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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62011CJ0146

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 12. Juli 2012.
    AS Pimix, in Liquidation gegen Maksu- ja Tolliameti Lõuna maksu- ja tollikeskus und Põllumajandusministeerium.
    Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus.
    Beitritt neuer Mitgliedstaaten – Festsetzung der Abgabe auf Überschussbestände an landwirtschaftlichen Erzeugnissen – Verweisung in einer nationalen Rechtsvorschrift auf eine Vorschrift einer Verordnung der Union, die nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union in der Sprache des fraglichen Mitgliedstaats veröffentlicht war.
    Rechtssache C‑146/11.

    Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2012:450

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

    12. Juli 2012 ( *1 )

    „Beitritt neuer Mitgliedstaaten — Festsetzung der Abgabe auf Überschussbestände an landwirtschaftlichen Erzeugnissen — Verweisung in einer nationalen Rechtsvorschrift auf eine Vorschrift einer Verordnung der Union, die nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union in der Sprache des fraglichen Mitgliedstaats veröffentlicht war“

    In der Rechtssache C-146/11

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Riigikohus (Estland) mit Entscheidung vom 17. März 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 25. März 2011, in dem Verfahren

    AS Pimix, in Liquidation,

    gegen

    Maksu- ja Tolliameti Lõuna maksu- ja tollikeskus,

    Põllumajandusministeerium

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),

    Generalanwältin: V. Trstenjak,

    Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Mai 2012,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der AS Pimix, in Liquidation, vertreten durch M. Ots, advokaat, und T. Pikamäe, vandeadvokaat,

    der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Saaremäel-Stoilov, H. Tserepa-Lacombe und A. Marcoulli als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 288 AEUV und Art. 297 Abs. 1 AEUV sowie Art. 58 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33, im Folgenden: Beitrittsakte von 2003).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der AS Pimix (im Folgenden: Pimix), in Liquidation, einerseits und dem Maksu- ja Tolliameti Lõuna maksu- ja tollikeskus (Steuer- und Zollamt, Steuer- und Zollzentrum Süd) und dem Põllumajandusministeerium (Landwirtschaftsministerium) andererseits über die Erhebung einer Abgabe auf Überschussbestände.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Beitrittsakte von 2003

    3

    Art. 2 der Beitrittsakte von 2003 lautet:

    „Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“

    4

    Gemäß Art. 41 Abs. 1 der Beitrittsakte von 2003 kann die Europäische Kommission Maßnahmen erlassen, um den Übergang von der in den neuen Mitgliedstaaten bestehenden Regelung auf die Regelung zu erleichtern, die sich aus der Anwendung der Gemeinsamen Agrarpolitik ergibt. Diese Übergangsmaßnahmen „können während eines Zeitraums von drei Jahren nach dem Beitritt erlassen werden und ihre Anwendung ist auf diesen Zeitraum zu beschränken“.

    5

    Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 bestimmt:

    „Die vor dem Beitritt erlassenen und vom Rat, der Kommission oder der Europäischen Zentralbank in tschechischer, estnischer, ungarischer, lettischer, litauischer, maltesischer, polnischer, slowakischer und slowenischer Sprache abgefassten Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank sind vom Tag des Beitritts an unter den gleichen Bedingungen wie die Wortlaute in den elf derzeitigen Sprachen verbindlich. Sie werden im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht, sofern die Wortlaute in den derzeitigen Sprachen auf diese Weise veröffentlicht worden sind.“

    Verordnung Nr. 1

    6

    Nach Art. 1 der Verordnung Nr. 1 des Rates vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. 1958, Nr. 17, S. 385) in der durch die Beitrittsakte von 2003 geänderten Fassung sind die Amtssprachen der Union: „Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch“.

    7

    Art. 4 dieser Verordnung bestimmt:

    „Verordnungen und andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung werden in den zwanzig Amtssprachen abgefasst.“

    8

    Art. 5 der Verordnung lautet:

    „Das Amtsblatt der Europäischen Union erscheint in den zwanzig Amtssprachen.“

    9

    Art. 8 der Verordnung sieht vor:

    „Hat ein Mitgliedstaat mehrere Amtssprachen, so bestimmt sich der Gebrauch der Sprache auf Antrag dieses Staates nach den auf seinem Recht beruhenden allgemeinen Regeln.

    …“

    Verordnung (EG) Nr. 1972/2003

    10

    Rechtsgrundlage der Verordnung (EG) Nr. 1972/2003 der Kommission vom 10. November 2003 über die aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei zu treffenden Übergangsmaßnahmen für den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 293, S. 3) ist insbesondere Art. 41 der Beitrittsakte von 2003.

    11

    Nach ihrem ersten Erwägungsgrund dient die Verordnung Nr. 1972/2003 der „Vermeidung von Verkehrsverlagerungen, die die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte aufgrund des Beitritts von zehn neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 beeinträchtigen könnten“. Angesichts dieser Gefahr wird im dritten Erwägungsgrund dieser Verordnung betont, dass „abschreckende Abgaben auf Überschussbestände in den neuen Mitgliedstaaten erhoben werden“ sollten.

    12

    Zu diesem Zweck verlangt Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1972/2003 von den neuen Mitgliedstaaten, auf am 1. Mai 2004 bestehende Überschussbestände von Erzeugnissen im freien Verkehr eine Abgabe bei den Besitzern zu erheben.

    13

    Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1972/2003 sieht vor:

    „Bei der Bestimmung der Überschussbestände jedes Besitzers berücksichtigen die neuen Mitgliedstaaten insbesondere

    a)

    die durchschnittlichen Bestände in den Jahren vor dem Beitritt,

    b)

    die Handelsströme in den Jahren vor dem Beitritt,

    c)

    die Umstände, unter denen die Bestände gebildet wurden.

    Der Begriff Überschussbestände gilt sowohl für in die neuen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse wie auch für Erzeugnisse mit Ursprung in den neuen Mitgliedstaaten. Er gilt auch für Erzeugnisse, die für den Markt der neuen Mitgliedstaaten bestimmt sind.

    …“

    14

    Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung sieht vor, dass der Betrag der Abgabe nach dem am 1. Mai 2004 geltenden Erga-omnes-Einfuhrzollsatz bestimmt wird. Diese Abgabe wird durch die Verordnung (EG) Nr. 1789/2003 der Kommission vom 11. September 2003 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 281, S. 1) festgesetzt.

    15

    Um die vorschriftsmäßige Anwendung der Abgabe auf die Überschussbestände zu gewährleisten, haben die neuen Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1972/2003 unverzüglich eine Bestandsaufnahme der zum 1. Mai 2004 verfügbaren Erzeugnisse durchzuführen und der Kommission bis spätestens 31. Oktober 2004 die Mengen der Überschussbestände mitzuteilen.

    16

    In Bezug auf Estland sieht Art. 4 Abs. 5 dieser Verordnung vor, dass sie insbesondere für Erzeugnisse gilt, die unter den Code 0405 10 der Kombinierten Nomenklatur (im Folgenden: KN) fallen, d. h. Butter.

    17

    Nach ihrem Art. 10 galt diese Verordnung vom 1. Mai 2004 bis zum 30. April 2007.

    Verordnung Nr. 1789/2003

    18

    Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1) enthält die KN. Die KN wird von der Kommission einmal pro Jahr aktualisiert. Die Verordnung Nr. 1789/2003 ist am 1. Januar 2004 in Kraft getreten.

    Estnisches Recht

    19

    Am 7. April 2004 verabschiedete der Riigikogu (estnisches Parlament) das Gesetz über die Abgabe auf überschüssige Lagerbestände (Üleliigse laovaru tasu seadus, RT I 2004, 30, 203, im Folgenden: ÜLTS). Dieses Gesetz wurde am 27. April 2004 im Riigi Teataja veröffentlicht und ist am 1. Mai 2004 in Kraft getreten.

    20

    Nach § 7 ÜLTS ist der überschüssige Lagerbestand die Differenz zwischen dem Lagerbestand am 1. Mai 2004 und dem Übergangsbestand.

    21

    § 6 ÜLTS definiert den Begriff „Übergangsbestand“ als das 1,2-Fache des jährlichen Durchschnittsbestands der letzten vier Jahre vor dem Beitritt der Republik Estland zur Union (2000 bis 2003).

    22

    Nach § 10 ÜLTS werden der Übergangsbestand und der überschüssige Lagerbestand vom Põllumajandusministeerium auf der Grundlage der Erklärung des Unternehmers berechnet. Auf begründeten Antrag dieses Unternehmers kann das Põllumajandusministeerium bestimmte Umstände berücksichtigen, die eine von Spekulationsgeschäften unabhängige Erhöhung der Lagerbestände erklären können.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    23

    Am 29. Oktober 2004 stellte das Põllumajandusministeerium fest, dass Pimix über einen überschüssigen Lagerbestand im Umfang von 550 Tonnen natürlicher Butter verfügte, die unter den KN-Code 0405 10 19 fiel.

    24

    Am 26. November 2004 setzte das Maksu- ja Tolliameti Lõuna maksu- ja tollikeskus mit einem Abgabenbescheid die Abgabe, die Pimix auf diesen überschüssigen Lagerbestand zu zahlen hatte, auf 16318500 EEK fest. Um einem Urteil des Riigikohus vom 5. Oktober 2006 nachzukommen, nahm das Maksu- ja Tolliameti Lõuna maksu- ja tollikeskus diesen Bescheid zurück und setzte mit einem neuen Abgabenbescheid am 29. März 2007 die von Pimix zu zahlende Abgabe gemäß dem sich aus § 14 Abs. 2 ÜLTS und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1972/2003 ergebenden Satz auf denselben Betrag fest.

    25

    Pimix focht die Entscheidung vom 29. Oktober 2004 und den Abgabenbescheid vom 29. März 2007 an. Ihre Klage wurde abgewiesen, und die Berufung wurde zurückgewiesen. Im Rahmen einer Kassationsbeschwerde wirft Pimix den Tatrichtern vor, die Verordnungen Nrn. 1789/2003 und 1972/2003 angewandt zu haben, obwohl sie nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht gewesen seien und die nationale Regelung zur Umsetzung der KN am 1. Mai 2004 außer Kraft getreten sei. Gestützt auf das Urteil vom 11. Dezember 2007, Skoma-Lux (C-161/06, Slg. 2007, I-10841), macht Pimix geltend, die estnische Verwaltung habe ihr keine Verpflichtungen auferlegen können, die sich aus Normen ergäben, die nicht in das nationale Recht übernommen worden und nicht vor dem 5. März 2005 ordnungsgemäß veröffentlicht worden seien.

    26

    Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kommt es für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits darauf an, ob die estnische Verwaltung bei der Bestimmung des überschüssigen Lagerbestands von Pimix allein die durch das ÜLTS umgesetzten Vorschriften der unionsrechtlichen Regelung zugrunde gelegt oder diese Regelung unmittelbar angewandt habe, bevor sie ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht worden sei.

    27

    Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die wesentlichen Elemente der Abgabenerhebung – Abgabenzahler, Abgabenobjekt und Abgabensatz – aus dem ÜLTS nicht eindeutig und unmittelbar hervorgingen. Mehrere Vorschriften des ÜLTS bezögen sich nämlich auf die unionsrechtliche Regelung. So sei in Bezug auf den Abgabenzahler der Begriff „Unternehmer“ in § 5 Abs. 1 ÜLTS durch Bezugnahme auf den Begriff „landwirtschaftliche Erzeugnisse“ definiert, der seinerseits in § 2 ÜLTS unter Verweisung auf die Estland betreffenden Vorschriften in Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1972/2003 eingeführt werde. Die letztgenannte Vorschrift sei intransparent, da man zum Verständnis des Inhalts der KN auf die Verordnung Nr. 1789/2003 zurückgreifen müsse.

    28

    Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es Pimix zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Erklärung habe abgeben müssen, nicht möglich gewesen sei, die Notwendigkeit hierfür zu verstehen oder zu erkennen, für welche landwirtschaftlichen Erzeugnisse diese Erklärungspflicht entstanden sei. Denn am 1. Mai 2004, dem für die Bestimmung der Überschussbestände festgesetzten Termin, und zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung vom 29. Oktober 2004 zur Festsetzung der Überschussbestände von Pimix seien die Verordnungen Nrn. 1789/2003 und 1972/2003 im Amtsblatt der Europäischen Union nicht in estnischer Sprache veröffentlicht gewesen.

    29

    In Bezug auf die von der Verordnung Nr. 1789/2003 vorgesehene KN weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sie am 1. Mai 2004 von keiner der seinerzeit geltenden nationalen Rechtsvorschriften übernommen worden sei.

    30

    In Anbetracht dessen stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob die in § 2 ÜLTS vorgenommene Verweisung auf eine Verordnung der Union, die nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht worden ist, eine Durchführung dieser Verordnung ist, wie sie der Gerichtshof in den Urteilen vom 4. Juni 2009, Balbiino (C-560/07, Slg. 2009, I-4447), und vom 29. Oktober 2009, Rakvere Lihakombinaat (C-140/08, Slg. 2009, I-10533), verstanden hatte.

    31

    Unter diesen Umständen hat das Riigikohus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 288 AEUV in Verbindung mit Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile Skoma-Lux, Balbiino und Rakvere Lihakombinaat) dahin gehend auszulegen, dass von einem Einzelnen die Erfüllung der sich aus der Verordnung Nr. 1972/2003 ergebenden Verpflichtung verlangt werden kann,

    a)

    auch ungeachtet dessen, dass die genannte Verordnung mit Stand vom 1. Mai 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union nicht in estnischer Sprache veröffentlicht war

    b)

    und der Gesetzgeber des entsprechenden Mitgliedstaats den in der Verordnung festgelegten Begriff der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in einem innerstaatlichen Rechtsakt nicht noch einmal definiert hat, sondern sich auf eine Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 5 der genannten, nicht ordnungsgemäß veröffentlichten Verordnung beschränkt hat,

    c)

    wenn der Einzelne indessen eine sich aus der Verordnung Nr. 1972/2003 ergebende Verpflichtung erfüllt hat (er hat den Lagerbestand entsprechend dem richtigen Warencode erklärt) und diese Verpflichtung nicht angefochten hat

    d)

    und die Abgabe ihm gegenüber von der zuständigen Stelle des Mitgliedstaats zu einer Zeit festgesetzt wurde, zu der die Verordnung Nr. 1972/2003 bereits in estnischer Sprache im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht war?

    2.

    Kann aus Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 in Verbindung mit Art. 297 Abs. 1 AEUV sowie dem dritten Erwägungsgrund und Art. 4 der Verordnung Nr. 1972/2003 geschlossen werden, dass ein Mitgliedstaat von einem Einzelnen die Abgabe auf Überschussbestände fordern kann, wenn die Verordnung Nr. 1972/2003 mit Stand vom 1. Mai 2004 nicht in estnischer Sprache im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht war, diese Verordnung aber, als die zuständige Stelle des Mitgliedstaats später die Abgabe festsetzte, bereits in estnischer Sprache im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht war?

    Zu den Vorlagefragen

    32

    Mit seinen beiden Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 dahin auszulegen ist, dass er es nicht gestattet, dass in Estland Bestimmungen der Verordnung Nr. 1972/2003, die am 1. Mai 2004 weder im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht noch vom nationalen Recht dieses Mitgliedstaats übernommen worden waren, Einzelnen gegenüber angewandt werden, auch wenn diese auf anderem Wege davon Kenntnis nehmen konnten.

    33

    Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach einem grundlegenden Prinzip der Unionsrechtsordnung ein hoheitlicher Rechtsakt den Bürgern nicht entgegengehalten werden darf, bevor sie die Möglichkeit haben, von diesem Rechtsakt durch eine ordnungsgemäße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union Kenntnis zu nehmen (Urteile vom 25. Januar 1979, Racke, 98/78, Slg. 1979, 69, Randnr. 15, und Skoma-Lux, Randnr. 37).

    34

    Außerdem ergibt sich aus Art. 2 der Beitrittsakte von 2003, dass die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich sind und in diesen Staaten ab dem Tag des Beitritts gelten. Ob sie gegenüber natürlichen und juristischen Personen in diesen Staaten anwendbar sind, hängt jedoch von den allgemeinen Bedingungen der Umsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ab, wie sie in den ursprünglichen Verträgen und für die neuen Mitgliedstaaten in der Beitrittsakte von 2003 selbst vorgesehen sind (Urteil Skoma-Lux, Randnr. 32).

    35

    Was Verordnungen des Rates und der Kommission sowie Richtlinien dieser Organe betrifft, die an alle Mitgliedstaaten gerichtet sind, ergibt sich aus Art. 297 Abs. 2 AEUV, dass diese Rechtsakte nur dann Rechtswirkungen erzeugen können, wenn sie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Skoma-Lux, Randnr. 33).

    36

    Die Beachtung dieser Grundsätze ist mit den gleichen Folgen geboten, wenn eine unionsrechtliche Regelung die Mitgliedstaaten verpflichtet, zu ihrer Durchführung Maßnahmen zu erlassen, mit denen den Einzelnen Verpflichtungen auferlegt werden. Solche Maßnahmen müssen daher veröffentlicht werden, damit die Betroffenen davon Kenntnis nehmen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2002, Mulligan u. a., C-313/99, Slg. 2002, I-5719, Randnrn. 51 und 52). Die Betroffenen müssen auch die Möglichkeit haben, sich über die Quelle der nationalen Maßnahmen zu informieren, mit denen ihnen Verpflichtungen auferlegt werden. Somit ist nicht nur die nationale Regelung zu veröffentlichen, sondern auch der Rechtsakt der Union, der die Mitgliedstaaten gegebenenfalls zum Erlass von Maßnahmen verpflichtet, mit denen den Einzelnen Verpflichtungen auferlegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2009, Heinrich, C-345/06, Slg. 2009, I-1659, Randnrn. 45 bis 47).

    37

    Außerdem ergibt sich aus Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 in Verbindung mit den Art. 4, 5 und 8 der Verordnung Nr. 1, dass unter einer ordnungsgemäßen Veröffentlichung einer Unionsverordnung im Fall eines Mitgliedstaats, dessen Sprache eine Amtssprache der Union ist, die Veröffentlichung des Rechtsakts im Amtsblatt der Europäischen Union in dieser Sprache zu verstehen ist (Urteil Skoma-Lux, Randnr. 34).

    38

    Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 es nicht gestattet, dass Verpflichtungen in einer Unionsregelung, die nicht im Amtsblatt der Europäischen Union in der Sprache eines neuen Mitgliedstaats veröffentlicht worden ist, obwohl diese Sprache eine Amtssprache der Union ist, Einzelnen in diesem Staat auferlegt werden, auch wenn sie auf anderem Wege Kenntnis von dieser Regelung hätten nehmen können (Urteile Skoma-Lux, Randnr. 51, und Balbiino, Randnr. 30).

    39

    Mit dem Erlass des ÜLTS am 7. April 2004 hat die Republik Estland die sich aus der Verordnung Nr. 1972/2003 ergebenden Verpflichtungen umgesetzt, indem sie eine Abgabe auf Überschussbestände an landwirtschaftlichen Erzeugnissen eingeführt und die Modalitäten für die Berechnung dieser Abgabe festgelegt hat. Das ÜLTS begründet damit in Estland Verpflichtungen zulasten der Einzelnen, ungeachtet der Tatsache, dass die genannte Verordnung nicht auf sie angewandt werden durfte, bevor sie die Möglichkeit hatten, durch eine ordnungsgemäße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in der Sprache dieses Mitgliedstaats von ihr Kenntnis zu nehmen. Zu diesen Verpflichtungen gehörte diejenige, beim Põllumajandusministeerium bis spätestens 15. Mai 2004 eine Erklärung über ihre am 1. Mai 2004 vorhandenen Bestände an bestimmten landwirtschaftlichen Erzeugnissen abzugeben. Es steht fest, dass die Pflicht zur Entrichtung der Abgabe auf Überschussbestände somit nach Maßgabe ihrer an diesem Tag vorhandenen Bestände an diesen Erzeugnissen ermittelt wird. Der Zeitpunkt des Erlasses des Abgabenbescheids hat folglich keinen Einfluss auf den Entstehungstatbestand der genannten Abgabe. Im Ausgangsverfahren lässt daher der Umstand, dass der Abgabenbescheid vom 29. März 2007 nach der ordnungsgemäßen Veröffentlichung der Verordnungen Nrn. 1789/2003 und 1972/2003 im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache erlassen wurde, nicht den Schluss zu, dass diese Verordnungen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜLTS gegenüber Pimix angewandt werden konnten.

    40

    Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die im Urteil Skoma-Lux formulierte Regel der Anwendung der in das ÜLTS übernommenen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1972/2003 auf die Einzelnen nicht entgegensteht. Gleichwohl könnte dieser Regel ein Restanwendungsbereich für den Fall verbleiben, dass gewisse durch das ÜLTS nicht umgesetzte Bestimmungen dieser Verordnung vor deren offizieller Veröffentlichung in estnischer Sprache von den estnischen Behörden gegenüber Einzelnen angewandt wurden (Urteile Balbiino, Randnr. 32, und Rakvere Lihakombinaat, Randnr. 34).

    41

    Die Verordnung Nr. 1972/2003 verpflichtete die Mitgliedstaaten, Abgaben auf die Überschussbestände zu erheben, die am 1. Mai 2004 bei einer Reihe anhand ihrer KN-Codes bestimmter landwirtschaftlicher Erzeugnisse bestanden. Am 1. Mai 2004 war jedoch diese Verordnung im Amtsblatt der Europäischen Union nicht in estnischer Sprache veröffentlicht, denn diese Veröffentlichung erfolgte erst am 3. März 2005. Die Verordnung Nr. 1789/2003, die die zum damaligen Zeitpunkt geltende KN enthielt, wurde erst am 6. August 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht. Als das ÜLTS am 1. Mai 2004 in Kraft trat, war es den Einzelnen nicht möglich, vermittels einer ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlichten unionsrechtlichen Regelung von den Erzeugnissen Kenntnis zu nehmen, die der Abgabe auf Überschussbestände unterlagen. Das ÜLTS enthielt keine Definition dieser Erzeugnisse, sondern verwies lediglich auf Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1972/2003. Den Einzelnen war es außerdem nicht möglich, diese Erzeugnisse vermittels der nationalen Regelung zu bestimmen, da die estnische Zollnomenklatur mit Wirkung vom 1. Mai 2004 aufgehoben worden war.

    42

    Unter diesen Umständen konnten die einschlägigen Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 1789/2003 und 1972/2003 in Estland ab dem 1. Mai 2004 den Einzelnen gegenüber nicht angewandt werden, da sie weder im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache ordnungsgemäß veröffentlicht noch vom nationalen Recht dieses Mitgliedstaats übernommen worden waren.

    43

    Die estnische Regierung trägt jedoch vor, dass im Ausgangsverfahren Pimix der Umfang ihrer Verpflichtungen ab dem 1. Mai 2004 nicht unbekannt gewesen sei, da in der Beitrittsakte von 2003 die Erhebung von Abgaben auf Überschussbestände an landwirtschaftlichen Erzeugnissen bereits vorgesehen gewesen sei. Sollte die Verordnung Nr. 1972/2003 den Einzelnen gegenüber nicht anwendbar sein, liefe dies dem Zweck dieser Verordnung und der Beitrittsakte von 2003, Spekulationsgeschäfte mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu bekämpfen, zuwider.

    44

    Wie der Gerichtshof jedoch bereits entschieden hat, steht die Beachtung der in den Randnrn. 33 bis 38 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung, die von den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung geleitet wird, der Beachtung des Grundsatzes der Effektivität nicht entgegen, da der letztgenannte Grundsatz keine Regeln betreffen kann, die den Einzelnen gegenüber noch nicht angewandt werden können. Ließe man aufgrund des Grundsatzes der Effektivität zu, dass ein nicht ordnungsgemäß veröffentlichter Rechtsakt angewendet werden könnte, liefe dies darauf hinaus, dass der Einzelne in dem betreffenden Mitgliedstaat die negativen Folgen des Verstoßes der Unionsverwaltung gegen ihre Verpflichtung, ihm zum Zeitpunkt des Beitritts den gesamten gemeinschaftlichen Besitzstand in allen Amtssprachen der Union zugänglich zu machen, zu tragen hätte (Urteil Skoma-Lux, Randnr. 42).

    45

    Die estnische Regierung macht ferner geltend, dass Pimix im Hinblick auf das ÜLTS ihren Meldepflichten ohne Probleme nachgekommen sei, was belege, dass sie den Umfang ihrer Verpflichtungen schon vor der ordnungsgemäßen Veröffentlichung der Verordnungen Nrn. 1789/2003 und 1972/2003 im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache gekannt habe.

    46

    Der Umstand, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens die am 1. Mai 2004 in ihrem Besitz befindlichen Mengen an abgabepflichtigen Erzeugnissen genau angegeben hat und folglich über die geltenden Unionsvorschriften informiert war, reicht jedoch allein nicht aus, damit eine unionsrechtliche Regelung, die nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden ist, ihr gegenüber angewandt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Skoma-Lux, Randnr. 46).

    47

    Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 dahin auszulegen ist, dass er es nicht gestattet, dass in Estland Bestimmungen der Verordnung Nr. 1972/2003, die am 1. Mai 2004 weder im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht noch vom nationalen Recht dieses Mitgliedstaats übernommen worden waren, Einzelnen gegenüber angewandt werden, auch wenn diese auf anderem Wege davon Kenntnis nehmen konnten.

    Kosten

    48

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 58 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge ist dahin auszulegen, dass er es nicht gestattet, dass in Estland Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1972/2003 der Kommission vom 10. November 2003 über die aufgrund des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei zu treffenden Übergangsmaßnahmen für den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die am 1. Mai 2004 weder im Amtsblatt der Europäischen Union in estnischer Sprache veröffentlicht noch vom nationalen Recht dieses Mitgliedstaats übernommen worden waren, Einzelnen gegenüber angewandt werden, auch wenn diese auf anderem Wege davon Kenntnis nehmen konnten.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Estnisch.

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