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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62011CC0216

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Cruz Villalón vom 19. Dezember 2012.
    Europäische Kommission gegen Französische Republik.
    Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 92/12/EWG – Verbrauchsteuern – Tabakwaren, die in einem Mitgliedstaat erworben und in einen anderen Mitgliedstaat befördert werden – Ausschließlich mengenmäßige Beurteilungskriterien – Art. 34 AEUV – Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen.
    Rechtssache C‑216/11.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2012:819

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PEDRO CRUZ VILLALÓN

    vom 19. Dezember 2012 ( 1 )

    Rechtssache C-216/11

    Europäische Kommission

    gegen

    Französische Republik

    „Vertragsverletzungsklage — Richtlinie 92/12/EWG — Art. 8 und 9 — Verbrauchsteuerpflichtige Waren — Tabakwaren, die in einem Mitgliedstaat erworben und in einen anderen Mitgliedstaat verbracht werden — Kriterien für die Feststellung der Grenzen für die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren — Freier Warenverkehr — Art. 34 AEUV — Verhältnis zwischen der Grundfreiheit und dem Sekundärrecht — Sukzessive Berufung auf das Sekundärrecht und auf eine Grundfreiheit“

    1. 

    Mit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus, erstens, den Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren ( 2 ) und, zweitens, Art. 34 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verstoßen hat. Die Französische Republik beantragt, die Klage der Kommission abzuweisen.

    2. 

    Diese Rechtssache wirft eine interessante Frage auf, die generell Vertragsverletzungsklagen betrifft, in denen nacheinander Vorschriften des Sekundärrechts und Grundfreiheiten angeführt werden. In ihrer Klageschrift wirft die Kommission der Französischen Republik vor, sowohl gegen die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 als auch gegen die in Art. 34 AEUV verankerte Freiheit des Warenverkehrs verstoßen zu haben. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verdrängt das Sekundärrecht, mit dem die Verkehrsfreiheiten durchgeführt werden, prozessual diese Freiheiten und wird grundsätzlich zum einzigen Beurteilungsmaßstab. Die Tatsache, dass der Vorwurf der Kommission in einer Vertragsverletzungsklage erhoben wird, wirft eine durchaus schwierige Verfahrensfrage auf, mit der ich mich in diesen Schlussanträgen befassen werde.

    I – Rechtlicher Rahmen

    A – Unionsrecht

    3.

    In den Art. 34 AEUV und 36 AEUV heißt es:

    „Artikel 34

    Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten.

    Artikel 36

    Die Bestimmungen der Artikel 34 und 35 stehen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Vertragsparteien darstellen.“

    4.

    Die Richtlinie 92/12 harmonisiert das System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren, wozu auch Tabakwaren und alkoholische Getränke gehören.

    5.

    Nach dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie müssen „[d]ie Mitgliedstaaten … eine Reihe von Kriterien berücksichtigen, damit festgestellt werden kann, ob der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren nicht privaten, sondern kommerziellen Zwecken dient“.

    6.

    Die Kriterien, auf die sich der zitierte Erwägungsgrund bezieht, finden sich in den Art. 8 und 9 der Richtlinie, in denen es heißt:

    „Artikel 8

    Für Waren, die Privatpersonen für ihren Eigenbedarf erwerben und die sie selbst befördern, werden die Verbrauchsteuern nach dem Grundsatz des Binnenmarkts im Erwerbsmitgliedstaat erhoben.

    Artikel 9

    (1)   Unbeschadet der Artikel 6, 7 und 8 entsteht die Verbrauchsteuer, wenn die in einem Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführten Waren zu gewerblichen Zwecken in einem anderen Mitgliedstaat in Besitz gehalten werden.

    In diesem Fall wird die Verbrauchsteuer in dem Mitgliedstaat geschuldet, auf dessen Gebiet sich die Waren befinden, und von der Person, in deren Besitz sie sich befinden.

    (2)   Bei der Feststellung, ob die in Artikel 8 genannten Waren zu gewerblichen Zwecken bestimmt sind, haben die Mitgliedstaaten unter anderem folgende Kriterien zu berücksichtigen:

    handelsrechtliche Stellung und Gründe des Besitzers für den Besitz der Waren;

    Ort, an dem die Waren sich befinden, oder gegebenenfalls verwendete Beförderungsart;

    Unterlagen über die Waren;

    Beschaffenheit der Waren;

    Menge der Waren.

    Für die Anwendung des fünften Gedankenstrichs von Unterabsatz 1 können die Mitgliedstaaten Richtmengen festlegen, jedoch nur, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen. Diese Richtmengen dürfen folgende Werte nicht unterschreiten:

    a)

    Tabakwaren:

    Zigaretten: 800 Stück,

    Zigarillos (Zigarren mit einem Höchstgewicht von 3 g/Stück): 400 Stück,

    Zigarren: 200 Stück,

    Rauchtabak 1,0 kg

    …“

    7.

    Die Richtlinie 92/12 wurde durch die Richtlinie 2008/118/EG mit Wirkung vom 1. April 2010 aufgehoben und ersetzt. Allerdings lief die Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzt worden war, am 23. Januar 2010 ab. Deshalb ist für die Zwecke dieses Verfahrens die auszulegende Norm die Richtlinie 92/12, die inhaltlich alles in allem nicht wesentlich von der Richtlinie 2008/118 abweicht, soweit es um die Kriterien für die Feststellung des persönlichen Verbrauchs geht.

    B – Nationales Recht

    8.

    Für die Zwecke dieses Verfahrens enthält der Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) verschiedene Bestimmungen über die Erhebung der Verbrauchsteuern auf bestimmte Waren einschließlich Tabak, von denen Folgende hervorzuheben sind:

    Artikel 302 D I.

    „(1)

    Die Steuer entsteht

    4.

    unbeschadet von Art. 458 Nr. 9 sowie den Art. 575 G und 575 H bei der Feststellung des Besitzes von Alkohol, alkoholischen Getränken oder Tabakwaren zu gewerblichen Zwecken in Frankreich, für die der Besitzer nicht durch Vorlage eines Begleitdokuments, einer Rechnung oder eines Kassenbons nachweisen kann, dass sie im Verfahren der Steueraussetzung versandt werden, die Steuer in Frankreich entrichtet worden ist oder gemäß Art. 302 U eine Steuergarantie in Frankreich abgegeben worden ist.

    Um festzustellen, ob diese Waren in Frankreich zu gewerblichen Zwecken besessen werden, berücksichtigt die Verwaltung folgende Kriterien:

    a.

    die berufliche Tätigkeit des Besitzers der Waren;

    b.

    den Ort, an dem die Waren sich befinden, die verwendete Beförderungsart oder die Unterlagen über die Waren;

    c.

    die Beschaffenheit der Waren;

    d.

    die Menge der Waren, insbesondere wenn sie die in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 92/12 … festgelegten Richtmengen überschreitet.

    …“

    Artikel 575 G

    „Nach ihrem Verkauf im Einzelhandel dürfen Tabakwaren ohne das in Art. 302 M II. erwähnte Dokument nicht bewegt werden, wenn ihre Menge 1 Kilogramm übersteigt.“

    Artikel 575 H

    „Mit Ausnahme der Lieferanten in den Lagern, der Inhaber in den Verkaufsstellen, der in Art. 565 Nr. 3 bezeichneten Personen, der in Art. 568 Abs. 4 erwähnten Käufer-Wiederverkäufer oder – in den durch Verordnung des Haushaltsministers festgelegten Mengen – der in Art. 568 Abs. 1 erwähnten Wiederverkäufer darf niemand in Lagern, Geschäftsräumen oder an Bord von Beförderungsmitteln mehr als 2 Kilogramm Tabakwaren besitzen.“

    9.

    Bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war, fanden sich auf der Website des französischen Finanzministeriums verschiedene praktische Informationen für die Käufer verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit zwischen Frankreich und den anderen Mitgliedstaaten Gebrauch machen. Der Klageschrift der Kommission zufolge enthielten die Informationen des Finanzamts folgende Hinweise:

    „Allgemeines

    Bei Reisen innerhalb der Europäischen Union brauchen Sie, wenn Sie Waren nur für den persönlichen Gebrauch erwerben, bei Ihrer Ausreise aus oder Rückkehr nach Frankreich weder eine Erklärung auszufüllen noch Zölle und Abgaben zu entrichten.

    Sie zahlen die Mehrwertsteuer (MwSt) unmittelbar in dem Land, in dem sie Ihre Einkäufe tätigen, und zu dem dort geltenden Satz. Für den Fall, dass Sie alkoholische Getränke oder Tabakwaren kaufen, sind im Gemeinschaftsrecht Richtmengen für den Erwerb durch Privatpersonen vorgesehen.

    Bei Überschreitung der nachfolgend wiedergegebenen Richtmengen für Tabakwaren und Alkohol und anhand anderer Kriterien kann Ihr Erwerb von den französischen Zolldienststellen als gewerblich eingestuft werden. Sie müssen dann für jede dieser Waren die in Frankreich geltenden Zölle und Abgaben zahlen. Diese Richtmengen gelten auch bei Ihrer Ausreise aus Frankreich in einen anderen Staat der Europäischen Union.

    Tabakwaren

    Gemäß den Art. 575 G und 575 H [CGI], geändert durch das Gesetz zur Finanzierung der sozialen Sicherheit für das Jahr 2006, gelten ab 1. Januar 2006 für den Erwerb von Tabakwaren durch Privatpersonen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, ausgenommen die zehn neuen Mitgliedstaaten, folgende Bestimmungen:

    Sie dürfen 5 Stangen Zigaretten (d. h. 1 kg Tabak) mit sich führen, ohne einen Beförderungstitel zu besitzen.

    Achtung: Diese Richtmenge versteht sich pro individuelles Beförderungsmittel oder pro Person über 17 Jahre bei Nutzung eines kollektiven Beförderungsmittels (mit mehr als neun beförderten Personen, einschließlich Fahrer).

    Bei 6 bis 10 Stangen müssen Sie ein vereinfachtes Begleitdokument (DSA) vorlegen. Ohne DSA werden bei einer Kontrolle des Reisenden die Tabakwaren beschlagnahmt und eine Strafe gegen ihn verhängt. Der Betreffende kann auf die Waren verzichten. In diesem Fall wird keine Strafe gegen ihn verhängt.

    Um dieses Dokument zu erhalten, genügt es, sich in die erste französische Stelle nach der Grenze zu begeben.

    Die Einfuhr von mehr als 10 Stangen Zigaretten (oder 2 kg Tabak) ist in jedem Fall verboten. Bei einer Kontrolle werden die oben angeführten Sanktionen (Beschlagnahme der Tabakwaren und Strafe) verhängt.

    Für kollektive Beförderungsmittel (Flugzeug, Schiff, Bus, Zug) gelten diese Bestimmungen pro Passagier.“

    II – Vorverfahren

    10.

    Am 20. November 2006 richtete die Kommission an die Französische Republik ein Auskunftsersuchen in Bezug auf die Bestimmungen und Verwaltungspraktiken auf dem Gebiet der Einfuhr von Tabak aus anderen Mitgliedstaaten. Aufgrund der von den französischen Behörden erteilten Auskünfte sandte sie diesen am 23. Oktober 2007 ein Mahnschreiben, in dem sie dem betreffenden Mitgliedstaat einen Verstoß gegen die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 sowie den damaligen Art. 28 EG (jetzt Art. 34 AEUV) zur Last legte.

    11.

    Nach einem Ersuchen um ergänzende Auskünfte an die französischen Behörden vom 4. Juni 2008 übersandte die Kommission am 23. November 2009 ihre mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die Französische Republik aufforderte, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Rechtsvorschriften und ihre interne Praxis innerhalb von zwei Monaten ab Erhalt dieser Stellungnahme anzupassen. Im weiteren Verlauf hielten die Kommission und die französischen Behörden zwei Treffen ab, bei denen ein Zeitplan und die Modalitäten für die Anpassung der französischen Rechtsvorschriften und Praxis an das Unionsrecht festgelegt werden sollten. Mit Schreiben vom 15. Juli 2010 übermittelten die französischen Behörden der Kommission einen Entwurf der Bestimmungen zur Änderung des nationalen Rechtsrahmens, mit denen die innerstaatliche Rechtsordnung an das Unionsrecht angepasst werden sollte.

    12.

    Im November 2010 wurde in der französischen Nationalversammlung der Entwurf eines Finanzgesetzes zur Änderung der von der Kommission beanstandeten Bestimmungen eingebracht. Am 21. Dezember 2010 lehnte die Nationalversammlung die Annahme des Gesetzentwurfs jedoch ab und ließ die Bestimmungen, deren Rechtmäßigkeit die Kommission bestreitet, in Kraft.

    13.

    Angesichts der Ablehnung des Gesetzentwurfs in der Nationalversammlung hat die Kommission die vorliegende Vertragsverletzungsklage erhoben.

    III – Zur Klage

    A – Vorbringen der Parteien

    14.

    Die Kommission trägt erstens vor, dass die Französische Republik gegen die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 verstoße. Zur Begründung ihres Antrags führt sie aus:

    Die französische Regelung führe fälschlicherweise objektive und starre Kriterien für die Feststellung ein, ob der Kauf von Tabak in einem anderen Mitgliedstaat zu persönlichen oder zu gewerblichen Zwecken erfolge.

    Die französische Regelung wende das objektive und starre Kriterium auf die Gesamtheit der erworbenen Waren an und nicht auf jede Warenart einzeln betrachtet.

    Die französische Regelung wende für den Fall, dass der Steuerpflichtige in einem Fahrzeug reise, das objektive und starre Kriterium pro Fahrzeug an und nicht pro Person.

    Die französische Regelung sehe für den Fall, dass das Kriterium angewandt und ein gewerblicher Gebrauch festgestellt werde, unverhältnismäßige Sanktionen vor, da eine „systematische“ Beschlagnahme angeordnet werde, wenn die Menge an Tabak zwei Kilogramm pro Fahrzeug überschreite. Von der Anwendung dieser Maßnahme werde nur in Fällen des „guten Glaubens“ abgesehen; dieser Begriff werde in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht definiert und erzeuge Rechtsunsicherheit. Die Kommission beanstandet auch die Regelung des „Verzichts“ auf die Ware, deren Unterschied zu den Befugnissen bei der Beschlagnahme ihr keineswegs klar erscheine.

    15.

    Die Kommission wirft der Französischen Republik zweitens vor, gegen Art. 34 AEUV verstoßen zu haben, indem sie festgelegt habe, dass Mengen über zwei Kilogramm Tabak oder zehn Stangen Zigaretten automatisch der Verbrauchsteuer unterlägen, auch wenn sie nachweislich zum persönlichen Verbrauch bestimmt seien. Zur Begründung dieses Vorwurfs macht die Kommission vor allem geltend, dass Art. 575 H CGI sich zwar auf den Besitz von Tabakwaren unabhängig vom Ort ihres Kaufs beziehe, aber im Ergebnis den Kauf von Tabakwaren aus anderen Mitgliedstaaten erschwere und deshalb den freien Warenverkehr beschränke. Zum Beweis führt sie an, dass die Kontrollen, mit denen die Anwendung der Regelung sichergestellt werden solle, ausschließlich an den Grenzübergängen durchgeführt würden. Die französischen Behörden hätten auch niemals verhehlt, dass diese Bestimmungen nicht auf den Erwerb von Tabakwaren in Frankreich, sondern in anderen Mitgliedstaaten zielten, um zu unterbinden, was diese als „Steuertourismus“ eingestuft hätten.

    16.

    Als Antwort auf den ersten Vertragsverletzungsgrund, den die Kommission angeführt hat, trägt die französische Regierung vor, dass aus folgenden Gründen weder die innerstaatliche Rechtsordnung noch die Verwaltungspraxis die Richtlinie 92/12 verletzten:

    Die Art. 575 G und H seien keine Vorschriften zur Regelung der Verbrauchsteuer auf Tabakwaren, sondern Vorschriften über den Besitz von Tabakwaren. Deshalb würden die von der Kommission beanstandeten Bestimmungen nicht von der Richtlinie 92/12 erfasst und könnten nicht in ihrem Licht beurteilt werden.

    Bei Anwendung der Richtlinie 92/12 auf die beanstandete Regelung verlange diese auch die Anwendung anderer Faktoren, wie der beruflichen Tätigkeit des Käufers, des verwendeten Beförderungsmittels oder der Beschaffenheit der Ware. Dass in der Verwaltungspraxis ein einziges Kriterium angewandt werde, ändere nichts an der Vereinbarkeit der Art. 575 G und H mit der Richtlinie 92/12.

    Soweit es um das Kriterium gehe, das auf die Gesamtheit der Waren im Besitz des Betroffenen abstelle und nicht auf jede Warenart einzeln betrachtet, sei Art. 9 der Richtlinie 92/12 hierzu nichts zu entnehmen. Da dieser Punkt nicht geregelt sei, könne in der französischen Regelung kein Verstoß gegen diese Vorschrift gesehen werden.

    Zur Unverhältnismäßigkeit der Regelung meint die französische Regierung, dass die Sanktionen weder „systematisch“ angewandt würden noch übermäßig hart seien.

    17.

    Die französische Regierung tritt auch dem zweiten, auf Art. 34 AEUV bezogenen Vertragsverletzungsgrund entgegen und bringt zu ihren Gunsten Folgendes vor:

    Zwar räume sie offen ein, dass es sich bei der in Art. 575 H vorgesehenen Beschränkung um eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung handele, doch sei diese Maßnahme gerechtfertigt, da sie dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen diene, wie er in Art. 36 AEUV aufgeführt sei.

    Der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, wie er sich in den Bestimmungen der innerstaatlichen Rechtsordnung widerspiegele, führe nicht zu einer willkürlichen Ungleichbehandlung und stelle auch keine unverhältnismäßige Maßnahme dar.

    B – Rechtliche Würdigung

    1. Zum ersten Vertragsverletzungsgrund: Verstoß gegen die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12

    18.

    Die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 führen eine Ausnahme ein, wonach Personen von der Zahlung der Verbrauchsteuer befreit sind, die verbrauchsteuerpflichtige Waren „für den Eigenbedarf“ erwerben. Art. 9 zählt verschiedene Kriterien auf, die die Staaten „zu berücksichtigen“ haben, darunter die handelsrechtliche Stellung des Besitzers, den Ort, an dem die Waren sich befinden, die verwendete Beförderung, die Beschaffenheit der Waren oder ihre Menge.

    19.

    Hinsichtlich des zuletzt genannten Kriteriums der Menge verleiht die Vorschrift den Staaten die Befugnis, „Richtmengen“ festzulegen, „jedoch nur, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen“. Anschließend sind für jede Art von Tabakwaren die Mindestmengen aufgezählt, an die sich die Mitgliedstaaten halten müssen, falls sie ein quantitatives Kriterium als Anhaltspunkt verwenden.

    20.

    Letztlich hat die Richtlinie 92/12 eine Harmonisierung der Umstände vorgenommen, die ein Mitgliedstaat prüfen muss, wenn es um die Feststellung geht, ob eine verbrauchsteuerpflichtige Ware für persönliche oder für gewerbliche Zwecke erworben worden ist. Deshalb stellt die Richtlinie zwar ein Mittel zur Harmonisierung dar, das den Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum einräumt, wie der Gerichtshof bereits mehrmals Gelegenheit hatte, hervorzuheben ( 3 ), doch ist ebenso gewiss, dass sich diese Mindeststandards punktuell in ausnahmslos geltende Gebote verwandeln können ( 4 ). Folglich verfügen die Mitgliedstaaten über einen Spielraum bei der Prüfung, ob eine Ware für den einen oder anderen Zweck bestimmt ist, aber diese Prüfung findet innerhalb des durch Art. 9 der Richtlinie 92/12 begrenzten Rahmens statt. Dieser Rahmen umschreibt den Bereich, innerhalb dessen der Staat sein Gestaltungsermessen ausüben darf, indem er ihm zwingend und abschließend verschiedene Beschränkungen auferlegt, die als Grenze dienen.

    21.

    Die erste zwingende und ausnahmslos geltende Beschränkung ist die Verpflichtung, sich bei der Feststellung, welcher Gebrauch von der Ware gemacht wird, an mehr als ein Kriterium zu halten. Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 92/12 bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck, indem er betont, dass die Mitgliedstaaten „unter anderem“ ( 5 ) die zuvor aufgezählten Gesichtspunkte „zu berücksichtigen“ haben. Jede nationale Bestimmung oder Praxis, die z. B. allein ein quantitatives Kriterium berücksichtigt, überschreitet den durch Art. 9 Abs. 2 gesetzten Rahmen.

    22.

    Die zweite zwingende und ausnahmslos geltende Beschränkung zeigt sich bei der Formulierung der für das quantitative Kriterium geltenden Richtmengen. Was diesen Aspekt betrifft, ermächtigt Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 92/12 die Mitgliedstaaten, Richtmengen festzulegen, fügt aber hinzu, dies gelte „nur, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen“. Ein Mitgliedstaat, der den Betroffenen an der Vorlage von Beweismitteln hindert, die – entgegen dem, worauf das im Gesetz verwendete Kriterium möglicherweise hindeutet – seine Version stützen, geht daher ebenfalls über die Regelung in Art. 9 Abs. 2 hinaus.

    23.

    Eine dritte zwingende und ausnahmslos geltende Beschränkung ergibt sich sodann aus einer systematischen und teleologischen Auslegung der Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12, da diese den Mitgliedstaaten für den Fall, dass sie quantitative Kriterien verwenden, vorschreiben, für die Feststellung, ob der Gebrauch gewerblich ist, Mindestmengen vorzusehen. Diese Mindestmengen werden in Art. 9 Abs. 2 aufgezählt und je nach Ware (Tabakwaren und alkoholische Getränke mit ihren jeweiligen Unterkategorien) unterschiedlich angesetzt. Die Mindestmengen beziehen sich nicht ausdrücklich auf den Inhaber der Waren, doch ist offensichtlich, dass die Richtlinie, indem dort z. B. von einer Mindestmenge von 800 Stück Zigaretten die Rede ist, auf die Zahl der Zigaretten pro Person abstellt. Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Art. 8 bestätigt, der von den Waren spricht, die von „Privatpersonen“ erworben werden. Desgleichen bestimmt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie, wer die Verbrauchsteuer schuldet, wenn die Waren zu gewerblichen Zwecken gehalten werden; es handelt sich um die „Person, in deren Besitz sie sich befinden“. Somit gelten die in der angeführten Vorschrift der Richtlinie aufgezählten Mindestmengen für jeden Besitzer, d. h., es handelt sich um Mindestkriterien, die individuell für jede Person gelten.

    24.

    Eine vierte und letzte zwingende und ausnahmslos geltende Beschränkung schließlich wird in der Aufzählung der Warenkategorien und der Festlegung der Mindestmengen erkennbar. Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 92/12 führt Grenzen für jede Warenkategorie ein, die im Fall der Tabakwaren für Zigaretten, Zigarillos, Zigarren und Rauchtabak gelten. Für jede Kategorie gibt es eine Mindestmenge. Auch wenn es die Richtlinie 92/12 nicht ausdrücklich sagt, drängt sich bei systematischer Auslegung im gleichen Sinne wie in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge der Schluss auf, dass diese Grenzen für jede Warenkategorie gelten. Demnach kann eine Person 799 Zigaretten und 399 Zigarillos besitzen, ohne dass aufgrund der Summe aller Waren die Schlussfolgerung zu ziehen wäre, dass sie zu gewerblichen Zwecken verwendet werden. Deshalb ist nochmals festzustellen, dass die Mindestmengen pro Person und Warenkategorie gelten.

    25.

    Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist offenkundig, dass weder die Regelung der Französischen Republik noch die dortige Praxis den in der Richtlinie 92/12 festgelegten Kriterien entsprechen.

    26.

    Erstens hält das Vorbringen der Französischen Republik, wonach die Art. 575 G und H CGI keine Vorschriften zur Regelung der Verbrauchsteuer auf Tabak seien, sondern Vorschriften über den Besitz von Tabak, einer Auslegung der Richtlinie 92/12 nicht stand. Was auch immer das offizielle Ziel der beanstandeten Bestimmung sein mag – der Gerichtshof hat sich an ihren Inhalt und ihre Wirkungen zu halten, denn diese sind, wie oben ausgeführt, die Rechtsgrundlage für die Verwaltungstätigkeit der französischen Exekutive in der Praxis. Zudem sieht Art. 575 H CGI kein Kriterium, sondern eine Mindestmenge von zwei Kilogramm Tabakwaren je Beförderungsmittel vor, ab der die Steuer entsteht. Somit liegt auf der Hand, dass beide Bestimmungen des CGI Grundregeln enthalten für die Festsetzung der Verbrauchsteuer auf Tabak, die Gegenstand einer Harmonisierung durch die Richtlinie 92/12 ist.

    27.

    Die Französische Republik hält es zweitens für zulässig, nur ein einziges Kriterium für die Feststellung heranzuziehen, ob die Ware zu gewerblichen Zwecken erworben worden ist. Wie oben in Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, betont Art. 9 Abs. 2 überaus deutlich, dass die Mitgliedstaaten „unter anderem“ ( 6 ) verschiedene Kriterien „zu berücksichtigen“ haben, darunter die handelsrechtliche Stellung des Besitzers der Ware, ihre Beschaffenheit oder die Menge der Waren. Eine nationale Regelung wie die französische, deren einziges Kriterium zur Feststellung des Zwecks des Erwerbs quantitativ ist, verstößt eindeutig gegen das, was in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 92/12 vorgesehen ist. Die Französische Republik hat mehrfach eingeräumt, dass die französischen Behörden in der Verwaltungspraxis ausschließlich ein einziges Kriterium, nämlich das quantitative, verwenden. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs genügen Verwaltungspraktiken, die dem Unionsrecht zuwiderlaufen, auch wenn sie in einem nationalen Rechtsrahmen ablaufen, der formal mit dem Unionsrecht vereinbar ist, für die Feststellung einer Vertragsverletzung ( 7 ). Da die Französische Republik die Existenz einer Verwaltungspraxis eingeräumt hat, die unvereinbar ist mit Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 92/12, ist auch das zweite Argument der Beklagten zurückzuweisen.

    28.

    Drittens verteidigt die Französische Republik ein Berechnungssystem, bei dem auf das verwendete Beförderungsmittel (und nicht auf den einzelnen Inhaber der Ware) sowie auf eine Gesamtmenge der Ware nach Gewicht (und nicht auf die Stückzahl jeder Warenart) abgestellt wird. In den Nrn. 22 f. der vorliegenden Schlussanträge wurde im Licht einer wörtlichen und systematischen Auslegung der Richtlinie 92/12 hervorgehoben, dass mit ihr Mindestmengen pro Person und Warenkategorie eingeführt worden sind, gerade um die Einführung nationaler Kriterien zu verhindern, die letztlich eine übermäßige Beschränkung des freien Verkehrs von Waren, hier von Tabak und alkoholischen Getränken, bewirken. Die Verwendung eines Kriteriums, das sich sowohl in den Rechtsvorschriften wie in der Verwaltungspraxis findet und auf der Zahl der Fahrzeuge und nicht der Personen sowie auf dem Gesamtgewicht der Ware und nicht auf der Stückzahl in jeder Kategorie beruht, ist nicht mit den Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 vereinbar.

    29.

    Hinsichtlich der Sanktionsregelung genügt die Feststellung, dass die Vorschriften, die die Sanktionen vorsehen, rechtswidrig sind, um zu der Folgerung zu gelangen, dass die Französische Republik auch mit dem Erlass der oben beschriebenen Sanktionsregelung gegen die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 verstoßen hat.

    30.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, den ersten von der Kommission geltend gemachten Vertragsverletzungsgrund für begründet zu erklären.

    2. Zum zweiten Vertragsverletzungsgrund: Verstoß gegen Art. 34 AEUV

    31.

    Nach Ansicht der Kommission hat die Französische Republik mit dem Erlass einer Bestimmung wie des Art. 575 H CGI und deren Anwendung in einer den freien Warenverkehr beschränkenden Art und Weise auch gegen die Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV verstoßen. Zwar beziehe sich die angeführte französische Bestimmung auf den Besitz von Tabak unabhängig vom Ort seines Kaufs, doch wirke sie sich dahin aus, dass sie den Kauf von Tabak in anderen Mitgliedstaaten erschwere, und beschränke deshalb den freien Warenverkehr. Zum Beweis führt die Kommission an, dass die Kontrollen, die die französischen Behörden durchführten, um die Anwendung der Vorschrift sicherzustellen, ausschließlich an den Grenzübergängen zwischen Frankreich und den benachbarten Mitgliedstaaten stattfänden.

    32.

    Die Französische Republik leugnet zwar nicht, dass es sich bei den beanstandeten Maßnahmen um eine Beschränkung handelt, hält aber Art. 36 AEUV und insbesondere die auf dem Schutz der öffentlichen Gesundheit beruhende Rechtfertigung für anwendbar. Die Maßnahmen stünden im Einklang mit dem Ziel, die öffentliche Gesundheit zu schützen, stellten keine willkürliche Diskriminierung dar und stünden auch nicht außer Verhältnis zum angestrebten Ziel.

    33.

    Wie soeben dargelegt, macht die Kommission mit diesem zweiten Vertragsverletzungsgrund, nachdem sie der Französischen Republik einen Verstoß gegen die Richtlinie zur Last gelegt hat, eine Verletzung von Art. 34 AEUV geltend. Auch wenn der erste Grund eine größere Zahl nationaler Bestimmungen und Verwaltungspraktiken zum Gegenstand hat, bezieht sich der zweite auf eine eben dieser Vorschriften, Art. 575 H CGI, und einige der oben angeführten Verwaltungspraktiken.

    34.

    Jedenfalls nimmt die Kommission an, dass die Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 sowie Art. 34 AEUV nebeneinander geltend gemacht werden können, zumindest in Bezug auf diejenigen Elemente des Klagegegenstands, hinsichtlich derer sich beide Vertragsverletzungsgründe überschneiden. Wie ich im Folgenden darlegen werde, stößt ein solcher Ansatz jedoch auf eine Reihe von Schwierigkeiten.

    35.

    Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist „eine nationale Maßnahme in einem Bereich, der auf Gemeinschaftsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht der des Primärrechts zu beurteilen“ ( 8 ). Mit anderen Worten hat der Erlass eines Unionsrechtsakts eine prozessuale Verdrängung oder „Adhäsion“ in der Weise zur Folge, dass der Vertrag für die Zwecke der Entscheidung eines Rechtsstreits zugunsten des Aktes des Sekundärrechts der Union als notwendiger Beurteilungsmaßstab verdrängt wird. Diese Wirkung tritt logischerweise nur ein, wenn der Unionsrechtsakt einen Bereich abschließend regelt, sei es allgemein und für einen ganzen Sektor, sei es speziell und nur in Bezug auf punktuelle Aspekte.

    36.

    Aus Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde, muss allerdings betont werden, dass die Wirkung der „Verdrängung“ streng prozessual ist, denn unter dem Gesichtspunkt der Koexistenz von Bestimmungen bleiben der Vertrag und die Richtlinie in vollem Umfang gültig und allgemein anwendbar.

    37.

    Gleichwohl waren die Worte, mit denen die Rechtsprechung auf das Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten und den Sekundärrechtsakten Bezug genommen hat, nicht immer so klar, wie es wünschenswert gewesen wäre. Auf den ersten Blick könnte diese Rechtsprechung darauf hindeuten, dass es sich um ein Verhältnis handelt, das auf die Anwendbarkeit in der Weise abstellt, dass bei Existenz eines Sekundärrechtsakts die im Vertrag vorgesehene Grundfreiheit nicht angewandt werden dürfte. Dies scheinen bestimmte Formulierungen des Gerichtshofs zu bestätigen, dessen Äußerungen den Eindruck vermitteln, dass es ein materielles Kriterium gäbe, anhand dessen die Anwendbarkeit der Vorschriften des Unionsrechts festgestellt wird, hier der Rechtsakte zur Durchführung der Freiheiten und der Vorschriften des Vertrags, die sich auf diese Freiheiten beziehen ( 9 ).

    38.

    Dies ist jedoch mitnichten der Fall und kann es auch unter keinen Umständen sein.

    39.

    Meines Erachtens kann die prozessuale Lage, die in Fällen wie dem vorliegenden vorliegt, nicht im Sinne der „Anwendbarkeit“ verstanden werden, da sich andernfalls eine Art von umgekehrter Hierarchie im System der Unionsrechtsquellen ergäbe. Das Sekundärrecht der Union kann sich nicht dergestalt auswirken, dass es die „Anwendung“ der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten ausschließt.

    40.

    Der Ausschluss der Anwendung des Primärrechts, der sich scheinbar aus einigen Formulierungen wie den angeführten ergibt, würde zudem die Kontrolle der Gültigkeit der Sekundärrechtsakte im Licht des Unionsrechts in ihren Grundfesten erschüttern. Die Akte zur Durchführung der Grundfreiheiten, einschließlich der Akte zur abschließenden Harmonisierung, sind im angemessenen Kontext immer auf ihre formelle und materielle Vereinbarkeit mit den Verträgen, einschließlich der Grundfreiheiten, überprüfbar. Wie vom Gerichtshof vielfach wiederholt, „gilt das in Artikel [34 AEUV] vorgesehene Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen sowie von Maßnahmen gleicher Wirkung nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der [Unions]organe“ ( 10 ), selbstverständlich einschließlich der Harmonisierungsrichtlinien.

    41.

    Ebenso liefe diese angebliche Ausschlusswirkung hinsichtlich der Anwendung auch dem Gebot zuwider, das Sekundärrecht im Licht des Primärrechts auszulegen. Diese Forderung, die sich daraus ergibt, dass die Bestimmungen des Vertrags und andere Vorschriften des Primärrechts, insbesondere die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, nicht nur Bindungswirkung entfalten, sondern auch der Inspiration dienen, steht jedwedem Ansinnen entgegen, den Grundfreiheiten ihre Anwendbarkeit zu nehmen.

    42.

    Auch wenn die Rechtsprechung möglicherweise einige Hinweise bietet, die auf eine Art Ausschluss oder auch Aussetzung der Anwendung der Primärrechts hindeuten könnten, steht kurzum fest, dass die Verdrängungswirkung, die das Sekundärrecht hinsichtlich der Vorschriften des Vertrags über den freien Verkehr auslöst, in dem Fall, der uns hier beschäftigt, ausschließlich prozessuale Bedeutung hat.

    43.

    Bei der Durchführung einer Grundfreiheit durch das Sekundärrecht nimmt der Unionsgesetzgeber nämlich eine Abwägung zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten, denen der betroffenen Privatpersonen und den Zielen der Integration vor. Dadurch regelt die Vorschrift des Sekundärrechts den rechtlichen Rahmen für einen spezifischen europaweiten Markt. Es handelt sich nicht darum, dass die Vorschrift des Sekundärrechts die Freiheit ersetzt, sondern darum, dass sie schlicht und einfach in den rechtlichen Rahmen eines spezifischen Marktes die Anforderungen überführt, die sich aus der durch den Vertrag garantierten Freiheit ergeben. Deshalb gilt zugunsten der Vorschrift des Sekundärrechts eine Vermutung nicht nur der Vereinbarkeit mit dem Vertrag, sondern auch der Treue gegenüber den auf einen spezifischen Markt angewandten Zielen der Integration. Keinesfalls kommt es zu einem Anwendungsausschluss, da die Vorschrift des Sekundärrechts, wie oben dargelegt, weiterhin eng an den Inhalt der Verträge, einschließlich der Grundfreiheiten, gebunden ist.

    44.

    Die Wirkung, die die Vorschrift des Sekundärrechts auf die Freiheit ausübt, besteht somit in einer prozessualen Verdrängung, da die Freiheit ihre Bedeutung nur insoweit verliert, als es darum geht, „zu beurteilen“, ob eine bestimmte nationale Maßnahme mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Auf diese Weise erscheint das Verb „beurteilen“ wiederholt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn er sich auf diese Wirkung bezieht ( 11 ), und es spiegelt klar den prozessualen Charakter der Verdrängung der Freiheit zugunsten des Sekundärrechtsakts wider. Der Gerichtshof erklärt die Freiheit nicht für unanwendbar auf den konkreten Fall, sondern beschränkt sich vielmehr auf die Feststellung, dass ihre Prüfung für die Entscheidung des Rechtsstreits – sei es, wie im Anschluss gezeigt, in einem Vorabentscheidungsverfahren, sei es in einer Vertragsverletzungsklage – nicht erforderlich ist.

    45.

    In der Rechtssache Parfümerie-Fabrik 4711 ( 12 ) fragte ein nationales Gericht den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit einer Richtlinie zur abschließenden Harmonisierung und Art. 34 AEUV. Der Gerichtshof stellte fest, dass die betreffende Richtlinie anwendbar ist, und fügte hinzu, dass „[ü]ber die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Artikels [34 AEUV] … nicht entschieden zu werden [braucht]“ ( 13 ). Zum gleichen Ergebnis ist der Gerichtshof in der Rechtssache DaimlerChrysler ( 14 ) gelangt, als er in der Entscheidungsformel des Urteils festgestellt hat, dass, nachdem die Anwendbarkeit einer Verordnung bejaht worden war, „nicht darüber hinaus gesondert geprüft werden muss[te], ob [die] nationale Maßnahme mit den Artikeln 34 und 36 [AEUV] vereinbar ist“ ( 15 ).

    46.

    Im Rahmen einer Vorabentscheidungsfrage erweist sich mit anderen Worten eine weiter gehende Prüfung als nicht notwendig, sobald festgestellt worden ist, dass die beanstandete nationale Maßnahme gegen das Sekundärrecht der Union verstößt. Der Gerichtshof kann und „muss sich“ aus dem Blickwinkel seiner Zuständigkeit für den Rechtsstreit auf die Auslegung des Durchführungsrechtsakts „beschränken“ ( 16 ). Es handelt sich um eine Beschränkung auf prozessualer Ebene zur Begrenzung der Kontrollbefugnisse des Gerichts, da, wie bereits ausgeführt, die Koexistenz und auch das Rangverhältnis zwischen der Freiheit und dem durchführenden Rechtsakt in Fällen wie dem vorliegenden in allen ihren Wirkungen aufrechterhalten bleiben. Die interpretative Aufgabe des Gerichtshofs erschöpft sich in der Entscheidung über den angeblichen Verstoß gegen den Durchführungsrechtsakt.

    47.

    Im Zusammenhang mit einer Vertragsverletzungsklage hat der Gerichtshof die Formulierung angepasst, um die prozessuale Natur der Verdrängung noch mehr zu betonen. So stellt der Gerichtshof in der Rechtssache Kommission/Deutschland ( 17 ) fest, dass die Existenz eines Durchführungsrechtsakts „es ausschließt, die Vereinbarkeit … mit Artikel [34 AEUV] zu prüfen“ ( 18 ). Diese Anspielung auf die „Prüfung“ des Grundes bestätigt somit, dass eine Beschränkung vorliegt, die ausschließlich die prozessuale, nicht aber die materielle Dimension der Rechtssache betrifft.

    48.

    Letztlich obliegt es demjenigen, der die sukzessive Verletzung sowohl eines Sekundärrechtsakts als auch einer Grundfreiheit behauptet, darzulegen, dass die beanstandete nationale Maßnahme nicht ausschließlich in den Anwendungsbereich des angeführten Aktes fällt, sondern auch ein Gebiet berührt, das nicht von ihm erfasst wird und auf das sich die Grundfreiheit erstreckt. Andernfalls „muss sich“ das Gericht darauf „beschränken“, die nationale Maßnahme, wie der Gerichtshof verlangt, „anhand der Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht der des Primärrechts zu beurteilen“.

    49.

    Wenn wir uns nun auf die besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache konzentrieren, ist sogleich festzustellen, dass die Richtlinie 92/12 eine Mindestharmonisierung auf dem Gebiet der Steuern vorgenommen, aber auch einige Grenzen gesetzt hat, die von den Mitgliedstaaten nicht überschritten werden dürfen. Soweit diese Grenzen einen Raum abstecken, in dem ein Tätigwerden auf nationaler Ebene untersagt ist, können sie als abschließend harmonisierte punktuelle Aspekte definiert werden. Dies ist der Fall der Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 und insbesondere der in den Nrn. 20 und 23 der vorliegenden Schlussanträge beschriebenen Elemente, da sie abschließend die Bedingungen vorgeben, unter denen zu beurteilen ist, ob der Besitz von Tabak gewerblichen oder privaten Zwecken dient. Zu dieser Frage ergibt sich aus den angeführten Vorschriften, dass die Mitgliedstaaten keine objektiven Kriterien einführen dürfen, die es einer Privatperson unmöglich machen, den Beweis des Gegenteils zu erbringen. Außerdem müssen diese Kriterien pro Person und im Fall der quantitativen Kriterien unter Beachtung der in Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 aufgezählten Richtmengen angewandt werden.

    50.

    Da die Französische Republik, wie in den Nrn. 25 bis 28 der vorliegenden Schlussanträge vertreten, gegen abschließend harmonisierende Bestimmungen der Richtlinie 92/12 verstoßen hat, braucht deshalb nicht geprüft zu werden, ob es auch zu einer Verletzung von Art. 34 AEUV gekommen ist, denn es handelt sich in Bezug auf die speziell im vorliegenden Verfahren untersuchten Tatsachen und Maßnahmen um eine aufgrund der Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/12 verdrängte Bestimmung.

    51.

    Tatsächlich hat sich die Kommission über weite Strecken der in diesem Verfahren eingereichten Schriftsätze darauf beschränkt, die Unvereinbarkeit des Art. 575 H CGI und der nationalen Verwaltungspraktiken mit Art. 34 AEUV zu behaupten. Der Gegenstand dieses zweiten Grundes überschneidet sich mit dem des ersten Grundes, doch hat die Klägerin zu keinem Zeitpunkt begründet, inwieweit das gerügte Verhalten den Anwendungsbereich der Richtlinie 92/12 verlassen soll. Soweit die Art. 8 und 9 eine abschließende Harmonisierung der Materie darstellen, könnte der Gerichtshof die Prüfung des zweiten Grundes nur dann aufnehmen, wenn Frankreich außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs dieser Richtlinie tätig geworden wäre. Die Kommission hat jedoch nicht dargetan, inwiefern das Verhalten der Französischen Republik nicht unter die Richtlinie 92/12 fallen und dementsprechend Art. 34 AEUV unterliegen soll.

    52.

    Folglich kann die Berufung auf den Vertrag in einem Kontext, in dem eintritt, was ich vorhin seine prozessuale Verdrängung genannt habe, nur zur Unzulässigkeit des zweiten Grundes dieser Klage führen. Darin, dass der Vertrag als selbständiger, aber sukzessiver Grund für eine Vertragsverletzung geltend gemacht wird, kann mit anderen Worten nichts anderes als ein Unzulässigkeitsgrund gesehen werden. Mit ihrem zweiten Vertragsverletzungsgrund hat die Kommission letztlich einen angeblichen Verstoß in das Verfahren eingeführt, der überflüssig und ungeeignet ist, mit einem Mindestmaß an Selbständigkeit als Maßstab für die Beurteilung der nationalen Maßnahmen zu dienen, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind.

    53.

    Deshalb schlage ich dem Gerichtshof gemäß Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung vor, den zweiten Grund für unzulässig zu erklären.

    IV – Kosten

    54.

    Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung sind, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

    V – Ergebnis

    55.

    Folglich schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

    1.

    Es wird festgestellt, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren verstoßen hat, dass sie die in den Art. 575 G und 575 H des Code général des impôts vorgesehenen Maßnahmen erlassen und eine ständige Verwaltungspraxis angewandt hat, wonach die einzigen von den nationalen Behörden verwendeten quantitativen Kriterien zur Feststellung, zu welchen Zwecken Tabakwaren gebraucht werden, pro Fahrzeug und allgemeiner Warenkategorie berechnet werden und nicht pro Person und spezifischer Warenkategorie.

    2.

    Der zweite Vertragsverletzungsgrund wird für unzulässig erklärt.

    3.

    Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.


    ( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

    ( 2 ) Richtlinie des Rates vom 25. Februar 1992 (ABl. L 76 vom 23.3.1992, S. 1), aufgehoben durch die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem (ABl. L 9, S. 12).

    ( 3 ) Vgl. u. a. Urteile vom 15. Juni 2006, Heintz van Landewijck (C-494/04, Slg. 2006, I-5381, Randnr. 41), und vom 13. Dezember 2007, BATIG (C-374/06, Slg. 2007, I-11271, Randnr. 38).

    ( 4 ) Vgl. u. a. Urteile vom 18. Dezember 2008, Afton Chemical (C-517/07, Slg. 2008, I-10427, Randnrn. 36 f.), und vom 17. Juni 2010, British American Tobacco (Germany) (C-550/08, Slg. 2010, I-5515, Randnr. 38).

    ( 5 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 6 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 7 ) Vgl. u. a. die Urteile vom 13. März 1997, Kommission/Frankreich (C-197/96, Slg. 1997, I-1489, Randnr. 14), vom 9. März 2000, Kommission/Italien (C-358/98, Slg. 2000, I-1255, Randnr. 17), und vom 10. März 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich (C-33/03, Slg. 2005, I-1865, Randnr. 25).

    ( 8 ) Diese Formulierung fand sich bereits implizit in der Rechtsprechung, erscheint aber erstmals in deutlicher Form im Urteil vom 12. Oktober 1993, Vanacker und Lesage (C-37/92, Slg. 1993, I-4947, Randnr. 9), und wird in einer langen Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofs bekräftigt, insbesondere in den Urteilen vom 13. Dezember 2001, DaimlerChrysler (C-324/99, Slg. 2001, I-9897, Randnr. 32), vom 11. Dezember 2003, Deutscher Apothekerverband (C-322/01, Slg. 2003, I-14887, Randnr. 64), und vom 14. Dezember 2004, Radlberger (C-309/02, Slg. 2004, I-11763, Randnr. 53).

    ( 9 ) Vgl. u. a. Urteil vom 15. November 2007, Kommission/Deutschland (C-319/05, Slg. 2007, I-9811, Randnr. 35), wo der Gerichtshof feststellt, dass eine nationale Maßnahme, die in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt, „jedenfalls keine durch Art. 28 EG verbotene Beschränkung des innergemeinschaftlichen Handels dar[stellt]“ (Hervorhebung nur hier).

    ( 10 ) Vgl. u. a. Urteile vom 17. Mai 1984, Denkavit Nederland (15/83, Slg. 1984, 2171, Randnr. 15), vom 9. August 1994, Meyhui (C-51/93, Slg. 1994, I-3879, Randnr. 11), und vom 25. Juni 1997, Kieffer und Thill (C-114/96, Slg. 1997, I-3629, Randnr. 27).

    ( 11 ) Vgl. unter vielen anderen die Urteile DaimlerChrysler (Randnr. 32), vom 24. Oktober 2002, Linhart und Biffl (C-99/01, Slg. 2002, I-9375, Randnr. 18), vom 23. Januar 2003, Kommission/Österreich (C-221/00, Slg. 2002, I-1007, Randnr. 42), und vom selben Tag, Sterbenz und Haug (Verbundene Rechtssachen C-421/00, C-426/00 und C-16/01, Slg. 2003, I-1065, Randnr. 24).

    ( 12 ) Urteil vom 23. November 1989 (C-150/88, Slg. 1989, 3891).

    ( 13 ) Ebd., Randnr. 28.

    ( 14 ) Oben in Fn. 8 angeführt.

    ( 15 ) Ebd., Randnr. 46. Im gleichen Sinne in Bezug auf die fehlende Notwendigkeit, sich hierzu zu äußern, vgl. auch Urteil vom 14. Dezember 2004, Swedish Match (C-210/03, Slg. 2004, I-11893, Randnr. 83).

    ( 16 ) Dieser Ausdruck wird u. a. in den Urteilen Linhart und Biffl (Randnr. 21), Sterbenz und Haug (Randnr. 26), vom 24. Januar 2008, Roby Profumi (C-257/06, Slg. 2008, I-189, Randnr. 15), und vom 1. Oktober 2009, HSBC Holdings und Vidacos Nominees (C-569/07, Slg. 2009, I-9047, Randnr. 27), verwendet.

    ( 17 ) Urteil vom 14. Dezember 2004, Kommission/Deutschland (C-463/01, Slg. 2004, I-11705).

    ( 18 ) Ebd., Randnr. 36.

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