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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62012CJ0198

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 5. Juni 2014.
    Europäische Kommission gegen Republik Bulgarien.
    Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Energiebinnenmarkt – Gastransport – Verordnung (EG) Nr. 715/2009 – Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b – Verpflichtung zur Gewährleistung der größtmöglichen Kapazität – Virtuelle Kapazität für den Gastransport in umgekehrter Richtung – Zulässigkeit.
    Rechtssache C‑198/12.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2014:1316

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

    5. Juni 2014 ( *1 )

    „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Energiebinnenmarkt — Gastransport — Verordnung (EG) Nr. 715/2009 — Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b — Verpflichtung zur Gewährleistung der größtmöglichen Kapazität — Virtuelle Kapazität für den Gastransport in umgekehrter Richtung — Zulässigkeit“

    In der Rechtssache C‑198/12

    betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 26. April 2012,

    Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann, S. Petrova, O. Beynet und T. Scharf als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

    Klägerin,

    gegen

    Republik Bulgarien, vertreten durch D. Drambozova, E. Petranova und Y. Atanasov als Bevollmächtigte,

    Beklagte,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda (Berichterstatter),

    Generalanwalt: N. Jääskinen,

    Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. September 2013,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. November 2013

    folgendes

    Urteil

    1

    Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Bulgarien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 (ABl. L 211, S. 36) verstoßen hat, dass sie nicht zugunsten aller Marktteilnehmer Dienstleistungen des virtuellen Gastransports in umgekehrter Richtung bereitgestellt hat.

    Rechtlicher Rahmen

    2

    Das von der Kommission gegen die Republik Bulgarien eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren war ursprünglich auf Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. September 2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen (ABl. L 289, S. 1) gestützt, die im Laufe des Vorverfahrens zum 3. März 2011 durch die Verordnung Nr. 715/2009 aufgehoben wurde. Die genannten Bestimmungen wurden durch Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 715/2009 ersetzt.

    3

    Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 715/2009 hat Art. 1 der Verordnung Nr. 1775/2005 ersetzt. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2009 bestimmt:

    „Ziel dieser Verordnung ist

    a)

    die Festlegung nichtdiskriminierender Regeln für die Bedingungen für den Zugang zu Erdgasfernleitungsnetzen unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale nationaler und regionaler Märkte, um das reibungslose Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts sicherzustellen“.

    4

    Art. 2 dieser Verordnung trägt die Überschrift „Begriffsbestimmungen“. Art. 2 Abs. 1, der Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1775/2005 ersetzt hat, lautet:

    „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

    1.

    ‚Fernleitung‘ den Transport von Erdgas durch ein hauptsächlich Hochdruckfernleitungen umfassendes Netz, mit Ausnahme von vorgelagerten Rohrleitungsnetzen und des in erster Linie im Zusammenhang mit der lokalen Erdgasverteilung benutzten Teils von Hochdruckfernleitungen, zum Zweck der Belieferung von Kunden, jedoch mit Ausnahme der Versorgung;

    3.

    ‚Kapazität‘ den maximalen Lastfluss, der in Norm-Kubikmetern pro Zeiteinheit oder in Energieeinheiten pro Zeiteinheit ausgedrückt wird, auf den der Netznutzer gemäß den Bestimmungen des Transportvertrags Anspruch hat;

    5.

    ‚Engpassmanagement‘ das Management des Kapazitätsportfolios des Fernleitungsnetzbetreibers zur optimalen und maximalen Nutzung der technischen Kapazität und zur rechtzeitigen Feststellung künftiger Engpass- und Sättigungsstellen;

    7.

    ‚Nominierung‘ die vorherige Meldung des tatsächlichen Lastflusses, den der Netznutzer in das Netz ein- oder aus diesem ausspeisen will, an den Fernleitungsnetzbetreiber;

    9.

    ‚Netzintegrität‘ jedwede auf ein Fernleitungsnetz, einschließlich der erforderlichen Fernleitungsanlagen, bezogene Situation, in der Erdgasdruck und Erdgasqualität innerhalb der von dem Fernleitungsnetzbetreiber festgelegten Mindest- und Höchstgrenzen bleiben, so dass der Erdgasferntransport technisch gewährleistet ist;

    18.

    ‚technische Kapazität‘ die verbindliche Höchstkapazität, die der Fernleitungsnetzbetreiber den Netznutzern unter Berücksichtigung der Netzintegrität und der betrieblichen Anforderungen des Fernleitungsnetzes anbieten kann;

    20.

    ‚verfügbare Kapazität‘ den Teil der technischen Kapazität, die nicht zugewiesen wurde und dem Netz aktuell noch zur Verfügung steht;

    21.

    ‚vertraglich bedingter Engpass‘ eine Situation, in der das Ausmaß der Nachfrage nach verbindlicher Kapazität die technische Kapazität übersteigt;

    23.

    ‚physischer Engpass‘ eine Situation, in der das Ausmaß der Nachfrage nach tatsächlichen Lieferungen die technische Kapazität zu einem bestimmten Zeitpunkt übersteigt“.

    5

    Art. 14 der Verordnung Nr. 715/2009 trägt die Überschrift „Fernleitungsnetzbetreiber betreffende Dienstleistungen für den Zugang Dritter“. Art. 14 Abs. 1, der Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1775/2005 ersetzt hat, bestimmt:

    „Die Fernleitungsnetzbetreiber

    a)

    stellen sicher, dass sie allen Netznutzern Dienstleistungen ohne Diskriminierung anbieten;

    b)

    stellen sowohl verbindliche als auch unterbrechbare Dienstleistungen für den Zugang Dritter bereit. Der Preis der unterbrechbaren Kapazität spiegelt die Wahrscheinlichkeit einer Unterbrechung wider;

    c)

    bieten den Netznutzern sowohl lang- als auch kurzfristige Dienstleistungen an.

    Hinsichtlich Unterabsatz 1 Buchstabe a legt ein Fernleitungsnetzbetreiber, der verschiedenen Kunden dieselbe Dienstleistung anbietet, dabei gleichwertige vertragliche Bedingungen zugrunde, indem er entweder harmonisierte Transportverträge oder einen gemeinsamen Netzcode benutzt, die von der zuständigen Behörde nach dem in Artikel 41 der Richtlinie 2009/73/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. L 211, S. 94)] genannten Verfahren genehmigt worden sind.“

    6

    Art. 16 der Verordnung Nr. 715/2009 trägt die Überschrift „Fernleitungsnetzbetreiber betreffende Grundsätze der Kapazitätszuweisungsmechanismen und der Verfahren für das Engpassmanagement“. Art. 16 Abs. 1 und 2, der Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1775/2005 ersetzt hat, sieht vor:

    „(1)   Den Marktteilnehmern wird in allen in Artikel 18 Absatz 3 genannten maßgeblichen Punkten die größtmögliche Kapazität zur Verfügung gestellt, wobei auf die Netzintegrität und einen effizienten Netzbetrieb geachtet wird.

    (2)   Die Fernleitungsnetzbetreiber veröffentlichen nichtdiskriminierende und transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen und setzen diese um; diese müssen

    a)

    angemessene ökonomische Signale für die effiziente und maximale Nutzung der technischen Kapazität liefern, Investitionen in neue Infrastruktur erleichtern und den grenzüberschreitenden Erdgashandel erleichtern;

    b)

    kompatibel mit den Marktmechanismen einschließlich Spotmärkten und „Trading Hubs“ sein und gleichzeitig flexibel und in der Lage sein, sich einem geänderten Marktumfeld anzupassen, und;

    c)

    mit den Netzzugangsregelungen der Mitgliedstaaten kompatibel sein.“

    Vorverfahren

    7

    Die Kommission sandte der Republik Bulgarien am 26. Juni 2009 ein Mahnschreiben, in dem sie geltend machte, dieser Mitgliedstaat habe u. a. gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1775/2005 verstoßen, an deren Stelle Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 getreten sind.

    8

    Da die Kommission die schriftliche Antwort der Republik Bulgarien vom 26. August 2009 nicht für zufriedenstellend hielt, sandte sie ihr am 28. Juni 2010 eine mit Gründen versehene Stellungnahme. Die Republik Bulgarien antwortete darauf mit Schreiben vom 27. August 2010 und legte der Kommission mit Schreiben vom 24. August 2011, 28. Dezember 2011 und 19. Januar 2012 ergänzende Informationen vor.

    9

    Da die Kommission die Antworten auf die mit Gründen versehene Stellungnahme nicht für zufriedenstellend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

    Zur Klage

    Zur Zulässigkeit der Klage

    Vorbringen der Parteien

    10

    Die Republik Bulgarien trägt zunächst vor, dass die Klage der Kommission unzulässig sei, weil Diskrepanzen zwischen der Begründung der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Begründung der Klage bestünden.

    11

    Das Mahnschreiben und die mit Gründen versehene Stellungnahme erwähnten zahlreiche Male eine Verpflichtung, Dienstleistungen des „Transports in umgekehrter Richtung im Rahmen eines Systems der Versorgungsunterbrechung“ anzubieten, womit nur der physische Gastransport in umgekehrter Richtung gemeint sein könne. In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme habe die Kommission aber behauptet, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1775/2005 dazu verpflichte, physische Kapazitäten für den Gastransport in beide Richtungen zu gewährleisten oder, wenn dies technisch nicht möglich sei, physische Kapazitäten für den Transport in die Hauptrichtung und virtuelle Kapazitäten für den Transport in umgekehrter Richtung zu gewährleisten.

    12

    Des Weiteren habe sich die Kommission in der Begründung ihrer Klageschrift auf eine umfassendere Pflicht zur Bereitstellung von Kapazitäten für den Transport in umgekehrter Richtung bezogen, ob diese Kapazitäten nun physisch oder virtuell seien. In ihren Klageanträgen habe die Kommission jedoch allein die Erbringung von Dienstleistungen des virtuellen Transports in umgekehrter Richtung erwähnt.

    13

    Angesichts dieser Widersprüche habe sie weder feststellen können, welcher Verstoß ihr vorgeworfen werde, noch gegenüber den Rügen der Kommission zweckdienlich ihre Verteidigungsmittel vorbringen können, so dass die vorliegende Klage als unzulässig abzuweisen sei.

    14

    Die Kommission macht geltend, dass die mit Gründen versehene Stellungnahme die Dienstleistungen sowohl des physischen als auch des virtuellen Gastransports in umgekehrter Richtung betroffen habe, wobei das Angebot dieser beiden Arten der Transportdienstleistung als Bestandteil der Verpflichtung des Fernleitungsnetzbetreibers angesehen werde, den Marktteilnehmern die größtmögliche Transportkapazität seines Netzes zur Verfügung zu stellen, was ausdrücklich aus der mit Gründen versehenen Stellungnahme hervorgehe. Im Wesentlichen habe sie sowohl in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch im Mahnschreiben mehrfach darauf hingewiesen, dass der virtuelle Gastransport in umgekehrter Richtung Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 entspreche, falls dem Netzbetreiber der physische Transport in umgekehrter Richtung nicht möglich sei.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    15

    Nach ständiger Rechtsprechung begrenzen das von der Kommission an den betreffenden Mitgliedstaat gerichtete Mahnschreiben und sodann ihre mit Gründen versehene Stellungnahme den Streitgegenstand, der daher nicht mehr erweitert werden kann. Somit müssen die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage auf dieselben Rügen gestützt werden (vgl. u. a. Urteile Kommission/Deutschland, C‑191/95, EU:C:1998:441, Rn. 55, und Kommission/Spanien, C‑67/12, EU:C:2014:5, Rn. 52).

    16

    Dieses Erfordernis kann jedoch nicht so weit gehen, dass in jedem Fall eine völlige Übereinstimmung zwischen der Darlegung der Rügen im Mahnschreiben, im verfügenden Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme und in den Anträgen in der Klageschrift bestehen muss, sofern der Streitgegenstand, wie er in der mit Gründen versehenen Stellungnahme umschrieben wurde, nicht erweitert oder geändert, sondern nur beschränkt worden ist (vgl. u. a. Urteile Kommission/Deutschland, EU:C:1998:441, Rn. 56, und Kommission/Spanien, EU:C:2014:5, Rn. 53).

    17

    Im vorliegenden Fall hat die Kommission den Streitgegenstand, wie er im Mahnschreiben und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme umschrieben wurde, nicht erweitert, sondern ihn lediglich auf die Verpflichtung zur Erbringung von Dienstleistungen des virtuellen Transports in umgekehrter Richtung eingegrenzt. Wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat die Kommission nämlich im Mahnschreiben, in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und in der Klageschrift davon gesprochen, dass eine Verpflichtung bestehe, virtuelle Transportkapazitäten anzubieten.

    18

    Demnach ist die von der Republik Bulgarien erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.

    Zur Begründetheit

    Vorbringen der Parteien

    19

    Die Kommission ist der Ansicht, dass die Republik Bulgarien gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 verstoßen habe, weil die Bulgartransgaz EAD, die in Bulgarien das Gasfernleitungsnetz betreibe, nicht an jedem Ein- und Ausspeisepunkt des Netzes, und zwar in Negru Voda, dem Verbindungspunkt zum rumänischen Netz, und in Sidirokastro, dem Verbindungspunkt zum griechischen Netz, virtuelle Kapazitäten für den Transport in umgekehrter Richtung anbiete.

    20

    Aus der Klageschrift der Kommission geht hervor, dass sich die virtuellen Gastransportkapazitäten eines Netzes daraus ergeben, dass der Netzbetreiber Nachfragen nach Gastransporten in entgegengesetzte Richtungen miteinander verrechnet. Dieser Verrechnungsmechanismus ermöglicht es, parallel zur physischen Transportkapazität eine „virtuelle“ Kapazität für den Gastransport in dem Sinne anzubieten, dass die fraglichen Gasmengen nicht physisch durch das Gasfernleitungsnetz fließen.

    21

    Die Kommission macht erstens geltend, dass die Republik Bulgarien, weil sie an den betreffenden Grenzpunkten keine Dienstleistungen des virtuellen Transports in umgekehrter Richtung anbiete, gegen ihre Verpflichtung aus Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 zur Bereitsstellung der größtmöglichen Netzkapazität zugunsten der Marktteilnehmer in Verbindung mit der Verpflichtung aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung, allen Netznutzern Dienstleistungen ohne Diskriminierung anzubieten, und der Verpflichtung aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung, sowohl verbindliche als auch unterbrechbare Dienstleistungen für den Zugang Dritter bereitzustellen, verstoßen habe.

    22

    Bestimmte Fernleitungssysteme böten Kapazitäten für den physischen Gastransport in beide Richtungen, so dass die Netznutzer Zugang zu Dienstleistungen des physischen Transports in umgekehrter Richtung hätten. Diese Systeme verfügten über bidirektionale physische Kapazitäten. Andere Fernleitungssysteme, wie die von der Republik Bulgarien eingerichteten, ließen dagegen einen physischen Gastransport nur in eine Richtung zu und böten damit eine unidirektionale Kapazität. Im letztgenannten Fall umfasse die Verpflichtung aus Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 zur Bereitstellung der größtmöglichen Netzkapazität die Verpflichtung, Dienstleistungen des virtuellen Transports in umgekehrter Richtung anzubieten.

    23

    Durch das Angebot virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung lasse sich nämlich die Netzkapazität erhöhen. So gleiche die Bereitsstellung virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung nicht nur aus, dass die Gasfernleitung keine physischen Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung besitze, sondern erhöhe auch die Transportkapazitäten in der Hauptrichtung, da die Nachfrage nach einem Transport in der Hauptrichtung mit der Nachfrage nach einem Transport in umgekehrter Richtung verrechnet werde.

    24

    Eine Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 in dem Sinne, dass er eine Verpflichtung zur Bereitstellung virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung zugunsten der Marktteilnehmer vorsehe, werde durch Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung bestätigt. Im Rahmen von Vereinbarungen über unterbrechbare Lieferungen müssten nämlich derartige virtuelle Kapazitäten bereitgestellt werden, und Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 verpflichte die Fernleitungsnetzbetreiber, sowohl verbindliche als auch unterbrechbare Dienstleistungen bereitzustellen.

    25

    Zweitens folge die Verpflichtung zur Einrichtung virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung aus dem Erfordernis, für einen „effizienten Netzbetrieb“ zu sorgen, das ebenfalls in Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 aufgestellt worden sei. Diese Kapazitäten ermöglichten es nämlich, das Angebot von Gastransportdienstleistungen ohne zusätzliche Kosten zu erweitern, während der Erwerb physischer Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung hohe Investitionen in die Infrastruktur und eine Nutzung von Verbrennungsgas voraussetze, damit der Transport erfolgen könne.

    26

    Drittens folge die Verpflichtung zur Bereitstellung virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung auch aus der Verpflichtung nach Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009, Netzkapazitäten im Einklang mit den Marktmechanismen zuzuweisen. Eine Beschränkung auf die physischen Transportkapazitäten der Gasfernleitungen würde das Gastransportangebot in der Europäischen Union drastisch reduzieren, den liquiden Gashandel zwischen den „Trading Hubs“ erheblich behindern und möglicherweise zu beträchtlichen Preisunterschieden in der Union führen.

    27

    Viertens liefe eine Auslegung der Verordnung Nr. 715/2009 in dem Sinne, dass diese keine Verpflichtung zur Bereitstellung virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung vorsehe, den Zielen dieser Verordnung zuwider, die sich aus deren Art. 1 Abs. 1 ergäben. Die Bereitstellung derartiger virtueller Kapazitäten sei nämlich eine unverzichtbare Voraussetzung sowohl für die Entwicklung des Marktes für Flüssigerdgas als auch für die Integration des Erdgasbinnenmarkts.

    28

    Die Republik Bulgarien widerspricht der Auslegung der Kommission, wonach die Verordnung Nr. 715/2009 eine Verpflichtung vorsehe, an jedem Ein- und Ausspeisepunkt des Netzes virtuelle Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung anzubieten.

    29

    Erstens lasse eine grammatikalische Auslegung von Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung nicht den Schluss zu, dass eine Verpflichtung zur Bereitstellung bidirektionaler Kapazitäten in den Gasnetzen bestehe.

    30

    Zweitens sei die Auslegung der Kommission mit der Systematik der genannten Verordnung unvereinbar. So weiche die von der Kommission vorgenommene Auslegung des Begriffs „größtmögliche Kapazität“ in dem Sinne, dass er virtuelle Transportkapazitäten umfasse, von der Definition der Begriffe „Fernleitung“, „Kapazität“, „Engpassmanagement“, „Nominierung“, „technische Kapazität“, „verfügbare Kapazität“, „vertraglich bedingter Engpass“ und „physischer Engpass“ in Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung ab, die sich alle auf die physische Transportkapazität des Gasnetzes bezögen.

    31

    Drittens führe eine historische Auslegung der Verordnung Nr. 715/2009 zu demselben Schluss. Zum einen enthielten weder die Vorarbeiten für die Verordnung Nr. 1775/2005 noch die für die Verordnung Nr. 715/2009 Anhaltspunkte, die die Auslegung der Kommission bestätigten, dass eine Verpflichtung zur Bereitstellung virtueller Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung bestehe.

    32

    Zum anderen verpflichteten die Art. 6 und 7 der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67/EG des Rates (ABl. L 295, S. 1) die Mitgliedstaaten, so schnell wie möglich und spätestens bis zum 3. Dezember 2013 physische Kapazitäten für Lastflüsse in beide Richtungen in allen grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen. Hätte der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Verordnung Nr. 715/2009 eine ähnliche Verpflichtung aufstellen wollen, hätte er dies daher wie im Fall der Art. 6 und 7 der Verordnung Nr. 994/2010 ausdrücklich getan.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    33

    Die Kommission trägt zur Stützung ihrer Klage vor, dass Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 eine Verpflichtung enthielten, virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung anzubieten. Zu prüfen ist, ob dies zutrifft.

    34

    Keine dieser Bestimmungen sieht ausdrücklich eine Verpflichtung vor, virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung anzubieten.

    35

    Die Kommission macht allerdings geltend, dass sich diese Verpflichtung konkludent aus den genannten Bestimmungen ergebe. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Bestimmungen eines Unionsrechtsakts nicht ungeachtet ihres klaren und genauen Wortlauts in einer Weise ausgelegt werden können, die auf ihre Berichtigung und dadurch auf eine Erweiterung der aus ihnen folgenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten abzielt (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑582/08, EU:C:2010:429, Rn. 51).

    36

    Erstens stellen die Fernleitungsnetzbetreiber nach dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 sicher, dass sie ihre Dienstleistungen allen Netznutzern ohne Diskriminierung sowohl lang- als auch kurzfristig anbieten und sowohl verbindliche als auch unterbrechbare Dienstleistungen für den Zugang Dritter bereitstellen.

    37

    Dieser Bestimmung kann aber keine Verpflichtung entnommen werden, virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung anzubieten. Insbesondere bedeutet die aus dieser Bestimmung folgende Verpflichtung zum Angebot sowohl verbindlicher als auch unterbrechbarer Dienstleistungen entsprechend den Erläuterungen des Generalanwalts in Nr. 40 seiner Schlussanträge nicht, dass die Fernleitungsnetzbetreiber jede Art unterbrechbarer Dienstleistungen und speziell virtuelle Transportkapazitäten in umgekehrter Richtung bereitstellen müssen. Außerdem verpflichtet das Diskriminierungsverbot nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2009 die Betreiber nicht dazu, neue Dienstleistungen anzubieten, sondern dazu, jegliche Diskriminierung bei der Erbringung ihrer bestehenden Dienstleistungen zu unterlassen.

    38

    Zweitens schreibt Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 vor, dass den Marktteilnehmern in allen in Art. 18 Abs. 3 dieser Verordnung genannten maßgeblichen Punkten die größtmögliche Kapazität zur Verfügung gestellt wird, wobei auf die Netzintegrität und einen effizienten Netzbetrieb geachtet wird.

    39

    Der Begriff „Kapazität“ ist in Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung Nr. 715/2009 definiert als „maximale[r] Lastfluss, der in Norm-Kubikmetern pro Zeiteinheit oder in Energieeinheiten pro Zeiteinheit ausgedrückt wird, auf den der Netznutzer gemäß den Bestimmungen des Transportvertrags Anspruch hat“.

    40

    Der Begriff „Fernleitung“ ist in Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 definiert als „Transport von Erdgas durch ein hauptsächlich Hochdruckfernleitungen umfassendes Netz, mit Ausnahme von vorgelagerten Rohrleitungsnetzen und des in erster Linie im Zusammenhang mit der lokalen Erdgasverteilung benutzten Teils von Hochdruckfernleitungen, zum Zweck der Belieferung von Kunden, jedoch mit Ausnahme der Versorgung“.

    41

    Angesichts dieser Definitionen bezeichnet der Begriff „Kapazität“ in Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 die physische Transportkapazität der Gasfernleitungsnetze. Zudem ergibt sich aus keiner der Bestimmungen der Verordnung Nr. 715/2009, in denen der Begriff „Kapazität“ verwendet wird, dass dieser Begriff geeignet wäre, virtuelle Transportdienstleistungen zu umfassen.

    42

    Wie die Republik Bulgarien und der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt haben, bezieht sich der Begriff „größtmögliche Kapazität“ in Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 folglich nur auf die physische Transportkapazität der Gasfernleitungsnetze, unter Ausschluss virtueller Transportkapazitäten, die der Fernleitungsnetzbetreiber eventuell anbietet.

    43

    Diese Auslegung steht nicht im Widerspruch zur Verpflichtung der Netzbetreiber aus Art. 16 Abs. 1 der genannten Verordnung, auf einen effizienten Netzbetrieb zu achten, wenn sie den Marktteilnehmern die größtmögliche Transportkapazität zur Verfügung stellen. Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge betont hat, stellt diese Verpflichtung in Wirklichkeit eine Einschränkung und nicht eine Erweiterung der Verpflichtung zur Bereitstellung der größtmöglichen Netzkapazität dar.

    44

    Im Übrigen wird diese Auslegung auch durch die weitere Verpflichtung nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 bestätigt, nämlich die Verpflichtung, auf die Netzintegrität zu achten.

    45

    Der Begriff „Netzintegrität“ ist in Art. 2 Abs. 1 Nr. 9 der Verordnung Nr. 715/2009 definiert als „jedwede auf ein Fernleitungsnetz, einschließlich der erforderlichen Fernleitungsanlagen, bezogene Situation, in der Erdgasdruck und Erdgasqualität innerhalb der von dem Fernleitungsnetzbetreiber festgelegten Mindest- und Höchstgrenzen bleiben, so dass der Erdgasferntransport technisch gewährleistet ist“.

    46

    Wie aus den Rn. 20 und 23 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ergibt sich das Angebot virtueller Gastransportkapazitäten eines Netzes aus einem Mechanismus der Verrechnung der Nachfragen nach Gas, der nicht die physische Nutzung des Fernleitungsnetzes voraussetzt und deshalb die Netzintegrität im Sinne dieser Bestimmung nicht gefährden kann.

    47

    Folglich bezieht sich die in Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 vorgesehene Verpflichtung, auf die Netzintegrität zu achten, ebenfalls auf die physische Transportkapazität der Gasfernleitungsnetze. Diese Verpflichtung zwingt den Fernleitungsnetzbetreiber mithin nicht, virtuelle Transportkapazitäten anzubieten.

    48

    Demnach erfasst Art. 16 Abs. 1 dieser Verordnung nur die physische Transportkapazität der Gasfernleitungsnetze, so dass sich dieser Bestimmung keine Verpflichtung entnehmen lässt, virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung anzubieten.

    49

    Drittens müssen die Fernleitungsnetzbetreiber nach Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 nichtdiskriminierende und transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen veröffentlichen und umsetzen, die die Kompatibilität mit den Marktmechanismen einschließlich Spotmärkten und „Trading Hubs“ sicherstellen und gleichzeitig flexibel und zur Anpassung an ein geändertes Marktumfeld in der Lage sind.

    50

    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung die Mechanismen für die Zuweisung der Kapazitäten regelt, die den Marktteilnehmern von den Fernleitungsnetzbetreibern gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2009 zur Verfügung gestellt werden. Art. 16 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung kann daher nicht so ausgelegt werden, dass er eine Pflicht zur Bereitstellung von Kapazitäten enthält, die über die Verpflichtung aus Art. 16 Abs. 1 der Verordnung hinausgeht. Da in Rn. 48 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, dass Art. 16 Abs. 1 der Verordnung die Fernleitungsnetzbetreiber nicht verpflichtet, den Marktteilnehmern virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung bereitzustellen, kann Art. 16 Abs. 2 Buchst. b nicht dahin ausgelegt werden, dass er eine solche Verpflichtung enthält.

    51

    Diese Auslegung des Wortlauts und der Systematik von Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 wird durch die Vorarbeiten für die Verordnungen Nrn. 1775/2005 und 715/2009 bestätigt. Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wird in diesen Vorarbeiten nämlich keine Verpflichtung erwähnt, virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung anzubieten. Daraus folgt, dass eine solche Verpflichtung weder aus den Zielen der Verordnung Nr. 1775/2005 noch aus denen der Verordnung Nr. 715/2009 hergeleitet werden kann.

    52

    Demnach enthalten Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 715/2009 keine Verpflichtung, virtuelle Kapazitäten für den Gastransport in umgekehrter Richtung anzubieten.

    53

    Somit ist die Klage der Kommission abzuweisen.

    Kosten

    54

    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Republik Bulgarien die Kosten aufzuerlegen.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

     

    1.

    Die Klage wird abgewiesen.

     

    2.

    Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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