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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62010CJ0301

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 18. Oktober 2012.
    Europäische Kommission gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland.
    Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Umweltbelastungen – Behandlung von kommunalem Abwasser – Richtlinie 91/271/EWG – Art. 3, 4 und 10 – Anhang I Abschnitte A und B.
    Rechtssache C-301/10.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2012:633

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

    18. Oktober 2012 ( *1 )

    „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Umweltbelastungen — Behandlung von kommunalem Abwasser — Richtlinie 91/271/EWG — Art. 3, 4 und 10 — Anhang I Abschnitte A und B“

    In der Rechtssache C-301/10

    betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 16. Juni 2010,

    Europäische Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán, A.-A. Gilly und A. Demeneix als Bevollmächtigte,

    Klägerin,

    gegen

    Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch L. Seeboruth als Bevollmächtigten im Beistand von D. Anderson, QC, S. Ford, Barrister, und B. McGurk, Barrister,

    Beklagter,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

    unter Mitwirkung des Richters A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter), M. Ilešič und J.-J. Kasel sowie der Richterin M. Berger,

    Generalanwalt: P. Mengozzi,

    Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2011,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2012

    folgendes

    Urteil

    1

    Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den nachstehend genannten Bestimmungen der Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser (ABl. L 135, S. 40) verstoßen hat, dass es nicht dafür Sorge getragen hat, dass zum einen Whitburn und die Londoner Bezirke Beckton und Crossness über angemessene Kanalisationen nach Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie Anhang I Abschnitt A der Richtlinie verfügen und zum anderen das Abwasser aus den Behandlungsanlagen der Londoner Bezirke Beckton, Crossness und Mogden einer geeigneten Behandlung nach Art. 4 Abs. 1 und 3 und Art. 10 sowie Anhang I Abschnitt B der Richtlinie unterzogen wird.

    Rechtlicher Rahmen

    2

    Die Richtlinie 91/271 betrifft gemäß ihrem Art. 1 das Sammeln, Behandeln und Einleiten von kommunalem Abwasser und das Behandeln und Einleiten von Abwasser bestimmter Industriebranchen. Ihr Ziel ist, die Umwelt vor den schädlichen Auswirkungen von Abwasser zu schützen.

    3

    Art. 2 der Richtlinie 91/271 bestimmt:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bedeuten:

    1.

    ‚Kommunales Abwasser‘: häusliches Abwasser oder Gemisch aus häuslichem und industriellem Abwasser und/oder Niederschlagswasser.

    5.

    ‚Kanalisation‘: Leitungssystem, in dem kommunales Abwasser gesammelt und transportiert wird.

    6.

    ‚1 EW (Einwohnerwert)‘: organisch-biologisch abbaubare Belastung mit einem biochemischen Sauerstoffbedarf in 5 Tagen (BSB5) von 60 g Sauerstoff pro Tag.

    …“

    4

    In Art. 3 der Richtlinie 91/271 heißt es:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass alle Gemeinden bis zu folgenden Zeitpunkten mit einer Kanalisation ausgestattet werden:

    bis zum 31. Dezember 2000 in Gemeinden mit mehr als 15000 Einwohnerwerten (EW),

    (2)   Die in Absatz 1 genannten Kanalisationen müssen den Anforderungen von Anhang I Abschnitt A entsprechen. …“

    5

    Art. 4 dieser Richtlinie sieht vor:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Kanalisationen eingeleitetes kommunales Abwasser vor dem Einleiten in Gewässer bis zu folgenden Zeitpunkten einer Zweitbehandlung oder einer gleichwertigen Behandlung unterzogen wird:

    bis zum 31. Dezember 2000 in Gemeinden mit mehr als 15000 EW;

    (3)   Abwasser im Ablauf kommunaler Behandlungsanlagen gemäß den Absätzen 1 und 2 muss den einschlägigen Anforderungen des Anhangs I Abschnitt B entsprechen. …

    (4)   Die in EW ausgedrückte Belastung wird auf der Grundlage der höchsten wöchentlichen Durchschnittslast im Zulauf der Behandlungsanlage während eines Jahres berechnet; Ausnahmesituationen wie nach Starkniederschlägen bleiben dabei unberücksichtigt.“

    6

    Art. 10 der Richtlinie 91/271 lautet:

    „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass zur Erfüllung der Anforderungen der Artikel 4, 5, 6 und 7 Abwasserbehandlungsanlagen so geplant, ausgeführt, betrieben und gewartet werden, dass sie unter allen normalen örtlichen Klimabedingungen ordnungsgemäß arbeiten. Bei der Planung der Anlagen sind saisonale Schwankungen der Belastung zu berücksichtigen.“

    7

    Anhang I („Anforderungen an kommunale Abwässer“) Abschnitt A („Kanalisation“) der Richtlinie 91/271 lautet:

    „Kanalisationen sollen den Anforderungen an die Abwasserbehandlung Rechnung tragen.

    Bei Entwurf, Bau und Unterhaltung der Kanalisation sind die optimalen technischen Kenntnisse zugrunde zu legen, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen; dies betrifft insbesondere:

    Menge und Zusammensetzung der kommunalen Abwässer,

    Verhinderung von Leckagen,

    Begrenzung einer Verschmutzung der aufnehmenden Gewässer durch Regenüberläufe.“

    8

    Fn. 1 zu Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271, die der Überschrift „Kanalisation“ angefügt ist, lautet:

    „Da es in der Praxis nicht möglich ist, Kanalisationen und Behandlungsanlagen so zu dimensionieren, dass in Extremsituationen, wie z. B. bei ungewöhnlich starken Niederschlägen, das gesamte Abwasser behandelt werden kann, beschließen die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Begrenzung der Verschmutzung aus Regenüberläufen. Solche Maßnahmen könnten vom Mischungsverhältnis, von der Leistungsfähigkeit bezogen auf den Trockenwetterabfluss oder von einer bestimmten tragbaren jährlichen Überlaufhäufigkeit ausgehen.“

    9

    Anhang I Abschnitt B („Einleitungen aus kommunalen Abwasserbehandlungsanlagen in Gewässer“) der Richtlinie 91/271 enthält die Anforderungen, denen Einleitungen aus kommunalen Abwasserbehandlungsanlagen in Gewässer entsprechen müssen. Die in der vorstehenden Randnummer zitierte Fußnote zu Anhang I Abschnitt A der Richtlinie wird auch in Abschnitt B dieses Anhangs angeführt.

    Vorverfahren

    10

    Die Kommission erhielt eine Beschwerde über die Pumpstation in Whitburn Steel und weitere Beschwerden über Verschmutzungen durch Regenüberläufe in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs.

    11

    Am 3. April 2003 richtete die Kommission ein Mahnschreiben an das Vereinigte Königreich, in dem sie darauf hinwies, dass die Pumpstation in Whitburn Steel nicht den in Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 vorgesehenen Anforderungen an das Sammeln von kommunalem Abwasser entspreche.

    12

    In seiner Antwort vom 3. Juni 2003 trug das Vereinigte Königreich vor, dass die betroffene Gemeinde ihre das Sammeln von Abwasser betreffenden Verpflichtungen aus Art. 3 der Richtlinie 91/271 erfülle. Es räumte allerdings ein, dass sich, nachdem die Kanalisation dieses Gebiets weiteren Überprüfungen unterzogen worden sei, herausgestellt habe, dass ihre Abflussmenge verbessert werden müsse. Außerdem seien die Voraussetzungen für die Genehmigung von Einleitungen durch das Wasserwerk zum Betrieb der Abwasserpumpstation von Whitburn Steel geändert worden, wodurch sich die Zahl der Einleitungen verringern dürfte. Diese Verbesserungen dürften spätestens am 31. März 2004 abgeschlossen sein.

    13

    Am 21. März 2005 übermittelte die Kommission dem Vereinigten Königreich ein zweites Mahnschreiben, in dem sie feststellte, dass die Kanalisationen und die Behandlungsanlagen für kommunales Abwasser im Gebiet von London die in Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 und 3, Art. 10 sowie Anhang I Abschnitte A und B der Richtlinie 91/271 aufgestellten Voraussetzungen an das Sammeln und Behandeln von kommunalem Abwasser nicht erfüllten. Die Kommission wies darauf hin, dass auch in Zeiten mit mäßigen Niederschlägen nicht behandeltes Abwasser in die Themse eingeleitet werde und dass keine Sofortmaßnahme zur Lösung dieses Problems vorgesehen sei, das somit fortbestehen und sich sogar noch verschärfen werde.

    14

    In seiner Antwort vom 20. Mai 2005 erläuterte das Vereinigte Königreich, die Kanalisation von London sei ein Mischsystem, das sowohl häusliches und industrielles Abwasser als auch Niederschlagswasser aus einem Becken von 557 km2 sammle und vor Einleitung in die Themse einer Zweitbehandlung in den Behandlungsanlagen von Beckton, Mogden, Crossness, Long Reach und Riverside zuführe. Es räumte allerdings ein, dass es bei feuchtem Wetter Probleme mit der Menge und der Häufigkeit von Einleitungen aus Regenüberläufen sowie der Belastung durch diese Einleitungen gebe, und wies auf seinen Beschluss hin, die Thames Tideway Strategic Study (im Folgenden: TTSS) erstellen zu lassen, um die Umweltauswirkungen dieser Einleitungen zu beurteilen.

    15

    Bezüglich seiner Verpflichtung, für eine angemessene Behandlung von kommunalem Abwasser zu sorgen, führte das Vereinigte Königreich aus, dass die im Ballungsgebiet von London eingesetzten Behandlungsanlagen – auch wenn so bald wie möglich noch Verbesserungen durchgeführt würden – seit dem 31. Dezember 2000 den Anforderungen der Richtlinie 91/271 entsprächen. Außerdem seien die im August 2004 erfolgten Einleitungen auf ungewöhnlich starke Niederschläge zurückzuführen.

    16

    Da der Kommission die Antwort des Vereinigten Königreichs nicht zufriedenstellend erschien, übermittelte sie diesem Mitgliedstaat mit Schreiben vom 10. April 2006 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie ihn darauf hinwies, dass er ihrer Ansicht nach in Bezug auf Whitburn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 und hinsichtlich der neun Behandlungsanlagen für Greater London gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 und 3 und Art. 10 sowie Anhang I Abschnitte A und B der Richtlinie 91/271 verstoßen habe.

    17

    Auf diese mit Gründen versehene Stellungnahme antwortete das Vereinigte Königreich mit Schreiben vom 15. Juni 2006, dass die gesamte Kanalisation und die Behandlungsanlagen für Whitburn und den Ballungsraum Sunderland im Einklang mit der Richtlinie 91/271 stünden.

    18

    Hierzu gab das Vereinigte Königreich, nachdem am 6. Juli 2007 eine Zusammenkunft von Vertretern dieses Mitgliedstaats mit Vertretern der Kommission stattgefunden hatte, mit Schreiben vom 23. Oktober 2007 einige Erläuterungen.

    19

    Bezüglich der Situation von London antwortete das Vereinigte Königreich, dass die Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden zwar noch verbessert werden müssten, dies jedoch nicht bedeute, dass diese Anlagen gegen die Richtlinie 91/271 verstießen. Mit diesen Verbesserungen bringe das Vereinigte Königreich lediglich zum Ausdruck, dass es bestrebt sei, für ein höheres Umweltschutzniveau zu sorgen.

    20

    Am 26. Januar 2007 erörterten Vertreter der Kommission und des Vereinigten Königreichs im Rahmen einer Zusammenkunft die beiden für London in Betracht kommenden Optionen, die im TTSS-Bericht vorgeschlagen worden waren, und das Vereinigte Königreich entschied sich für einen einzelnen Tunnel mit einer Länge von 30 km entlang der Themse sowie für einen separaten Tunnel für deren Nebenfluss, die Lee. Das gesamte Projekt soll vor 2020 fertiggestellt sein.

    21

    Da die Kommission mit den Antworten des Vereinigten Königreichs auch nach dem Erhalt zweier weiterer Schreiben dieses Mitgliedstaats mit Datum vom 29. Juni 2007 und 4. Februar 2008 nicht zufrieden war, übermittelte sie ihm mit Schreiben vom 1. Dezember 2008 eine mit Gründen versehene ergänzende Stellungnahme, in der sie ihre Auffassung zur Auslegung der Richtlinie 91/271 in Bezug auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten erläuterte, Einleitungen kommunalen Abwassers durch Regenüberläufe zu kontrollieren. Sie bekräftigte auch ihre Sorge, dass die in der Gegend von Whitburn eingerichtete Kanalisation, die Kanalisationen von Beckton und Crossness sowie die Behandlungsanlagen von Mogden, Beckton und Crossness unzureichend sein könnten.

    22

    Die Kommission beschloss jedoch, das Verfahren in Bezug auf die Kanalisationen und die Behandlungsanlagen von Beddington, Esher, Crawley, Deephams, Hogsmill, Long Reach und Riverside nicht fortzusetzen. Sie forderte das Vereinigte Königreich dementsprechend auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen ergänzenden Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nach ihrem Zugang nachzukommen.

    23

    Trotz des anschließenden Austauschs mehrerer Schreiben und trotz mehrerer weiterer Zusammenkünfte kamen die Kommission und das Vereinigte Königreich zu keiner Einigung.

    24

    Da die Kommission die Antwort des Vereinigten Königreichs nach wie vor nicht für zufriedenstellend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

    Zur Klage

    Vorbringen der Parteien

    25

    Die Hauptpunkte, in denen sich die Kommission und das Vereinigte Königreich nicht einig sind, betreffen die Auslegung der Richtlinie 91/271.

    26

    Nach Ansicht der Kommission sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Kanalisation so geplant und gebaut wird, dass alle kommunalen Abwässer aus den angeschlossenen Gemeinden gesammelt und einer Behandlung zugeführt werden. Die Aufnahmekapazität der Kanalisation müsse daher so ausgelegt sein, dass sie in der Lage sei, natürlichen Klimabedingungen (trockenes Wetter, feuchtes Wetter und sogar Gewitter) und saisonalen Schwankungen wie gebietsfremden Personen, Touristen und saisonalen wirtschaftlichen Tätigkeiten Rechnung zu tragen.

    27

    Die in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 genannten „Regenüberläufe“ seien fester Bestandteil der Kanalisationen und Abwasserbehandlungsanlagen. Diese Richtlinie sei dahin auszulegen, dass sie die absolute Verpflichtung vorsehe, Einleitungen aus Regenüberläufen zu verhindern, es sei denn, es träten außergewöhnliche Umstände ein. Dieser Gedanke komme in Fn. 1 zu Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 zum Ausdruck, wonach es in der Praxis nicht möglich sei, das gesamte Abwasser „in Extremsituationen, wie z. B. bei ungewöhnlich starken Niederschlägen“, zu sammeln und zu behandeln.

    28

    Die Kommission verweist auf Faktoren wie Häufigkeit und Menge der Einleitungen, um zu zeigen, dass ein Verstoß gegen die Richtlinie 91/271 vorliege. Entsprechend schlägt sie entgegen der vom Vereinigten Königreich geäußerten Sorge keine starre Regel von 20 Einleitungen vor, sondern macht geltend, je öfter ein Überlauf überfließe, insbesondere in Zeiten nur mäßiger Niederschläge, umso wahrscheinlicher sei es, dass dieser Überlauf nicht im Einklang mit der Richtlinie 91/271 betrieben werde.

    29

    Die Kommission und das Vereinigte Königreich sind auch in Bezug auf die Bedeutung uneins, die dem in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 enthaltenen Begriff „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ beizumessen ist.

    30

    Nach Ansicht der Kommission ist dieser Begriff im Kontext der Richtlinie 91/271 und im Hinblick auf ihr Ziel zu verstehen, die Umwelt vor den schädlichen Auswirkungen durch die Einleitung von Abwasser zu schützen.

    31

    Der Begriff „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ lasse den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen mehreren Lösungen, die der Einhaltung der Bestimmungen und des Ziels der Richtlinie 91/271 dienten, etwa die Schaffung neuer Infrastrukturen für die Speicherung von Abwasser, die Erweiterung bereits bestehender Infrastrukturen oder die Umleitung von Regenwasser, bevor es in die Kanalisation fließen könne.

    32

    Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs ist die Richtlinie 91/271 dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten überlasse, wie sie die Kanalisation und die Behandlung des kommunalen Abwassers regelten, um das Ziel dieser Richtlinie zu erreichen, die Umwelt vor den schädlichen Auswirkungen durch die Einleitung von Abwasser zu schützen.

    33

    Die Auslegung der Richtlinie 91/271 sei insbesondere unter Berücksichtigung der Umweltauswirkungen von Einleitungen in die aufnehmenden Gewässer vorzunehmen.

    34

    Was den Begriff „ungewöhnlich starke Niederschläge“ angehe, werde zwar in Fn. 1 zu Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 ausdrücklich anerkannt, dass es unter besonderen Umständen, insbesondere bei ungewöhnlich starken Niederschlägen, nicht möglich sei, Einleitungen zu verhindern, doch bedeute dies nicht, dass eine absolute Verpflichtung bestehe, in anderen Fällen Einleitungen zu verhindern. Die Frage, ob Einleitungen in anderen Fällen angemessen seien, sei unter Anwendung des Begriffs „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ und unter Berücksichtigung der Umweltauswirkungen der Einleitungen in die aufnehmenden Gewässer zu beurteilen.

    35

    Die Richtlinie 91/271 enthalte für die Umstände oder die Häufigkeit, mit der Einleitungen in die aufnehmenden Gewässer vorgenommen werden könnten, keine Regelung. Für die Beurteilung, ob Kanalisationen oder Behandlungsanlagen im Einklang mit der Richtlinie 91/271 stünden, bedürfe es einer eingehenden Untersuchung der Leistung der Kanalisation oder der betroffenen Behandlungsanlage, wobei die Umweltauswirkungen der Einleitungen in die aufnehmenden Gewässer zu prüfen seien.

    36

    Der in Art. 10 der Richtlinie 91/271 enthaltene Begriff „ordnungsgemäß arbeiten“ sei ebenfalls im Licht des in Art. 1 dieser Richtlinie festgelegten Umweltschutzziels und somit im Hinblick auf die Auswirkungen auf die aufnehmenden Gewässer zu beurteilen.

    37

    Die Kommission habe zwar die Methode, nach der das Vereinigte Königreich berechne, ob eine einzelne Einleitung vorliege, nicht in Frage gestellt, doch löse dies nicht das Problem im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Definition dessen, was unter einer Einleitung zu verstehen sei, von einem Mitgliedstaat zum anderen abweichen könne. Ein einheitliches Vorgehen der einzelnen Mitgliedstaaten wäre also nicht gewährleistet, wenn die Übereinstimmung mit der Richtlinie 91/271 nach der Durchführung und der Häufigkeit von Einleitungen zu bestimmen wäre.

    38

    Außerdem begehe die Kommission einen Fehler, wenn sie bei der Prüfung, ob die Kanalisationen und die Behandlungsanlagen im Einklang mit der Richtlinie 91/271 stünden, auf die Menge der Einleitungen abstelle.

    39

    Die Kommission wirft dem Vereinigten Königreich insbesondere hinsichtlich des Ballungsraums Sunderland (Whitburn) vor, dass es bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen ergänzenden Stellungnahme gesetzt worden sei, noch immer Verschmutzungen durch Regenüberläufe aus dem in Whitburn gelegenen Teil der Kanalisation von Sunderland gegeben habe und dass diese somit gegen Art. 3 und Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 verstoße.

    40

    Zwar sei die Häufigkeit der Einleitungen zurückgegangen (in den Jahren 2002 bis 2004 zwischen 56 und 91 Einleitungen pro Jahr, bei einem Jahresvolumen von 359640 m3 bis 529 290 m3 unbehandelt eingeleiteten kommunalen Abwassers), doch entspreche die Kanalisation noch immer nicht den Anforderungen der Richtlinie 91/271, insbesondere in Anbetracht der Nähe der Badegewässer von Whitburn und Seaham sowie der zahlreichen Beschwerden, die die Kommission über Abfälle auf den Stränden in der Umgebung von Whitburn erhalten habe.

    41

    Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs stehen diese Regenüberläufe im Einklang mit der Richtlinie 91/271.

    42

    Außerdem sei festgestellt worden, dass die Badegewässer in der Umgebung von Whitburn der Richtlinie 76/160/EWG des Rates vom 8. Dezember 1975 über die Qualität der Badegewässer (ABl. L 31, S. 1) entsprächen und daher im Einklang mit der Richtlinie 91/271 stünden. Darüber hinaus kämen die Abfälle wahrscheinlich nicht aus Whitburn, sondern eher von der Tyne, wo die Überlaufbecken erst Ende März 2010 mit Filternetzen ausgerüstet worden seien.

    43

    Die Kommission wirft dem Vereinigten Königreich hinsichtlich des Ballungsgebiets von London die Häufigkeit und die Menge der Einleitungen von unbehandeltem Abwasser aus den Kanalisationen von Beckton und Crossness sowie den Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden vor. Diese Einleitungen hätten ein derartiges Ausmaß, dass sie gegen die Art. 3 und 4 sowie gegen Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 verstießen, und zwar insbesondere, weil sie selbst in Zeiten mit mäßigen Niederschlägen erfolgten.

    44

    Außerdem schreibe Art. 10 der Richtlinie 91/271 vor, dass zur Erfüllung der Anforderungen des Art. 4 der Richtlinie Abwasserbehandlungsanlagen so geplant, ausgeführt, betrieben und gewartet würden, dass sie unter allen normalen örtlichen Klimabedingungen ordnungsgemäß arbeiteten.

    45

    Das Vereinigte Königreich ist der Ansicht, dass diese Behandlungsanlagen den Bestimmungen der Richtlinie 91/271 entsprechen.

    46

    Zudem sei die Kanalisation von London sehr alt und seit 1875 schrittweise modernisiert worden. Seit der Verabschiedung der Richtlinie 91/271 seien Verbesserungen geplant und durchgeführt worden. Im Übrigen erforderten der Umfang und die außergewöhnliche Art der Arbeiten, die an der Themse mit einem Kostenaufwand von 4,4 Mrd. GBP durchgeführt würden, viel Zeit. Die langfristige Verwirklichung einer ehrgeizigen Lösung dürfe für das Vereinigte Königreich nicht mit Nachteilen verbunden sein.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Zur Auslegung der Richtlinie 91/271

    47

    Die Richtlinie 91/271 hat gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 zum Ziel, die Umwelt vor den schädlichen Auswirkungen von kommunalem Abwasser zu schützen (vgl. u. a. Urteil vom 23. September 2004, Kommission/Frankreich, C-280/02, Slg. 2004, I-8573, Randnr. 13).

    48

    Mit der Richtlinie 91/271 sollen über das Ziel des bloßen Schutzes der aquatischen Ökosysteme hinaus der Mensch, die Tier- und Pflanzenwelt, der Boden, die Gewässer, die Luft, das Klima und die Landschaft vor erheblichen schädlichen Auswirkungen des vermehrten Wachstums von Algen und höheren Formen des pflanzlichen Lebens aufgrund der Einleitung von kommunalem Abwasser geschützt werden (Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 16).

    49

    Die Begriffe „ordnungsgemäß arbeiten“ in Art. 10 der Richtlinie 91/271, „ungewöhnlich starke Niederschläge“ in Fn. 1 zu Anhang I dieser Richtlinie und „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie sind unter Berücksichtigung dieses Ziels, aber auch des Art. 191 AEUV auszulegen.

    50

    Erstens wird der Begriff „ordnungsgemäß arbeiten“, der sich ausschließlich auf Behandlungsanlagen bezieht, durch keinerlei Zahlenangaben präzisiert, denn Art. 10 der Richtlinie 91/271 sieht lediglich vor, dass die Behandlungsanlagen „unter allen normalen örtlichen Klimabedingungen ordnungsgemäß arbeiten“ und dass bei der Planung der Anlagen saisonale Schwankungen der Belastung zu berücksichtigen sind.

    51

    Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits eine Vertragsverletzung in Fällen festgestellt, in denen kommunales Abwasser in einem Umfang von 80 % oder gar 90 % der bestehenden Belastung gesammelt oder behandelt wurde (Urteile vom 7. Mai 2009, Kommission/Portugal, C-530/07, Randnrn. 28 und 53, sowie vom 14. April 2011, Kommission/Spanien, C-343/10, Randnrn. 56 und 62).

    52

    Angesichts des mit der Richtlinie 91/271 angestrebten und in den Randnrn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils erwähnten Ziels kann nämlich eine fehlende Behandlung von kommunalem Abwasser unter normalen klimatischen und saisonalen Bedingungen nicht zugelassen werden, da die Richtlinie andernfalls ihren Sinn verlöre.

    53

    Somit steht fest, dass der Begriff „ordnungsgemäß arbeiten“, auch wenn er nicht mit Zahlenangaben versehen ist, zur Erreichung des Ziels des Umweltschutzes in dem Sinne zu verstehen ist, dass unter normalen Klimabedingungen und unter Berücksichtigung saisonaler Schwankungen das gesamte kommunale Abwasser gesammelt und behandelt werden muss.

    54

    Demzufolge kann eine fehlende Behandlung von kommunalem Abwasser nur unter außergewöhnlichen Umständen hingenommen werden, und eine regelmäßige Einleitung unbehandelten kommunalen Abwassers würde gegen die Richtlinie 91/271 verstoßen.

    55

    Zweitens bezieht sich der Begriff „ungewöhnlich starke Niederschläge“ in Fn. 1 zu Anhang I der Richtlinie 91/271 sowohl auf Kanalisationen im Sinne von Art. 3 als auch auf Behandlungsanlagen im Sinne von Art. 4 dieser Richtlinie.

    56

    Der Unionsgesetzgeber hat mit der genannten Fußnote anerkannt, dass es Situationen gibt, in denen nicht das gesamte kommunale Abwasser gesammelt und behandelt werden kann. Er hat insbesondere festgestellt, dass es „in der Praxis nicht möglich ist, Kanalisationen und Behandlungsanlagen so zu dimensionieren, dass … das gesamte Abwasser behandelt werden kann“, und hat vorgesehen, dass es „z. B. bei ungewöhnlich starken Niederschlägen“ hingenommen werden kann, wenn das Abwasser nicht gesammelt und nicht behandelt wird. In diesen Fällen müssen die Mitgliedstaaten jedoch „Maßnahmen zur Begrenzung der Verschmutzung aus Regenüberläufen“ beschließen.

    57

    Der Begriff „ungewöhnlich starke Niederschläge“ in Fn. 1 zu Anhang I der Richtlinie 91/271 dient allerdings nur als Orientierung, denn ihm sind die Worte „z. B.“ vorangestellt. Es kann daher auch unter anderen Umständen zulässig sein, das Abwasser nicht zu sammeln oder nicht zu behandeln.

    58

    Das mit der Richtlinie 91/271 angestrebte Ziel schließt jedoch entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs die Annahme aus, dass es sich bei diesen anderen Umständen um normale und regelmäßig eintretende Umstände handelt, zumal der Begriff „ungewöhnlich“ klar zum Ausdruck bringt, dass unter normalen Umständen weder das Sammeln noch das Behandeln des Abwassers unterbleiben darf.

    59

    Deshalb kann dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dass Einleitungen selbst dann zulässig seien, wenn keine Extremsituation vorliege, nicht gefolgt werden.

    60

    Außerdem ist hervorzuheben, dass ein Mitgliedstaat, wenn er sich in einer Extremsituation befindet, in der er das Abwasser nicht sammeln oder behandeln kann, gemäß Fn. 1 zu Anhang I der Richtlinie 91/271 nach wie vor verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen zur Begrenzung der Verschmutzung zu ergreifen.

    61

    Da im Übrigen der Begriff „ungewöhnlich starke Niederschläge“ in dieser Richtlinie nicht definiert ist, ist es berechtigt, dass die Kommission im Rahmen ihrer Überwachung der Wahrung des Unionsrechts Leitlinien festlegt, und da der Gerichtshof nicht dafür zuständig ist, die in der Richtlinie 91/271 vorgesehenen Verpflichtungen zu beziffern, ist der Begriff „ungewöhnlich starke Niederschläge“ folglich unter Berücksichtigung sämtlicher in dieser Richtlinie festgelegten Kriterien und Bedingungen, insbesondere des Begriffs „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ zu beurteilen.

    62

    Drittens ist der in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 genannte Begriff „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ genauso wie die verschiedenen vorstehend untersuchten Begriffe der Richtlinie 91/271 im Hinblick auf das Ziel des Umweltschutzes zu prüfen. Ferner müssen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen, wonach – außer im Fall außergewöhnlicher oder unvorhersehbarer Ereignisse – das gesamte Abwasser zu sammeln und zu behandeln ist, zu dem in der Richtlinie festgelegten Zeitpunkt eingehalten werden.

    63

    Der Begriff „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ ist in Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 zwar nur in Bezug auf Kanalisationen vorgesehen, liegt aber sämtlichen Bestimmungen der Richtlinie 91/271 zugrunde und soll gewährleisten, dass das Ziel der Richtlinie, der Umweltschutz, erreicht wird, ohne dass die aufgestellten Regeln zu streng angewandt werden. Somit ist dieser Begriff auch auf Behandlungsanlagen auszuweiten und lässt in bestimmten Fällen Einleitungen von unbehandeltem Abwasser zu, obwohl diese Einleitungen schädliche Auswirkungen auf die Umwelt haben.

    64

    Mit dem Begriff „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ kann folglich für die Einhaltung der in der Richtlinie 91/271 vorgesehenen Anforderungen gesorgt werden, ohne dass den Mitgliedstaaten Verpflichtungen auferlegt werden, die sie nicht oder nur unter unverhältnismäßig hohen Kosten erfüllen könnten.

    65

    Damit der in Randnr. 53 des vorliegenden Urteils genannte Grundsatz, wonach das gesamte Abwasser gesammelt und behandelt werden muss, nicht verletzt wird, dürfen sich die Mitgliedstaaten allerdings nur ausnahmsweise auf derartige unverhältnismäßig hohe Kosten berufen.

    66

    Hierzu ist daran zu erinnern, dass sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf praktische oder administrative Schwierigkeiten berufen kann, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen. Das Gleiche gilt für finanzielle Schwierigkeiten, die die Mitgliedstaaten mit geeigneten Maßnahmen zu überwinden haben (Urteil vom 30. November 2006, Kommission/Italien, C-293/05, Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    67

    Der Begriff „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ ist zu prüfen, indem zwischen der fortschrittlichsten Technologie und den voraussichtlichen Kosten auf der einen und den Vorteilen, die ein leistungsfähigeres Sammel- oder Behandlungssystem für Abwasser auf der anderen Seite bietet, abgewogen wird. Dabei dürfen die anfallenden Kosten in keinem unangemessenen Verhältnis zu den erzielten Vorteilen stehen.

    68

    In diesem Kontext ist, wie das Vereinigte Königreich geltend macht, zu berücksichtigen, welche Auswirkungen Einleitungen von unbehandeltem Abwasser auf die Umwelt und namentlich auf die aufnehmenden Gewässer haben. Somit könnte anhand der Folgen, die diese Einleitungen für die Umwelt haben, geprüft werden, ob die Kosten der Arbeiten, die durchgeführt werden müssten, um das gesamte kommunale Abwasser zu behandeln, im Verhältnis zu dem Vorteil, den dies für die Umwelt hätte, angemessen wären.

    69

    Sollte sich herausstellen, dass es unmöglich oder sehr schwierig ist, das gesamte Abwasser zu sammeln und zu behandeln, hat der betroffene Mitgliedstaat nachzuweisen, dass die Merkmale des Begriffs „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ erfüllt sind.

    70

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegt es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV zwar der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie ist es also, die dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern muss, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, und kann sich hierfür nicht auf irgendwelche Vermutungen stützen (vgl. u. a. Urteile vom 26. April 2005, Kommission/Irland, C-494/01, Slg. 2005, I-3331, Randnr. 41, Kommission/Portugal, Randnr. 32, vom 6. Oktober 2009, Kommission/Finnland, C-335/07, Slg. 2009, I-9459, Randnr. 46, und vom 10. Dezember 2009, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-390/07, Slg. 2009, I-8917, Randnr. 43).

    71

    Die Mitgliedstaaten sind jedoch nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, der Kommission die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern, zu denen es gemäß Art. 17 Abs. 1 EUV u. a. gehört, für die Anwendung des Vertrags sowie der von den Organen aufgrund des Vertrags erlassenen Bestimmungen Sorge zu tragen. Insbesondere ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass im Rahmen der Prüfung der Frage, ob die nationalen Bestimmungen, mit denen die wirksame Durchführung einer Richtlinie sichergestellt werden soll, in der Praxis korrekt angewandt werden, die Kommission, die über keine eigenen Ermittlungsbefugnisse auf diesem Gebiet verfügt, weitgehend auf die Angaben etwaiger Beschwerdeführer und des betroffenen Mitgliedstaats angewiesen ist (vgl. u. a. Urteile Kommission/Irland, Randnrn. 42 und 43, sowie Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 44).

    72

    Das bedeutet insbesondere, dass es dann, wenn die Kommission genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts im Gebiet des beklagten Mitgliedstaats beigebracht hat, diesem obliegt, diese Angaben und deren Folgen substantiiert zu bestreiten (vgl. Urteile Kommission/Irland, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 45).

    73

    Daraus folgt für die Prüfung der vorliegenden Klage, dass der Gerichtshof zunächst prüfen muss, ob die Einleitungen aus Kanalisationen oder Behandlungsanlagen der einzelnen Gemeinden des Vereinigten Königreichs auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen sind, und danach, falls das nicht der Fall ist, prüfen muss, ob das Vereinigte Königreich nachgewiesen hat, dass die Merkmale des Begriffs „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ erfüllt waren.

    Whitburn

    74

    Hinsichtlich der Verpflichtung, eine Kanalisation im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 91/271 zu besitzen, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, und dass später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (vgl. u. a. Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 50, sowie Kommission/Spanien, Randnr. 54).

    75

    Hierzu ist festzustellen, dass dem Vereinigten Königreich in der mit Gründen versehenen ergänzenden Stellungnahme vom 1. Dezember 2008 eine Frist von zwei Monaten ab Zustellung dieser Stellungnahme gesetzt worden war, um seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie 91/271 nachzukommen. Zu dem in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegten Zeitpunkt kam es noch immer zu Einleitungen unbehandelten kommunalen Abwassers durch die Regenüberläufe. Die Zahl der Einleitungen und ihre Menge werden vom Vereinigten Königreich nicht bestritten. Dieses macht lediglich geltend, dass der auf den Stränden in der Gegend von Whitburn gefundene Abfall entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht aus der Kanalisation von Whitburn stammen könne, weil der unterseeische Auslass, der für das Einleiten von Abwasser verwendet werde, mit Filternetzen mit Öffnungen von 6 mm ausgerüstet sei. Wahrscheinlich kämen diese Abfälle von der Tyne, wo die Überläufe erst Ende März 2010 mit Filternetzen ausgestattet worden seien.

    76

    Um zu klären, ob das Vereinigte Königreich, wie die Kommission mit ihrer Rüge geltend macht, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 und Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 verstoßen hat, ist die in Randnr. 73 des vorliegenden Urteils dargestellte Prüfung durchzuführen.

    77

    Erstens ist festzustellen, dass es gemäß dem Schreiben des Vereinigten Königreichs vom 2. März 2005 an die Kommission im Jahr 2001 zu 310 Einleitungen von Abwasser mit einem Jahresvolumen von 561240 m3 kam und dass die Zahl der Einleitungen in den Jahren 2002 bis 2004 zwischen 56 und 91 variierte, bei einem Volumen von 359640 m3 bis 529290 m3. In der Zeit von 2006 bis 2008 kam es jährlich zu 25 bis 47 Einleitungen von Abwasser mit einem Volumen von 248130 m3 bis 732 150 m3 und im Jahr 2009 zu einem Volumen von 762300 m3. Die Kommission hat unter Hinweis auf die Häufigkeit und das Ausmaß dieser Einleitungen eindeutig nachgewiesen, dass diese sowohl vor als auch nach Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen ergänzenden Stellungnahme gesetzt wurde, unter normalen Umständen erfolgten, denn derart häufige Einleitungen können nicht mit außergewöhnlichen Umständen zusammenhängen. Im Übrigen hat das Vereinigte Königreich in seinen Erklärungen nicht geltend gemacht, dass diese Einleitungen außergewöhnlicher Art wären.

    78

    Zweitens ist festzustellen, dass es gemäß einer im Jahr 2010 erstellten Studie technologisch möglich wäre, die Zahl der Einleitungen von Abwasser aus der Kanalisation von Whitburn durch eine Verbreiterung des bereits bestehenden Auffangtunnels zu verringern. Das Vereinigte Königreich hat dies nicht bestritten.

    79

    Hinsichtlich der aufzuwendenden Kosten und der entstehenden Vorteile ergibt sich aus der genannten Studie, dass die Verbreiterung des Auffangtunnels die Qualität der aufnehmenden Gewässer um 0,3 % verbessern könnte, wobei die Studie von 20 Einleitungen pro Jahr ausgeht.

    80

    Obwohl diese Verbesserung der Gewässerqualität gering wäre und die Richtlinie 76/160 entsprechend dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs eingehalten wird, was bei der allgemeinen Prüfung der Erfüllung der Merkmale des Begriffs „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ berücksichtigt werden kann, ist zu beachten, dass die Kosten einer derartigen Verbreiterung des Tunnels weder in den Erklärungen der Parteien noch in den erstellten Berichten oder Studien zu irgendeinem Zeitpunkt erwähnt worden sind.

    81

    Deshalb ist der Gerichtshof nicht in der Lage, zu prüfen, ob die Kosten solcher Arbeiten tatsächlich überhöht sind und außer Verhältnis zu dem für die Umwelt erzielten Vorteil stehen.

    82

    Daraus folgt, dass das Vereinigte Königreich rechtlich nicht hinreichend nachgewiesen hat, dass die Kosten der Arbeiten zur Ausweitung der Kapazität der Kanalisation außer Verhältnis zur Verbesserung der Umweltsituation stünden.

    83

    Demzufolge hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass die Einrichtung der Kanalisation von Whitburn nicht die Voraussetzungen nach Art. 3 und Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 erfüllt.

    London

    84

    Was das Ballungsgebiet von London angeht, ist nach den Angaben des Vereinigten Königreichs selbst unstreitig, dass es dort bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen ergänzenden Stellungnahme gesetzt worden war, in Beckton, Crossness und Mogden keine Behandlungsanlagen für eine Zweitbehandlung des gesamten von der Kanalisation aufgenommenen kommunalen Abwassers gemäß Art. 4 Abs. 1 und Art. 10 der Richtlinie 91/271 gab, die gewährleisteten, dass Einleitungen aus der Kanalisation den Anforderungen nach Anhang I Abschnitt B der Richtlinie entsprachen, und dass es in Beckton und Crossness keine Kanalisationen mit ausreichender Kapazität gemäß Art. 3 der Richtlinie gab.

    85

    Die Kommission weist gestützt auf einen TTSS-Bericht vom Februar 2005 darauf hin, dass es jährlich zu ungefähr 60 Einleitungen von Abwasser aus den Regenüberläufen von London komme, und zwar selbst in Zeiten mit mäßigen Niederschlägen. Somit würden jährlich mehrere Millionen Tonnen unbehandelten Wassers in die Themse geleitet.

    86

    Demselben Bericht zufolge ist die Kapazität der Behandlungsanlagen der Kanalisation von London bei trockener Wetterlage ausreichend, keinesfalls jedoch bei Niederschlägen.

    87

    Das Vereinigte Königreich bestreitet die von der Kommission vorgebrachten Tatsachen nicht und erinnert daran, dass ein Projekt für den Bau eines neuen Tunnels mit einer Länge von 30 km unter dem für die Fluss- bzw. Seeschifffahrt genutzten Teil der Themse im Gange sei, um Einleitungen aus den Überläufen der Kanalisation aufzunehmen und zur Behandlung in die Behandlungsanlage Beckton zu leiten. Außerdem sei der Bau eines weiteren Tunnels, des Lee Tunnel, geplant, um die Einleitungen aus den Überläufen der Kanalisationen von Beckton und Crossness zu verringern. Schließlich seien auch Verbesserungsarbeiten im Gange, um die Kapazität der Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden zu erhöhen.

    88

    Um zu klären, ob das Vereinigte Königreich, wie die Kommission mit ihrer Rüge geltend macht, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 3, 4 und 10 sowie aus Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 verstoßen hat, ist ebenfalls die in Randnr. 73 des vorliegenden Urteils genannte Prüfung durchzuführen.

    89

    Die Kommission hat gestützt auf den in Randnr. 85 des vorliegenden Urteils erwähnten TTSS-Bericht, dem das Vereinigte Königreich nicht entgegengetreten ist und in dem darauf hingewiesen wird, dass die genannte Häufigkeit und der genannte Umfang der Einleitungen nicht nur im Fall außergewöhnlicher Ereignisse, sondern auch bei mäßigen Niederschlägen zu verzeichnen seien, eindeutig nachgewiesen, dass die Einleitungen von Abwasser in die Themse unter normalen Umständen erfolgt sind.

    90

    Hinsichtlich der technologischen Unmöglichkeit, die Zahl der Einleitungen von Abwasser in die Kanalisation von London zu verringern, und der Unangemessenheit der Kosten im Verhältnis zu dem Vorteil, den dies für die Umwelt hätte, ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich im April 2007 beschlossen hat, die im TTSS-Bericht vom November 2005 vorgeschlagenen Arbeiten durchzuführen, darunter u. a. den Bau eines neuen unterirdischen Tunnels. Es gibt also für das Problem der Kanalisation von London technologische Lösungen, und deren Kosten sind nicht als unverhältnismäßig anzusehen, da das Vereinigte Königreich bereits beschlossen hat, diese Lösungen zu verwirklichen.

    91

    Zum Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dass ihm keine Vertragsverletzung vorgeworfen werden könne, weil gleich nach Inkrafttreten der Richtlinie 91/271 Projekte, die die Einhaltung der Richtlinie gewährleisten sollten, untersucht worden seien, und dass die beschlossenen Arbeiten kostspielig seien und nur über einen Zeitraum von mehreren Jahren verwirklicht werden könnten, ist darauf hinzuweisen, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen ergänzenden Stellungnahme gesetzt wurde, und dass ein Mitgliedstaat die Abweisung der Klage nicht allein deshalb erreichen kann, weil Arbeiten und Tätigkeiten im Gange sind, die in der Zukunft dazu führen, dass die Vertragsverletzung beendet wird. Die Mitgliedstaaten sind nämlich verpflichtet, die ursprünglich festgesetzten Fristen einzuhalten, wenn der Unionsgesetzgeber eine Richtlinie nicht zur Verlängerung der Frist für ihre Umsetzung ändert (vgl. Urteil vom 8. Juli 2004, Kommission/Belgien, C-27/03, Randnr. 39).

    92

    Das Vereinigte Königreich musste also die für die Umsetzung der Richtlinie 91/271 in die nationale Rechtsordnung erforderlichen Verfahren so rechtzeitig einleiten, dass sie innerhalb der in Art. 3 Abs. 1 erster Gedankenstrich und Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich dieser Richtlinie festgelegten Frist, d. h. bis zum 31. Dezember 2000, abgeschlossen waren.

    93

    Die Kommission hat somit zu Recht festgestellt, dass die Einrichtung der Kanalisation von London (Beckton und Crossness) nicht die Voraussetzungen nach Art. 3 und Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 erfüllt und dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 91/271 verstoßen hat, dass das kommunale Abwasser aus dem Ballungsgebiet von London (Beckton, Crossness und Mogden) nicht einer Zweitbehandlung oder einer gleichwertigen Behandlung gemäß Art. 4 dieser Richtlinie unterzogen wird.

    94

    Nach alledem ist die dem Vereinigten Königreich von der Kommission vorgeworfene Vertragsverletzung für alle in der Klageschrift genannten Gemeinden erwiesen.

    95

    Demzufolge ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 91/271 verstoßen hat, dass es nicht dafür Sorge getragen hat, dass

    für das kommunale Abwasser der Gemeinden mit mehr als 15000 EW Sunderland (Whitburn) und London (Kanalisationen von Beckton und Crossness) eine angemessene Kanalisation nach Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 vorhanden ist und

    das kommunale Abwasser in der Gemeinde mit mehr als 15000 EW London (Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden) einer geeigneten Behandlung nach Art. 4 Abs. 1 und 3, Art. 10 sowie Anhang I Abschnitt B der Richtlinie 91/271 unterzogen wird.

    Kosten

    96

    Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

     

    1.

    Das Vereinigte Königreich hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser verstoßen, dass es nicht dafür Sorge getragen hat, dass

    für das kommunale Abwasser der Gemeinden mit mehr als 15000 Einwohnerwerten Sunderland (Whitburn) und London (Kanalisationen von Beckton und Crossness) eine angemessene Kanalisation nach Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie Anhang I Abschnitt A der Richtlinie 91/271 vorhanden ist und

    das kommunale Abwasser in der Gemeinde mit mehr als 15000 Einwohnerwerten London (Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden) einer geeigneten Behandlung nach Art. 4 Abs. 1 und 3, Art. 10 sowie Anhang I Abschnitt B der Richtlinie 91/271 unterzogen wird.

     

    2.

    Das Vereinigte Königreich trägt die Kosten.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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