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Dokument 62011CC0364
Opinion of Advocate General Sharpston delivered on 13 September 2012. # Mostafa Abed El Karem El Kott and Others v Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal. # Reference for a preliminary ruling: Fővárosi Bíróság - Hungary. # Directive 2004/83/EC - Minimum standards for determining who qualifies for refugee status or subsidiary protection status - Stateless persons of Palestinian origin who have in fact availed themselves of assistance from the United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) - The right of those stateless persons to recognition as refugees on the basis of the second sentence of Article 12(1)(a) of Directive 2004/83 - Conditions under which applicable - Cessation of UNRWA assistance ‘for any reason’ - Evidence - Consequences for the persons concerned seeking refugee status - Persons ‘ipso facto … entitled to the benefits of [the] Directive’ - Automatic recognition as a ‘refugee’ within the meaning of Article 2(c) of Directive 2004/83 and the granting of refugee status in accordance with Article 13 thereof. # Case C-364/11.
Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 13. September 2012.
Mostafa Abed El Karem El Kott und andere gegen Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Fővárosi Bíróság - Ungarn.
Richtlinie 2004/83/EG - Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus - Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) tatsächlich in Anspruch genommen haben - Anspruch dieser Staatenlosen auf Anerkennung als Flüchtling aufgrund von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 - Tatbestandsmerkmale - Wegfall dieses Beistands durch das UNRWA ‚aus irgendeinem Grund‘ - Nachweis - Folgen für die Betroffenen, die die Anerkennung als Flüchtling beantragen - Recht, ‚ipso facto den Schutz dieser Richtlinie [zu genießen]‘ - Anerkennung als ‚Flüchtling‘ im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß deren Art. 13 von Rechts wegen.
Rechtssache C-364/11.
Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 13. September 2012.
Mostafa Abed El Karem El Kott und andere gegen Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Fővárosi Bíróság - Ungarn.
Richtlinie 2004/83/EG - Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus - Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) tatsächlich in Anspruch genommen haben - Anspruch dieser Staatenlosen auf Anerkennung als Flüchtling aufgrund von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 - Tatbestandsmerkmale - Wegfall dieses Beistands durch das UNRWA ‚aus irgendeinem Grund‘ - Nachweis - Folgen für die Betroffenen, die die Anerkennung als Flüchtling beantragen - Recht, ‚ipso facto den Schutz dieser Richtlinie [zu genießen]‘ - Anerkennung als ‚Flüchtling‘ im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß deren Art. 13 von Rechts wegen.
Rechtssache C-364/11.
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2012:569
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 13. September 2012 ( 1 )
Rechtssache C-364/11
Mostafa Abed El Karem El Kott,
Chadi Amin A Radi,
Hazem Kamel Ismail
gegen
Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal,ENSZ Menekültügyi Főbiztosság (Streithelfer)
(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Bíróság [Ungarn])
„Richtlinie 2004/83/EG — Voraussetzungen, die Drittstaatsangehörige oder Staatenlose für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen müssen — Staatenlose palästinensischer Herkunft, die den Beistand der UNRWA in Anspruch genommen haben — Bedeutung der Wendungen ‚[w]ird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt‘ und ‚genießt … den Schutz dieser Richtlinie‘“
1. |
Der Gerichtshof wird erneut um Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG ( 2 ) (der Art. 1 Abschnitt D des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 3 ) in EU-Recht umsetzt) ersucht, und zwar hinsichtlich der Bedeutung des „Schutz[es] dieser Richtlinie“, den palästinensische Flüchtlinge genießen, denen Schutz oder Beistand der UNRWA ( 4 ) gewährt worden ist, wenn „ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt [wird]“. |
2. |
Fragen zur Auslegung beider Formulierungen wurden erstmals – fast wortgleich – in der Rechtssache Bolbol gestellt ( 5 ). In jener Rechtssache hatte die Klägerin jedoch keinen Schutz oder Beistand der UNRWA genossen, bevor sie den Gaza-Streifen verließ, um in Ungarn Asyl zu beantragen (ihr Antrag gründete sich auf den Anspruch auf Schutz oder Beistand). Der Gerichtshof sah somit keine Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, unter welchen Voraussetzungen davon auszugehen ist, dass Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, oder – wenn dem so ist – welcher Natur der Schutz der Richtlinie ist, auf den dann ein Anspruch entsteht. |
3. |
In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bolbol habe ich diese Fragen allerdings behandelt. Der einschlägige historische und rechtliche Hintergrund ist weitgehend in jenen Schlussanträgen und im Urteil in jener Rechtssache dargestellt worden; ich möchte hier nur die wichtigsten Bestimmungen wiederholen. Ich verweise ferner auf die von mir in der Rechtssache Bolbol vorgenommene Würdigung der beiden dem Gerichtshof erneut vorgelegten Fragen. Auch diese Würdigung möchte ich nur insoweit wiederholen, wie dies notwendig erscheint. |
Schlüsselbestimmungen
4. |
Nach Art. 1 Abschnitt A Abs. 2 Unterabs. 1 des Abkommens bezeichnet der Ausdruck „Flüchtling“ jede Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“. |
5. |
Art. 1 Abschnitt D des Abkommens lautet: „Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zur Zeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge[ ( 6 ) ] genießen. Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Person endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens.“ |
6. |
Ich möchte darauf hinweisen, dass in der französischen Fassung, der anderen maßgebenden Sprachfassung des Abkommens, der letzte Halbsatz von Unterabs. 2 lautet: „ces personnes bénéficieront de plein droit du régime de cette Convention“ („gelangen diese Personen von Rechts wegen in den Genuss der Regelungen dieses Abkommens“). |
7. |
Übereinstimmend mit dem Abkommen definiert Art. 2 Buchst. c der Richtlinie als „‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“. |
8. |
Art. 12 Abs. 1 in Kapitel III („Anerkennung als Flüchtling“) der Richtlinie entspricht Art. 1 Abschnitt D des Abkommens. Er lautet: „Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er
…“ |
9. |
Hilfreich erscheint auch ein Hinweis auf die folgenden Bestimmungen, die zeigen, in welchem Zusammenhang die Regelung des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a steht. |
10. |
Nach Art. 13 in Kapitel IV („Flüchtlingseigenschaft“) der Richtlinie ist einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) und III („Anerkennung als Flüchtling“) erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Hinsichtlich der Prüfung verlangt Art. 4, dass Anträge individuell unter Berücksichtigung einer großen Bandbreite maßgeblicher Tatsachen zu prüfen sind, für die der Antragsteller Nachweise vorzulegen hat. |
11. |
Kapitel V regelt die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz und Kapitel VI den subsidiären Schutzstatus. Art. 18 sieht vor, dass dieser Status einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuzuerkennen ist, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt. Die Definition einer Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz in Art. 2 Buchst. e ähnelt der des Flüchtlings, unterscheidet sich hiervon jedoch insofern wesentlich, als das Merkmal der begründeten Furcht vor Verfolgung (als Angehöriger einer Gruppe) durch dasjenige der tatsächlichen Gefahr, (als Einzelner) einen ernsthaften Schaden zu erleiden, ersetzt wird. |
12. |
Kapitel VII der Richtlinie (Art. 20 bis 34) legt den Inhalt des internationalen Schutzes (sowohl für den Flüchtlings- als auch den subsidiären Schutzstatus) fest, ohne die im Abkommen verankerten Rechte zu berühren (Art. 20 Abs. 1 und 2). Art. 21 Abs. 1 verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Im Allgemeinen ist der Inhalt des Schutzes bei Flüchtlings- und subsidiärem Schutzstatus der gleiche. Die wesentlichen Unterschiede betreffen die Ausstellung von Aufenthaltstiteln und Reisedokumenten, bei der die Flüchtlingseigenschaft eher weiter gehende Rechte verleiht ( 8 ). |
Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen
13. |
Das Ausgangsverfahren betrifft drei staatenlose Personen palästinensischer Herkunft, die nach Ungarn gelangten, wo sie um Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ersuchten, nachdem sie aus dem Libanon geflohen waren, wo sie in Flüchtlingslagern gelebt hatten, in denen die UNRWA Beistand wie etwa Bildung, medizinische Versorgung, Hilfs- und Sozialleistungen gewährte. |
14. |
Dem Vorlagebeschluss zufolge lebte Mostafa Abed El Karem El Kott in dem Lager Ein el-Hilweh. Er arbeitete außerhalb des Lagers, da er aber so wenig verdiente, dass er seine Familie nicht unterhalten konnte, begann er, im Lager Alkohol zu verkaufen. Militante Angehörige der Gruppe Jund el-Sham setzten daraufhin sein Haus in Brand und bedrohten ihn. Er verließ das Lager und floh aus dem Libanon, wo er sicher damit rechnete, gefunden zu werden. In Ungarn erkannte ihm das Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal (Amt für Zuwanderung und Staatsbürgerschaft, im Folgenden: BAH) die Flüchtlingseigenschaft nicht zu, verfügte aber zu seinen Gunsten eine Nichtzurückweisung, die seine Abschiebung verhindert. |
15. |
Chadi Amin A Radi verlor sein Heim im Lager Nahr el Bared, als dieses bei Auseinandersetzungen zwischen der libanesischen Armee und der islamischen Gruppe Fatah zerstört wurde. Auch seine Familie verlor ihr Heim und Geschäft. Da im nahe gelegenen Lager Baddawi kein Platz war, hielt er sich gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern bei einem Bekannten in Tripoli auf. Sie wurden jedoch von libanesischen Soldaten beleidigt, misshandelt, willkürlich festgenommen, gefoltert und erniedrigt. In Anbetracht der Tatsache, dass sie als Palästinenser rechtlos waren, verließ Herr A Radi den Libanon gemeinsam mit seinem Vater. Das BAH erkannte auch ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zu, verfügte jedoch zu seinen Gunsten eine Nichtzurückweisung. |
16. |
Hazem Kamel Ismail lebte mit seiner Familie im Lager Ein el-Hilweh. Bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Jund el-Sham wollten Extremisten sein Hausdach benutzen. Als er dies ablehnte, wurde er bedroht und verdächtigt, ein feindlicher Agent zu sein. Da er keine Organisation zu seinem Schutz mobilisieren konnte, ging er mit seiner Familie nach Beirut. Da sie sich dort nicht sicher fühlten, flohen sie nach Ungarn. Er legte eine Bescheinigung des palästinensischen Volkskomitees vor, aus der hervorgeht, dass sie das Lager Ein el-Hilweh aus Sicherheitsgründen und wegen Drohungen radikaler Islamisten verlassen mussten, sowie Fotos ihres durch Vandalismus beschädigten Hauses. Das BAH erkannte Herrn Kamel Ismail die Flüchtlingseigenschaft nicht zu, gewährte der Familie jedoch subsidiären Schutz. |
17. |
In der mündlichen Verhandlung wurde bestätigt, dass das BAH Herrn Abed El Karem El Kott, Herrn A Radi und Herrn Kamel Ismail bei der Bearbeitung ihrer Anträge als gewöhnliche Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft behandelte, ihre Anträge nach der Richtlinie 2005/85 ( 9 ) prüfte und zu der Ansicht gelangte, dass sie die Voraussetzungen nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 nicht erfüllten. Aus Sicht des BAH werden die Kläger zwar vom persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst, haben jedoch nicht allein aufgrund der Tatsache, dass sie zuvor Beistand der UNRWA genossen haben, ihnen dieser jedoch nicht länger gewährt wird, einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. |
18. |
Alle drei haben gegen die Weigerung des BAH, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, Klage zum Fővárosi Bíróság (Hauptstädtisches Gericht Budapest) erhoben. Das ENSZ Menekültügyi Főbiztosság (Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, im Folgenden: UNHCR) hat sich am Ausgangsverfahren als Streithelfer beteiligt. |
19. |
Das Fővárosi Bíróság ersucht um Beantwortung folgender Fragen: Für die Zwecke der Anwendung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG:
|
20. |
Die erste Frage ist wortgleich mit der vom selben Gericht in der Rechtssache Bolbol gestellten dritten Frage; die zweite Frage ist im Wesentlichen identisch mit der in jener Rechtssache gestellten zweiten Frage. |
21. |
Herr Kamel Ismail, das UNHCR, die belgische, die deutsche, die französische, die ungarische und die rumänische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und waren alle in der mündlichen Verhandlung vom 15. Mai 2012 vertreten. Schriftliche Erklärungen für Herrn Abed el Karem el Kott und Herrn A Radi sind 18 Tage nach Ablauf der Zweimonatsfrist nach Art. 23 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingegangen. Diese sind daher zurückgesandt worden. Ihr Rechtsanwalt hat auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung nicht reagiert. |
Würdigung
Einleitung
22. |
In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bolbol habe ich zur Beantwortung der in Rede stehenden Vorlagefragen zunächst den Blick auf die Auslegung des Abkommens gerichtet und sodann die Ergebnisse dieser Auslegung auf die Richtlinie übertragen ( 10 ). |
23. |
Ich habe dem Abkommen zunächst einige richtungsweisende Grundsätze entnommen, in Kürze:
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24. |
Ausgehend von diesen Grundsätzen bin ich dann zu folgenden Schlussfolgerungen gelangt:
Die Frage, ob er dann unter die Bestimmungen des Abkommens fällt, hängt davon ab, aus welchem Grund er diesen Beistand nicht mehr erlangen kann: – Ist dies aus außerhalb seines Einflussbereichs liegenden Gründen der Fall, hat er automatisch Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling (besondere Behandlung und Rücksichtnahme);
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25. |
Diese Schlussfolgerungen auf die Auslegung der Richtlinie übertragend bin ich in Bezug auf die zweite und die dritte Vorlagefrage zu der Auffassung gelangt, dass
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26. |
Aufgrund des Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache liegt dem Gerichtshof eine größere Zahl von Stellungnahmen vor, die diejenigen weiterentwickeln, die in der Rechtssache Bolbol vorgetragen wurden und die das Urteil in jener Sache einbeziehen. Nach eingehender Auseinandersetzung mit den neuen Stellungnahmen weichen meine Ergebnisse nicht grundlegend von denen in der Rechtssache Bolbol ab. Ich möchte den Gerichtshof daher auf meine detaillierte Prüfung in jener Rechtssache verweisen. In einem Punkt hat sich meine Ansicht allerdings in gewissem Umfang geändert ( 14 ), wobei dieser Punkt sich nicht unmittelbar auf die Antworten auswirkt, die auf die Vorlagefragen zu geben sind. |
27. |
Bevor auf diese Antworten zurückzukommen sein wird, ist es meines Erachtens hilfreich, sich diesem Punkt noch im Rahmen dieses einleitenden Abschnitts zuzuwenden und einige andere Erwägungen anzustellen, deren Bedeutung im vorliegenden Verfahren stärker zutage getreten ist und die den Zusammenhang erhellen könnten, in dem meine Ansichten betrachtet werden sollten. Beschäftigen möchte ich mich dementsprechend mit i) den Rechtsvorschriften, die der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie berücksichtigen sollte, ii) der Annahme, dass diese Bestimmung eine gesonderte Flüchtlingskategorie definieren könnte, die der in Art. 2 Buchst. c definierten Kategorie vergleichbar ist, iii) den typischen Situationen, in denen eine Person sich im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a befinden kann, iv) der persönlichen und zeitlichen Reichweite des Ausschlusses von der Anerkennung als Flüchtling, den diese Bestimmung vorsieht (dies ist der Punkt, zu dem ich meine Ansicht geändert habe), und v) der Wechselbeziehung zwischen diesen Fragen. Ich werde anschließend kurz die Bandbreite der auf diese Fragen vorgeschlagenen Antworten skizzieren, bevor ich mich dann wieder den Fragen selbst zuwenden werde. |
Maßgebende Rechtsvorschriften
28. |
Der Gerichtshof wird um Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie ersucht, insbesondere der Wendungen „genießt … ipso facto den Schutz dieser Richtlinie“ und „[w]ird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“. Diese Bestimmung liegt in 22 gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen vor, die, leider, keine Wort für Wort entsprechenden Formulierungen insbesondere der ersten Wendung enthalten. |
29. |
Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung herangezogen oder ihr Vorrang vor anderen Sprachfassungen eingeräumt werden. Die verschiedenen Fassungen müssen vielmehr einheitlich ausgelegt werden; falls sie voneinander abweichen, muss die Vorschrift anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört ( 15 ). |
30. |
Im vorliegenden Fall bezieht sich Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie auf Art. 1 Abschnitt D (Unterabs. 1) des Abkommens, während Satz 2 weitgehend dessen zweiten Unterabsatz wiedergibt. Aus dem Abkommen ergibt sich der Zusammenhang – und somit ein Anhaltspunkt zur Bestimmung des Zwecks und der allgemeinen Systematik – der Richtlinie, die in vielen Fällen auf das Abkommen Bezug nimmt. Dieses liegt in nur zwei gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen vor, in Englisch und in Französisch. Jedoch – es sei wiederholt – entsprechen sich die beiden Fassungen von Art. 1 Abschnitt D nicht Wort für Wort ( 16 ). |
31. |
Die Kommission hat mitgeteilt, dass dort, wo die Richtlinie Bestimmungen des Abkommens wiedergeben soll, ihrem Wortlaut die englische Fassung des Abkommens zugrunde gelegt werden sollte ( 17 ). |
32. |
Meines Erachtens muss der Gerichtshof daher, da er um die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie ersucht wird, bei dieser Auslegung auf Art. 1 Abschnitt D des Abkommens Bezug nehmen. Hierbei sollte er in erster Linie die englische Fassung dieser Bestimmung berücksichtigen, die als Grundlage für die entsprechende Bestimmung der Richtlinie diente. Da jedoch die englische und die französische Fassung des Abkommens gleichermaßen verbindlich sind, muss gewährleistet werden, dass die Auslegung auch mit der französischen Fassung von Art. 1 Abschnitt D im Einklang steht. |
Kategorien von Flüchtlingen
33. |
Das UNHCR hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass Art. 1 des Abkommens tatsächlich drei Kategorien von Personen vorsehe, denen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Nach Art. 1 Abschnitt A hätten Flüchtlinge, die zuvor nach verschiedenen Regelungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anerkannt gewesen seien („historische Flüchtlinge“), und jene, die das Merkmal der „begründeten Furcht vor Verfolgung“ erfüllten, Anspruch auf unmittelbare Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die dritte Kategorie, namentlich palästinensische Flüchtlinge, die den Beistand der UNRWA genössen, ergebe sich aus Art. 1 Abschnitt D. Ihr Anspruch auf Zuerkennung dieses Status sei zwar tatsächlich gegeben, jedoch bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses aufgeschoben. Daher sei auch Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie dahin auszulegen, dass er eine Kategorie von Personen definiere, die Anspruch auf eine aufgeschobene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätten. |
34. |
Um dieses Vorbringen zu bewerten, ist der Aufbau von Art. 1 des Abkommens als Ganzes zu betrachten und im Blick zu behalten, dass Unterabs. 2 von Art. 1 Abschnitt D eine spätere Änderung mit dem Ziel war, die Reichweite von Unterabs. 1 zu klären ( 18 ). Dem Inhalt von Art. 1 des Abkommens entsprechen, soweit dieser für Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in den Mitgliedstaaten der EU noch Bedeutung hat, die Art. 2 Buchst. c, 11 und 12 der Richtlinie. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass die Neufassung in irgendeiner Form den systematischen Aufbau ändern sollte, den Art. 1 des Abkommens aufweist. |
35. |
Art. 1 Abschnitt A sieht in der Tat zwei Kategorien von Flüchtlingen vor: historische Flüchtlinge und solche, die das Merkmal der „begründeten Furcht vor Verfolgung“ erfüllen ( 19 ). (Art. 1 Abschnitt B, der heute überall nur noch marginale Bedeutung und in der EU überhaupt keine Bedeutung mehr hat, regelt bestimmte Einzelheiten der Definition der zweiten Kategorie.) Art. 1 Abschnitt C führt sodann eine Reihe von Fällen auf, in denen das Abkommen auf Personen, die unter Art. 1 Abschnitt A fallen, keine Anwendung mehr findet ( 20 ). Die letzten drei Abschnitte – Art. 1 Abschnitte D, E und F ( 21 ) – definieren Kategorien von Personen, auf die das Abkommen „keine Anwendung [findet]“. Die Art. 2 bis 34 des Abkommens ( 22 ) definieren Status, Rechte und Pflichten von Flüchtlingen. |
36. |
Der Aufbau ist kohärent und klar. Es gibt Flüchtlinge, die in Art. 1 Abschnitt A definiert sind, auf die das Abkommen (insbesondere die Art. 2 bis 34) Anwendung findet; es gibt solche, auf die es aufgrund geänderter Umstände keine Anwendung mehr findet (Art. 1 Abschnitt C); und es gibt solche, auf die es aufgrund zuvor gegebener Umstände keine Anwendung findet. Unter Letzteren gibt es drei Kategorien: Für zwei (Art. 1 Abschnitte D und E) besteht ein Ausschluss aufgrund ihrer gegenwärtigen Umstände (Genuss von Schutz oder Beistand bzw. Zuerkennung eines Status, der dem eines Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaats entspricht), und für die dritte (Art. 1 Abschnitt F) besteht ein Ausschluss aufgrund in der Vergangenheit liegender Umstände (Begehung bestimmter Straftaten). |
37. |
Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass eine Bestimmung, die wie Art. 1 Abschnitt D mit den Worten „Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf …“ beginnt, tatsächlich eine Kategorie von Personen definiert, auf die das Abkommen Anwendung finden soll. Art. 1 Abschnitt D Unterabs. 2 soll eindeutig die Umstände klären, unter denen der Ausschluss aufgrund des Genusses von Schutz oder Beistand endet, sowie den Status der Personen klären, für die dieser beendet ist. |
38. |
Ich teile daher nicht die Ansicht, dass Art. 1 Abschnitt D des Abkommens – oder somit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie, der mit den Worten beginnt „Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er …“ – eine Kategorie von Flüchtlingen definiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Unterabs. 2 nicht einen späteren Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für solche Personen begründen kann, auf die er Anwendung findet. |
Mögliche Wirkungen von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie
39. |
Für die Prüfung der Vorlagefragen ist es hilfreich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, in welchen unterschiedlichen Situationen sich eine Person im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie befinden kann und was diese Situationen für die betroffene Person bedeuten können. Meines Erachtens gibt es drei mögliche Situationen. |
40. |
Erstens kann, da Art. 12 Abs. 1 mit den Worten beginnt „Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er …“, eine mögliche Situation einer Person im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzung darin bestehen, dass sie „von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen“ ist. |
41. |
Ist eine Person im Sinne der Richtlinie „von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen“, kann sie sich nicht auf diese Regelung berufen, um einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling und auf Zuerkennung der sich aus einer solchen Anerkennung ergebenden Rechtsstellung geltend zu machen. Ein von dieser Person gestellter Antrag ist als unzulässig anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob sie unter die Definition nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie fällt oder nicht. |
42. |
Ich möchte jedoch betonen, dass dieser Ausschluss sich nur auf das Recht des Einzelnen erstreckt, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem EU-Recht geltend zu machen, nicht aber das Recht des Staates berührt, diesen Status zuzuerkennen. Art. 3 der Richtlinie gestattet den Mitgliedstaaten insbesondere, „günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling … gilt …, [zu] erlassen oder bei[zu]behalten“. Das EU-Recht hindert einen Mitgliedstaat keineswegs daran, einem Einzelnen, unter gleich welchen Umständen, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. |
43. |
Es ist ebenso zu beachten, dass die Richtlinie nicht nur die Flüchtlingseigenschaft in den Mitgliedstaaten regelt, sondern auch den subsidiären Schutz für Personen, bei denen eine tatsächliche Gefahr besteht, ernsthaften Schaden zu erleiden. Als solcher Schaden ist nach Art. 15 Buchst. c auch „eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ anzusehen – eine Definition, die gegenwärtig von besonderer Bedeutung für palästinensische Flüchtlinge in Syrien sein könnte. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bezieht sich nur auf die Flüchtlingseigenschaft. Er schließt niemanden von subsidiärem Schutz aus; auch die Bestimmungen, die den Ausschluss von subsidiärem Schutz vorsehen (in Art. 17 der Richtlinie), beziehen sich in keiner Weise auf den Genuss von Schutz oder Beistand einer Einrichtung oder Institution der Vereinten Nationen. Daher bleiben Ansprüche auf subsidiären Schutz oder dessen Gewährung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a völlig unberührt. |
44. |
Schließlich sind die Mitgliedstaaten ungeachtet eines Ausschlusses von der Flüchtlingseigenschaft gehalten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten (Art. 21 der Richtlinie). |
45. |
Eine zweite mögliche Situation ist selbstverständlich die, dass eine Person nicht nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie „von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen“ ist, weil sie im Sinne von Art. 1 Abschnitt D des Abkommens nicht „zur Zeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge … genieß[t]“. |
46. |
Ist dies der Fall – und nur dann –, hat die betreffende Person eindeutig keinen unmittelbaren und automatischen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, sondern lediglich einen Anspruch darauf, dass ihr auf Zuerkennung dieser Eigenschaft gerichteter Antrag im ordnungsgemäßen Verfahren geprüft wird ( 23 ): Dieser ist nicht mehr unzulässig. Sie hat nur dann einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn im Rahmen dieses Verfahrens der Nachweis erbracht werden kann, dass sie unter die Definition des Flüchtlings nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie fällt. Dies war bei der Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache Bolbol, die den Beistand der UNRWA zu keinem Zeitpunkt in Anspruch genommen hatte, der Fall. |
47. |
Gäbe es Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie (und Art. 1 Abschnitt D Unterabs. 2 des Abkommens) nicht, erschiene die Annahme logisch, dass eine Person, der ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, sich in der gleichen Lage befände. |
48. |
Diese Bestimmung trifft jedoch für den Wegfall des Schutzes oder Beistands eine besondere Regelung: „Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie.“ |
49. |
Die Worte „genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie [fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens]“ (oder in der französischen Fassung: „bénéficieront de plein droit du regime de cette Convention“) könnten eine dritte Möglichkeit nahelegen, nämlich dass eine Person, der der Beistand der UNRWA „aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt [wird]“, unabhängig davon, ob sie die Definition nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie erfüllt oder nicht, als Flüchtling anzuerkennen ist. Insbesondere diese Möglichkeit ist Gegenstand der ersten Frage des nationalen Gerichts. |
Persönliche und zeitliche Reichweite des Ausschlusses von der Anerkennung als Flüchtling
50. |
Nach dem Urteil Bolbol ist eine Person eindeutig nicht durch Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie „von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen“, wenn sie den Beistand der UNRWA nicht in Anspruch genommen hat. Ebenso eindeutig ist nach Satz 2 dieser Bestimmung, dass – unabhängig von möglicherweise entstehenden weiteren Ansprüchen – eine Person nicht von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn „ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt [wird], ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist“. Hingegen sind Personen, die „den Beistand [der UNRWA] genießen“, ausgeschlossen. |
51. |
Mindestens zwei Mitgliedstaaten – Frankreich und das Vereinigte Königreich – vertreten die Ansicht (die implizit auch meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bolbol zugrunde lag), dass der Ausschluss daher nur so lange gelte, wie die betreffende Person sich physisch im Tätigkeitsgebiet der UNRWA (nämlich dem Libanon, Syrien, Jordanien, der West Bank und dem Gaza-Streifen) aufhalte. Sobald die Person dieses Gebiet verlasse, könne sie nicht mehr „zur Zeit“ den Beistand der UNRWA „genießen“ und daher nicht weiter von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen sein. Die Schlussfolgerung, zu der ich in der Frage der konkreten Lage einer solchen Person gelangt bin, unterschied – anders als die des Vereinigten Königreichs – zwischen den Wirkungen eines freiwilligen und denen eines unfreiwilligen Verlassens, aber in der Frage, wann der Ausschluss endet, war ich der gleichen Ansicht. |
52. |
Meines Erachtens ist diese Ansicht, insbesondere im Hinblick auf die Systematik der Richtlinie, nicht länger haltbar. Ein Ersuchen um Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem EU-Mitgliedstaat setzt physische Anwesenheit in diesem Staat und somit physische Abwesenheit vom UNRWA-Gebiet voraus. Wenn folglich die bloße Abwesenheit vom UNRWA-Gebiet ausreichen würde, um den in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie geregelten Ausschluss zu beenden, könnte niemand, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Richtlinie beantragt, je ausgeschlossen sein, und der Ausschluss wäre bedeutungslos ( 24 ). |
53. |
Da somit davon ausgegangen werden muss, dass dem Ausschluss eine tatsächliche Wirkung zukommt, kann er nicht mit dem bloßen Verlassen des UNRWA-Tätigkeitsgebiets – ungeachtet der Gründe hierfür – enden. Es muss ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal geben. Ein solches liegt eindeutig vor, wenn der Beistand im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 nicht länger gewährt wird. Zu klären bleibt jedoch, ob der dort genannte „Schutz“ der Richtlinie auf den Wegfall des Ausschlusses beschränkt ist oder mit der tatsächlichen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einhergeht, und außerdem wäre zu prüfen, ob andere Ereignisse den Ausschluss beenden können ( 25 ). |
54. |
Nach diesen Vorüberlegungen wende ich mich nun den Vorlagefragen im Einzelnen zu. |
Vorlagefragen
Wechselbeziehung zwischen den Fragen
55. |
Die beiden gestellten Fragen stehen in einer Wechselbeziehung zueinander und beziehen sich ferner auf die beiden voneinander unabhängigen Halbsätze eines einzelnen Satzes. Die erste fragt nach der Bedeutung des Schutzes der Richtlinie, die zweite nach dem Ereignis, das den Anspruch auf diesen Schutz auslöst. Die auf die erste Frage vorgeschlagenen Antworten reichen von einer Berechtigung lediglich auf Stellung eines Antrags auf Zuerkennung des Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus bis hin zu einem Anspruch auf unmittelbare und automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit allen hiermit verbundenen Vergünstigungen. Die auf die zweite Frage vorgeschlagenen Antworten reichen von jedem Ereignis gleich welchen Ursprungs, aufgrund dessen die betreffende Person sich nicht mehr im UNRWA-Gebiet aufhält, bis hin dazu, dass – einzig und allein – die Beendigung des Bestehens der UNRWA oder zumindest ein Ereignis eintritt, das ihr die Leistung von Beistand unmöglich macht. Erwähnenswert ist, dass mehrere der Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, eine Tendenz erkennen lassen, eine „großzügigere“ Antwort auf die eine Frage durch eine „weniger großzügige“ Antwort auf die andere auszugleichen. Dies legt nahe, dass sie zumindest davon ausgehen, dass sich die Antworten gegenseitig beeinflussen. |
Zusammenfassung der vorgeschlagenen Antworten
56. |
Stark verallgemeinert, haben diejenigen, die Erklärungen eingereicht haben, fünf Ergebnisvorschläge vorgetragen:
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57. |
Eine weitere Variante schlägt das nationale Gericht selbst vor: Der Anspruch auf den Schutz der Richtlinie könnte – je nach Wahl des betreffenden Mitgliedstaats – die automatische Zuerkennung entweder des Flüchtlings- oder des subsidiären Schutzstatus bedeuten. |
Frage 1 – Schutz der Richtlinie
58. |
Aus meinen Vorüberlegungen ergibt sich, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a den subsidiären Schutz in keiner Weise berührt ( 26 ). Die vorgeschlagenen Antworten auf die Frage nach dem „Schutz dieser Richtlinie“, den die betreffenden Personen „ipso facto [genießen]“, können daher eingegrenzt werden auf
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59. |
Ich halte an meiner in den Nrn. 85 bis 89 und 103 bis 109 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Bolbol dargelegten Ansicht fest, dass der fragliche Anspruch auf die mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen materiell-rechtlichen Schutzrechte gerichtet ist, die nur in Anspruch genommen werden können, wenn dieser Status zuerkannt wird. Somit haben Personen, auf die Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie Anwendung findet, Anspruch auf tatsächliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unabhängig davon, ob sie die Definition nach Art. 2 Buchst. c in der Weise erfüllen, wie es bei anderen Antragstellern verlangt wird. Meine bereits ausgeführten Erwägungen möchte ich um die folgenden ergänzen. |
60. |
Erstens verwendet Art. 1 Abschnitt D des Abkommens die Wendungen „ipso facto“ in der englischen und „de plein droit“ in der französischen Fassung ( 27 ). Die offenkundig bewusste Verwendung dieser Formulierungen kann nicht als bedeutungslos angesehen werden. Bei allen möglichen Nuancen, die man ihrer Bedeutung beimessen mag, stellen diese Ausdrücke doch klar, dass der Wegfall des Schutzes oder Beistands für sich allein, und ohne dass es hierfür der Erfüllung weiterer Voraussetzungen bedürfte, den fraglichen Anspruch begründet. Da das Stellen eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht an die Erfüllung von Voraussetzungen gebunden ist (selbst bei Fehlen jeder Erfolgsaussicht darf ein Antrag gestellt werden, der abgelehnt wird, es sei denn, der Antragsteller erfüllt die Definition des Flüchtlings und ist nicht nach einer anderen Bestimmung ausgeschlossen), muss der bei Wegfall des Beistands der UNRWA entstehende Anspruch über das bloße Recht, diesen Status zu beantragen, hinausgehen. Es muss etwas sein, wofür andernfalls bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen wären. |
61. |
Zweitens möchte ich auf den vollständigen Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie hinweisen: „Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie.“ Die Voraussetzung, die ich kursiv hervorgehoben habe, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Entfällt der Schutz oder Beistand, wenn die Lage derjenigen, die ihn zuvor genossen haben, endgültig in dieser Weise geklärt worden ist, können diese meines Erachtens einfach nicht länger von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen sein. In diesem Fall müssen sie die Möglichkeit haben, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu beantragen, sofern sie aus irgendeinem Grund die Definition nach Art. 2 Buchst. c erfüllen. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass dann, wenn ihre Lage nicht in dieser Weise geklärt worden ist (der Beistand jedoch aus gleich welchem Grund entfallen ist), ihre Rechtsstellung gegenüber der Richtlinie eine andere sein muss – ich wiederhole es, der „Schutz dieser Richtlinie“ muss in seiner Bedeutung weiter gehen, als lediglich nicht von der Möglichkeit ausgeschlossen zu sein, als Flüchtling anerkannt zu werden, falls Art. 2 Buchst. c erfüllt ist. |
62. |
Es ist jedoch, worauf die deutsche und die ungarische Regierung zu Recht hinweisen, nicht vorstellbar, dass allein die Tatsache des Wegfalls von Schutz oder Beistand automatisch zu einer völlig bedingungslosen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen sollte. Nicht nur Art. 12 Abs. 1 Buchst. a sieht einen Ausschluss von diesem Status vor. Von größter Bedeutung ist Art. 12 Abs. 2 und 3, der (ebenso wie Art. 1 Abschnitt F des Abkommens) Personen ausschließt, die bestimmte besonders schwere Straftaten begangen, dazu angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben. Zudem bedeutet nach Art. 11 oder gegebenenfalls nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. b eine Veränderung von Umständen, die, verallgemeinernd gesagt, die Bindung oder erneute Bindung einer Person an ein Land betreffen, in dem sie hinreichende und gesicherte Rechte genießt, dass sie den Schutz des Flüchtlings nicht oder nicht mehr in Anspruch nehmen kann ( 28 ). |
63. |
Fest steht auch, dass es – entgegen den Befürchtungen der rumänischen Regierung – niemals eine automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geben kann, d. h. eine Zuerkennung ohne irgendein Verfahren, in dem festgestellt wird, dass die maßgebenden Voraussetzungen erfüllt sind ( 29 ). |
64. |
Demnach können die Voraussetzungen, auf die allein aufgrund der Tatsache des Wegfalls des Beistands der UNRWA verzichtet wird, nur diejenigen sein, die für die Anerkennung als Flüchtling nach der Definition in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie gelten, und der Anspruch kann nur auf die Anerkennung als Flüchtling ohne das spezifische Erfordernis, die Erfüllung dieser Voraussetzungen nachzuweisen, gerichtet sein. Der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 genannte Schutz der Richtlinie ist daher derjenige, der aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt. |
65. |
Für die Zuerkennung dieses Status muss jedoch weiterhin die Voraussetzung gelten, dass die betreffende Person davon nicht durch eine andere Bestimmung der Richtlinie ausgeschlossen ist. Ferner wird ein Begünstigter nach dem Urteil in der Rechtssache Bolbol weiterhin nachweisen müssen, dass er tatsächlich den Beistand der UNRWA in Anspruch genommen hat und, gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie, dass dieser Beistand nicht länger gewährt wird. |
66. |
Hinzufügen möchte ich, dass der Verzicht auf das Erfordernis, die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie nachzuweisen, nicht so weitreichende Erleichterungen für die unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a fallenden Personen mit sich bringt, wie auf den ersten Blick zu vermuten sein könnte. Art. 2 Buchst. c und Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 überschneiden sich in gewissem Maße insoweit, als beide voraussetzen, dass der betreffende Einzelne keinen Schutz genießt. Die UNRWA wurde, worauf ich hingewiesen habe ( 30 ), ferner nicht eingerichtet, um palästinensischen Flüchtlingen „Schutz“ zu gewähren, und sie hat ihnen diesen auch nie gewährt. Sie ist nicht in der Lage, etwas anderes als „Beistand“ zu gewähren. Weiterhin lässt der Sachverhalt, den das nationale Gericht hinsichtlich der drei Kläger der bei ihm anhängigen Verfahren mitteilt, darauf schließen, dass die libanesischen Behörden wenig Schutz leisten, und es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass die syrischen Behörden derzeit in der Lage sind, Flüchtlinge in ihrem Hoheitsgebiet zu schützen. Kurz gesagt, könnten viele Personen, die unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 fallen, die Definition des „Flüchtlings“ nach Art. 2 Buchst. c zu einem wesentlichen Teil bereits dadurch erfüllen, dass sie den Schutz des Landes (dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen oder) ihres vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts nicht in Anspruch nehmen können. |
67. |
Diese Erwägungen bestätigen die von mir zur Antwort auf die erste Vorlagefrage in dieser Rechtssache bereits dargelegte Ansicht. Ich muss jedoch noch auf einen wesentlichen Einwand gegen diese Ansicht eingehen, der von mehreren Mitgliedstaaten vorgetragen worden ist. Diese führen an, dass es, wenn einer bestimmten Kategorie von Antragstellern der Erwerb der Flüchtlingseigenschaft gestattet werde, ohne die Erfüllung der Voraussetzungen der Definition in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie nachweisen zu müssen, dies jedoch von anderen verlangt werde, zu einer nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz verbotenen ungerechtfertigten Diskriminierung führe. |
68. |
Der in Art. 20 der Charta der Grundrechte verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt, dass gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist. |
69. |
Im vorliegenden Fall führt die von mir vorgeschlagene Auslegung dazu, dass zwei Kategorien von Personen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen – diejenigen, die den Beistand der UNRWA in Anspruch genommen haben, und diejenigen, die dies aus welchem Grund auch immer nicht getan haben – unter unterschiedlichen Voraussetzungen Anspruch auf Zuerkennung dieses (denselben Schutz der Richtlinie) begründenden Status haben. Die der ersten Gruppe Zugehörigen, eine Untergruppe der Personen, die Anspruch auf Beistand der UNRWA haben, müssen lediglich nachweisen, dass sie diesen Schutz oder Beistand in Anspruch genommen haben und dass dieser nicht länger gewährt wird. Die der zweiten Gruppe Zugehörigen, diese Gruppe umfasst den verbleibenden Teil der Personen mit Anspruch auf Beistand der UNRWA sowie alle anderen Antragsteller, müssen nachweisen, dass sie die Definition des Flüchtlings in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie erfüllen. |
70. |
Die Sachverhalte sind für die beiden Kategorien jedoch nicht gleich. |
71. |
Diejenigen, die nachweisen müssen, dass sie die Definition des Flüchtlings nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie erfüllen, haben zuvor ein relativ normales, von externem Beistand unabhängiges Leben geführt. Dann sind jedoch Umstände eingetreten, die zu ihrer Flucht aus dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, oder dem Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts geführt haben. Die eingetretenen Ereignisse mögen so furchtbar gewesen sein, dass sie sie in eine Lage brachten, die bei ihnen eine „[begründete] Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ auslöste. Wenn dies der Fall ist und wenn eine Person nicht dorthin zurückkehren „kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“, hat sie Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. |
72. |
Diejenigen, die zuvor den externen Beistand der UNRWA genossen haben, sind nicht in einer ähnlichen Lage. Von einem normalen Leben weit entfernt, erhielten sie die spezifische Unterstützung, die die internationale Gemeinschaft (fortlaufend) für erforderlich erachtete. Insoweit kümmerte man sich um sie. Sie befanden sich bereits in einer geschützten Lage. Dann tritt ein äußeres Ereignis ein, infolge dessen der ihnen gewährte Beistand der UNRWA ohne ihr eigenes Verschulden „nicht länger gewährt [wird]“. Es besteht jedoch kein besonderer Grund zu der Annahme, dass dieses Ereignis zwangsläufig und gleichzeitig eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ auslöst, so dass sie dem Wortlaut nach von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie erfasst würden. Gleichwohl können sie sich nicht länger auf den ihnen zuvor gewährten Beistand der UNRWA stützen (und nehmen somit nicht länger die materielle Unterstützung in Anspruch, die zuvor ihren vollständigen Ausschluss vom Geltungsbereich des Abkommens rechtfertigte). |
73. |
Da somit die fraglichen Sachverhalte nicht gleich sind, verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht, dass sie nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. |
74. |
Hiergegen könnte eingewandt werden, dass, soweit die beiden Kategorien unterschiedlichen Sachverhalten zuzuordnen sind, der „gewöhnliche“ Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sich häufig in einer schlechteren Lage befindet als der Palästinenser, dem plötzlich der Beistand der UNRWA nicht mehr gewährt wird. Warum also sollte Letzterem ein bevorzugter Zugang zu den mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Vergünstigungen gewährt werden? |
75. |
Ob ein Palästinenser, der plötzlich den Beistand der UNRWA nicht länger in Anspruch nehmen kann, mehr oder weniger bedürftig ist als eine andere Kategorie von potenziellen Flüchtlingen, ist eine mit Emotionen verbundene Frage. Ich neige dazu, abstrakt davon auszugehen, dass alle echten potenziellen Flüchtlinge gleichermaßen Mitgefühl und Unterstützung verdienen. Bestünde Art. 1 Abschnitt D des Abkommens nur aus dem ersten Satz, würde ich ohne große Schwierigkeiten zu der Ansicht gelangen, dass ein Palästinenser nach Wegfall des ihm gewährten Beistands der UNRWA wieder in den Geltungsbereich des Abkommens fallen und dann wie jede andere Person behandelt werden müsste, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt. Tatsache ist jedoch, dass Art. 1 Abschnitt D nicht einen, sondern zwei Sätze enthält. Nach meinem Verständnis des gesamten Wortlauts hat sich die internationale Gemeinschaft bewusst entschieden, vertriebenen Palästinensern eine besondere Behandlung zuteilwerden zu lassen – eine Behandlung, die in gewisser Hinsicht nachteilig (Art. 1 Abschnitt D Satz 1), in anderer aber mit Vorzügen verbunden ist (Art. 1 Abschnitt D Satz 2). Angesichts der Unterschiede zwischen den Sachverhalten, die ich vorstehend benannt habe, verstößt diese Entscheidung (die die Richtlinie getreu widerspiegelt) nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. |
Frage 2 – Wegfall des Schutzes oder Beistands
76. |
Aus meinen Vorüberlegungen ergibt sich, dass eine Person, die den Beistand der UNRWA in Anspruch genommen hat, nicht „den Schutz dieser Richtlinie [genießen kann]“ – tatsächlich bleibt sie grundsätzlich „von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen“ –, bis ihr dieser Beistand im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a „nicht länger gewährt [wird]“ ( 31 ). Die auf die Frage nach dem diesen Anspruch auslösenden Ereignis vorgeschlagenen Antworten können daher eingegrenzt werden auf
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77. |
In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bolbol (in den Nrn. 77 bis 84 und 100 bis 102) bin ich zu der Ansicht gelangt, dass die letztere Auslegung richtig ist, und ich bin weiterhin dieser Ansicht – wobei natürlich die erstere Auslegung von der letzteren mit umfasst ist, die jedes Ereignis einschließt, infolge dessen der UNRWA die Gewährung von Beistand unmöglich wird. |
78. |
Zur Begründung dieser Ansicht müssen meines Erachtens kaum weitere Argumente angeführt werden. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass diese am ehesten mit dem verwendeten Wortlaut im Einklang steht – der hier keine wesentlichen Unterschiede zwischen der englischen und der französischen Fassung aufweist. „Wird ein solcher Schutz oder Beistand … nicht länger gewährt“ impliziert, dass der Schutz oder Beistand wegfallen muss; dass der Einzelne sich dessen selbst begibt, ist nicht gemeint. Dieser Teil des Satzes für sich betrachtet könnte für die Ansicht sprechen, dass das Ereignis die UNRWA selbst betreffen muss. Die Wendung „aus irgendeinem Grund“ scheint die Bedeutung des ersten Teils des Satzes jedoch auf den weitestgehenden Sinn auszudehnen, der den Worten beigemessen werden kann. Doch darf dies nicht so weit gehen, dass auch individuelle, aus Gründen des persönlichen Beliebens getroffene Entscheidungen erfasst sind, da dies den Ausschluss jedes Inhalts berauben würde ( 32 ). Meines Erachtens kann die Wendung den Begriff des Wegfalls der Gewährung daher nur soweit ausdehnen, dass der Grund nicht die UNRWA selbst betreffen muss. |
79. |
Ich muss jedoch noch zwei Anmerkungen zu Personen machen, die aus eigenem Entschluss das Gebiet verlassen, außerhalb dessen sie den Beistand der UNRWA faktisch nicht erhalten können. |
80. |
Erstens kann, wie ich vorstehend ausgeführt habe, die bloße Tatsache des Verlassens des UNRWA-Gebiets an sich nicht dazu führen, dass der Ausschluss von der „Anerkennung als Flüchtling“ endet ( 33 ). In Verbindung mit meiner Schlussfolgerung, dass der Anspruch auf den Schutz der Richtlinie nur aufgrund eines Ereignisses entstehen kann, das außerhalb des Einflussbereichs dessen liegt, dem die UNRWA Beistand leistet, oder von seinem Willen unabhängig ist, und infolge dessen ihm dieser Beistand nicht länger gewährt werden kann, könnte dies dahin verstanden werden, dass jeder, der einmal den Beistand der UNRWA in Anspruch genommen hat, nie mehr die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat aufgrund entweder von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie oder von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 beantragen könnte. |
81. |
Diese Folge sollte nuanciert werden. Der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling aufgrund der Tatsache, dass Beistand der UNRWA in Anspruch genommen wurde, kann sich meiner Ansicht nach logisch nur auf den Ausschluss der Möglichkeit erstrecken, dass ein Palästinenser, der Anspruch auf diesen Beistand hat, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stellt. Es besteht kein Grund, einen solchen Ausschluss auf Lebenszeit fortdauern zu lassen, falls andere Gründe entstehen sollten, aufgrund deren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt werden könnte – beispielsweise, wenn ein palästinensischer Flüchtling freiwillig in ein Land außerhalb des UNRWA-Gebiets zieht, vielleicht die Staatsangehörigkeit dieses Landes erwirbt und dann mit Umständen konfrontiert wird, aufgrund deren er die Definition nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie erfüllt. Insoweit bestimmt Art. 5 der Richtlinie, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat, oder gegebenenfalls auch auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslands – jedenfalls sofern die Aktivitäten, auf die er sich stützt, Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind und die Verfolgungsgefahr nicht auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen dieses Landes selbst geschaffen hat. |
82. |
Zweitens ist durchaus vorstellbar, dass, wie dem Gerichtshof vorgetragen worden ist, eine Person, die den Beistand der UNRWA genießt, freiwillig das UNRWA-Gebiet vorübergehend verlässt – z. B., um andernorts einen Verwandten zu besuchen –, und zwar in voller Rückkehrabsicht und in der echten Überzeugung, dass ihr dies möglich sein werde, dann jedoch damit konfrontiert wird, dass ihr die Rückkehr in das Gebiet, in dem sie den Beistand erhalten hatte, tatsächlich verwehrt ist. Hier wäre meiner Ansicht nach davon auszugehen, dass eine solche Person aus außerhalb ihres Einflussbereichs liegenden oder von ihrem Willen unabhängigen Gründen gehindert ist, den Beistand der UNRWA in Anspruch zu nehmen. |
83. |
In beiden vorgenannten Fällen und letztlich in jedem Fall, in dem nachzuweisen ist, dass „Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird“, wird es Beweisprobleme geben, worauf ich in Nr. 102 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Bolbol hingewiesen habe. Diese Probleme sind nach Art. 4 der Richtlinie („Prüfung der Ereignisse und Umstände“) zu lösen, der einen Rahmen für die Arten der Beweisführung oder Glaubhaftmachung vorgibt, die die Mitgliedstaaten verlangen können. Es ist zwar allgemein zulässig, den Antragsteller zur Begründung seines Antrags zu verpflichten und sich nicht nur auf seine Angaben zu stützen, doch legt Art. 4 Abs. 5 Umstände fest, unter denen die Mitgliedstaaten nicht auf schriftliche Nachweise für alle Aussagen im Antrag bestehen dürfen. |
Ergebnis
84. |
Nach alledem bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof die Fragen des Fővárosi Bíróság wie folgt beantworten sollte: In Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes bedeutet die Wendung,
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( 1 ) Originalsprache: Englisch.
( 2 ) Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12) (im Folgenden: Richtlinie 2004/83 oder Richtlinie). Sie ist inzwischen ersetzt worden durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9), die die wesentlichen für die vorliegende Rechtssache relevanten Bestimmungen unverändert lässt.
( 3 ) United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954) (im Folgenden: Abkommen).
( 4 ) United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten, im Folgenden: UNRWA). Das Mandat der UNRWA wurde zuletzt durch die Resolution 65/98 der Generalversammlung vom 10. Dezember 2010 bis 30. Juni 2014 verlängert.
( 5 ) Urteil des Gerichtshofs vom 17. Juni 2010, Bolbol (C-31/09, Slg. 2010, I-5539).
( 6 ) Unbestritten betrifft die Wendung „einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge“ seit 1958 tatsächlich nur noch die UNRWA. Die einzige andere Organisation bzw. Institution in diesem Sinne, die je Flüchtlingen Schutz oder Beistand gewährt hat (die United Nations Korean Reconstruction Agency – UNKRA), stellte ihre Tätigkeit in jenem Jahr ein. Soweit nicht anders angegeben, behandele ich daher die Begriffe „Organisation oder … Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge“ und „UNRWA“ als deckungsgleich. Ebenso unbestritten wurde die UNRWA nicht dazu eingerichtet, palästinensischen Flüchtlingen „Schutz“ zu gewähren, noch hat sie diesen je „Schutz“ gewährt. Sie ist nicht in der Lage, etwas anderes als „Beistand“ zu gewähren. Ich verwende daher eher „Beistand der UNRWA“ als „Schutz oder Beistand der UNRWA“.
( 7 ) Obwohl die englische Fassung von Satz 2 letzter Halbsatz den Wortlaut des Abkommens wörtlich übernimmt (und nur das Wort „Abkommen“ durch „Richtlinie“ ersetzt), verwendet der französische Text eine andere Formulierung: „ces personnes pourront ipso facto se prévaloir de la présente directive“ („können diese Personen sich ipso facto auf diese Richtlinie berufen“). Der Bevollmächtigte der Kommission hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass alle Sprachfassungen der Richtlinie auf Grundlage der englischen Fassung des Abkommens formuliert werden sollten – und in der Tat ist die französische Fassung der englischen in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie näher als in Art. 1 Abschnitt D Unterabs. 2 des Abkommens.
( 8 ) Weitere Unterschiede im Bereich des Zugangs zu einer Beschäftigung, der medizinischen Versorgung und des Zugangs zu Integrationsmaßnahmen sind nunmehr durch die Richtlinie 2011/95 (oben in Fn. 2 angeführt) beseitigt worden.
( 9 ) Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13).
( 10 ) Der Gerichtshof hat sich nur mit der Auslegung der Richtlinie beschäftigt, diese aber in einer Weise ausgelegt, die die Achtung der Grundsätze des Abkommens, der anderen in Art. 78 Abs. 1 AEUV genannten einschlägigen Verträge und der Charta der Grundrechte gewährleistet (vgl. Randnrn. 36 bis 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV muss die gemeinsame Politik im Bereich Asyl mit dem Abkommen, dem Protokoll hierzu von 1967 und (nicht näher genannten) „anderen einschlägigen Verträgen“ im Einklang stehen.
( 11 ) Siehe Nrn. 48 bis 56 jener Schlussanträge.
( 12 ) Siehe Nr. 90 jener Schlussanträge.
( 13 ) Siehe Nr. 111 jener Schlussanträge. Um dies für von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfasste Personen noch klarer zu formulieren, bedeutet der betreffende „Schutz“ die Anerkennung als Flüchtling mit der Folge, dass diese Personen ohne Weiteres Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben.
( 14 ) Siehe unten, Nrn. 52 ff.
( 15 ) Vgl. aus jüngster Zeit Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juni 2012, Geltl (C-19/11, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
( 16 ) Siehe oben, Nr. 6.
( 17 ) Siehe oben, Fn. 7.
( 18 ) Vgl. Commentary on the 1951 Convention relating to the status of refugees and its 1967 protocol, Hrsg. Zimmerman, Oxford 2011, S. 543 f.
( 19 ) Siehe oben, Nr. 4; dem entspricht Art. 2 Buchst. c der Richtlinie. Die Richtlinie bezieht allerdings die erste Kategorie nicht mit ein – vermutlich deshalb, weil es im Jahr 2004 keine „historischen Flüchtlinge“ mehr gab, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat hätten beantragen können.
( 20 ) Die gleichen Fälle werden in Art. 11 der Richtlinie aufgeführt.
( 21 ) Diese Kategorien sind in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und b sowie Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt.
( 22 ) Diese entsprechen im Wesentlichen den Art. 20 bis 34 der Richtlinie.
( 23 ) D. h. nach Kapitel II der Richtlinie 2004/83 (jetzt der Richtlinie 2011/95) und nach der Richtlinie 2005/85 (oben in Fn. 9 angeführt).
( 24 ) Zahlreiche Gerichte und Behörden in der gesamten EU haben sich mit der Auslegung der Ausschlussregelung in Art. 1 Abschnitt D Abs. 1 des Abkommens schwergetan. Wenn die hier von Frankreich und dem Vereinigten Königreich vorgetragene Ansicht richtig wäre, hätten diese Gerichte und Behörden ihre Zeit mit der Auslegung einer Bestimmung verschwendet, die in den bei ihnen anhängigen Verfahren gar nicht anwendbar gewesen wäre.
( 25 ) Siehe auch unten, Nrn. 80 und 81.
( 26 ) Siehe oben, Nr. 43.
( 27 ) Siehe oben, Nr. 32.
( 28 ) Diese Bestimmungen entsprechen Art. 1 Abschnitt C bzw. E des Abkommens.
( 29 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Bolbol (Nrn. 94 ff. sowie Randnr. 52 des Urteils, oben in Fn. 5 angeführt).
( 30 ) Siehe oben, Fn. 6 und http://www.unrwa.org/etemplate.php?id=87: „Die UNRWA … ist nicht für die Sicherheit oder für Recht und Ordnung in den Lagern zuständig und verfügt nicht über Polizeikräfte oder einen Nachrichtendienst. Diese Zuständigkeit verblieb jederzeit bei den entsprechenden Behörden des Aufnahmestaats und anderen Behörden.“
( 31 ) Siehe oben, Nrn. 52 ff.
( 32 ) Siehe oben, Nrn. 50 bis 53.
( 33 ) Siehe oben, Nrn. 50 bis 53.