rechtsordnung der Europäischen Union zu unterstützen. Der Gerichtshof ist sich jedoch auch über die Grenzen im Klaren, die seiner Tätigkeit durch die Verträge gesetzt werden.

93.

Auch die nationalen Gerichte sollten sich diese Grenzen bewusst machen. Insbesondere sollten ihnen die jüngsten Entscheidungen bekannt sein, aus denen hervorgeht, dass der Gerichtshof bei der Beurteilung seiner Zuständigkeit für die Beantwortung von Fragen nach Art. 267 AEUV und der Zulässigkeit solcher Fragen nun einem strengeren Ansatz folgt.

94.

Allgemein sollten die nationalen Gerichte stets beachten, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der dem Verfahren nach Art. 267 AEUV zugrunde liegt ( 65 ), für beide Seiten gilt. Sie sollten dem Gerichtshof helfen, ihnen zu helfen.

IV – Ergebnis

95.

Aufgrund all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Tribunale Amministrativo Regionale per la Sicilia in der Rechtssache C‑497/12 vorgelegten Fragen 2 und 3 für unzulässig zu erklären.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Vgl. z. B. Urteile The Chartered Institute of Patent Attorneys (C‑307/10, EU:C:2012:361, Rn. 31) und Danske Slagterier (C‑445/06, EU:C:2009:178, Rn. 65). Vgl. auch Urteil Meilicke, C‑83/91, EU:C:1992:332, Rn. 22.

( 3 ) Vgl. u. a. Urteile Kamberaj (C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 41), Zurita García und Choque Cabrera (C‑261/08 und C‑348/08, EU:C:2009:648, Rn. 36) und Schneider (C‑380/01, EU:C:2004:73, Rn. 23).

( 4 ) In den letzten Jahren ist die Zahl der eingehenden Fälle kontinuierlich gestiegen. 2013 ist das Jahr, in dem dieses Phänomen seinen Höhepunkt erreichte und der Gerichtshof seine bislang höchste Zahl von Urteilen verkündete und auch die höchste Anzahl neuer Rechtssachen verzeichnete. In jenem Jahr machten Vorabentscheidungsersuchen fast 60 % der neuen Rechtssachen aus (vgl. Jahresbericht 2013 des Gerichtshofs).

( 5 ) Um nur einige anzuführen: Urteile Pringle (C‑370/12, EU:C:2012:756), Z (C‑363/12, EU:C:2014:159), D (C‑167/12, EU:C:2014:169) und International Stem Cell Corporation (C‑364/13, EU:C:2014:2451) sowie die anhängige Rechtssache Gauweiler u. a. (C‑62/14).

( 6 ) Siehe meine Schlussanträge in den Rechtssachen Venturini u. a. (C‑159/12 bis C‑161/12, EU:C:2013:529, Nrn. 22 bis 25) (im Folgenden: Venturini).

( 7 ) C‑159/12 bis C‑161/12, EU:C:2013:791.

( 8 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Unión de Pequeños Agricultores/Rat (C‑50/00 P, EU:C:2002:462, Rn. 44 und 45).

( 9 ) Vgl. Urteil Torralbo Marcos (C‑265/13, EU:C:2014:187, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vgl. hierzu meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen Torresi (C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:265, Nrn. 19 bis 81).

( 11 ) Siehe Art. 100 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs (im Folgenden: Verfahrensordnung).

( 12 ) Vgl. u. a. Beschluss Viacom (C‑190/02, EU:C:2002:569, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 13 ) In der Tat werden die beiden Situationen in Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung gesondert aufgeführt: „Ist der Gerichtshof für die Entscheidung über eine Rechtssache offensichtlich unzuständig oder ist ein Ersuchen oder eine Klage offensichtlich unzulässig, so kann er nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen.“

( 14 ) Es sei darauf hingewiesen, dass die maßgeblichen Tatsachen und einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vom nationalen Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen festgestellt werden. Der Gerichtshof stellt diese Gesichtspunkte des Vorabentscheidungsersuchens grundsätzlich nicht in Frage. Vgl. z. B. Urteil Trespa International (C‑248/07, EU:C:2008:607, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 15 ) Vgl. in diesem Sinne Naômé, C., Le renvoi préjudiciel en droit européen – Guide pratique, Larcier, Brüssel: 2010 (2. Aufl.), S. 85 und 86.

( 16 ) Vgl. Beschluss Killinger/Deutschland u. a. (C‑396/03 P, EU:C:2005:355, Rn. 15 und 26).

( 17 ) Vgl. z. B. Beschluss Kauk/Deutschland (T‑334/11, EU:T:2011:408).

( 18 ) Vgl. z. B. Beschluss Calvi/Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (C‑171/14 P, EU:C:2014:2281).

( 19 ) Vgl. insbesondere Beschluss Gluiber/Deutschland (T‑126/98, EU:T:1998:237).

( 20 ) Vgl. z. B. Beschluss Alsharghawi/Rat (T‑532/14 R, EU:T:2014:732).

( 21 ) Wie in Art. 19 der Satzung vorgesehen. Vgl. z. B. Beschluss ADR Center/Kommission (C‑259/14 P, EU:C:2014:2417).

( 22 ) Vgl. u. a. Urteil Kommission/Frankreich (C‑225/98, EU:C:2000:494, Rn. 69).

( 23 ) EU:C:2013:791.

( 24 ) Vgl. u. a. Urteile USSL no 47 di Biella (C‑134/95, EU:C:1997:16, Rn. 19), RI.SAN. (C‑108/98, EU:C:1999:400, Rn. 23) und Omalet (C‑245/09, EU:C:2010:808, Rn. 12).

( 25 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Venturini (EU:C:2013:529, Nrn. 32 bis 52).

( 26 ) Ebd. (Nrn. 53 bis 55).

( 27 ) Ebd. (Nrn. 24 und 55).

( 28 ) Ebd. (Nrn. 38, 42 bis 44, 50 und 51).

( 29 ) Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Airport Shuttle Express (C‑162/12 und C‑163/12, EU:C:2013:617, Nrn. 26 bis 60).

( 30 ) Vgl. Urteil Airport Shuttle Express (C‑162/12 und C‑163/12, EU:C:2014:74, Rn. 28 bis 51).

( 31 ) Vgl. oben, Nr. 33.

( 32 ) Beschluss Tudoran (C‑92/14, EU:C:2014:2051, Rn. 34 bis 42).

( 33 ) Beschluss Szabó (C‑204/14, EU:C:2014:2220, Rn. 15 bis 25).

( 34 ) Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 261, S. 15).

( 35 ) C‑122/13, EU:C:2014:59.

( 36 ) C‑246/14, EU:C:2014:2291.

( 37 ) Vgl. z. B. Urteil Romeo (C‑313/12, EU:C:2013:718, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 38 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Venturini (EU:C:2013:529, Nrn. 42 bis 45) und die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Airport Shuttle Express (EU:C:2013:617, Nrn. 54 und 55).

( 39 ) EU:C:2013:791.

( 40 ) Vgl. u. a. Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17) und Beschluss Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio (C‑258/13, EU:C:2013:810, Rn. 18).

( 41 ) Vgl. u. a. Beschluss Boncea u. a. (C‑483/11 und C‑484/11, EU:C:2011:832, Rn. 29) und Urteil Åkerberg Fransson (EU:C:2013:105, Rn. 19).

( 42 ) Vgl. in diesem Sinne Beschluss Currà u. a. (C‑466/11, EU:C:2012:465, Rn. 26) und Urteil Åkerberg Fransson (EU:C:2013:105, Rn. 22).

( 43 ) Urteil Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24). Vgl. in diesem Sinne auch die angeführte Rechtsprechung.

( 44 ) Ebd. (Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 45 ) Ebd. (Rn. 26) und Urteil Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 35).

( 46 ) Vgl. Urteil Venturini (EU:C:2013:791, Rn. 40 und 63).

( 47 ) Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Blanco Pérez und Chao Gómez (C‑570/07 und C‑571/07, EU:C:2010:300, Rn. 44) und Venturini (EU:C:2013:791, Rn. 59).

( 48 ) Vgl. Urteil Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 49 ) Ebd. (Rn. 36). Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in derselben Rechtssache (EU:C:2013:747, Nrn. 36 bis 46).

( 50 ) Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Hartlauer (C‑169/07, EU:C:2009:141, Rn. 44) und Apothekerkammer des Saarlandes u. a. (C‑171/07 und C‑172/07, EU:C:2009:316, Rn. 25).

( 51 ) Vgl. u. a. Urteil Mora IPR (C‑79/12, EU:C:2013:98, Rn. 35) sowie Beschlüsse Augustus (C‑627/11, EU:C:2012:754, Rn. 8) und Mlamali (C‑257/13, EU:C:2013:763, Rn. 18).

( 52 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Mora IPR (EU:C:2013:98, Rn. 36) und Beschlüsse Mlamali (EU:C:2013:763, Rn. 20) und Talasca (C‑19/14, EU:C:2014:2049, Rn. 19).

( 53 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile Asemfo (C‑295/05, EU:C:2007:227, Rn. 33) und Mora IPR (EU:C:2013:98, Rn. 37). Vgl. auch Beschluss Laguillaumie (C‑116/00, EU:C:2000:350, Rn. 23 und 24).

( 54 ) Vgl. Beschluss Talasca (EU:C:2014:2049, Rn. 21).

( 55 ) Vgl. oben, Nrn. 48 und 49.

( 56 ) Ebd.

( 57 ) Vgl. Urteil Schaible (C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 58 ) Vgl. u. a. Urteile Kommission/DEI (C‑553/12 P, EU:C:2014:2083, Rn. 41 bis 46), MOTOE (C‑49/07, EU:C:2008:376, Rn. 49) und Connect Austria (C‑462/99, EU:C:2003:297, Rn. 80).

( 59 ) Der Gerichtshof hat festgestellt, dass das Erfordernis der präzisen Ausführungen im Vorlagebeschluss im Hinblick auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen insbesondere im Bereich des Wettbewerbs gilt, der durch komplexe tatsächliche und rechtliche Verhältnisse gekennzeichnet ist: vgl. Beschluss Laguillaumie (EU:C:2000:350, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 60 ) C‑451/03, EU:C:2006:208, Rn. 20 bis 26.

( 61 ) Vgl. u. a. Urteil Airport Shuttle Express (EU:C:2014:74) sowie Beschlüsse Tudoran (EU:C:2014:2051) und Szabó (EU:C:2014:2220).

( 62 ) Vgl. u. a. Beschlüsse Kárász (C‑199/14, EU:C:2014:2243), Pańczyk (C‑28/14, EU:C:2014:2003) und Široká (C‑459/13, EU:C:2014:2120).

( 63 ) Vgl. u. a. Beschlüsse Herrenknecht (C‑366/14, EU:C:2014:2353), Hunland-Trade (C‑356/14, EU:C:2014:2340) und 3D I (C‑107/14, EU:C:2014:2117).

( 64 ) Vgl. Gutachten 1/09 (EU:C:2011:123, Rn. 66 bis 69).

( 65 ) Vgl. oben, Nr. 1.

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