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Dokument 62011CJ0078

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 21. Juni 2012.
Asociación Nacional de Grandes Empresas de Distribución (ANGED) gegen Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA) u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo.
Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Krankheitsurlaub – Jahresurlaub, der mit einer Fehlzeit wegen Krankheit zusammenfällt – Recht auf Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs zu einer anderen Zeit.
Rechtssache C‑78/11.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2012:372

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

21. Juni 2012 ( *1 )

„Richtlinie 2003/88/EG — Arbeitszeitgestaltung — Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub — Krankheitsurlaub — Jahresurlaub, der mit einer Fehlzeit wegen Krankheit zusammenfällt — Recht auf Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs zu einer anderen Zeit“

In der Rechtssache C-78/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Spanien) mit Entscheidung vom 26. Januar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2011, in dem Verfahren

Asociación Nacional de Grandes Empresas de Distribución (ANGED)

gegen

Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA),

Federaciόn de Trabajadores Independientes de Comercio (Fetico),

Federaciόn Estatal de Trabajadores de Comercio, Hostelería, Turismo y Juego de UGT,

Federaciόn de Comercio, Hostelería y Turismo de CC.OO.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter M. Ilešič und E. Levits (Berichterstatter),

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA), vertreten durch J. Caballero Ramos, abogado,

der Federación Estatal de Trabajadores de Comercio, Hostelería, Turismo y Juego de UGT, vertreten durch J. Jiménez de Eugenio, abogado,

der Federación de Comercio, Hostelería y Turismo de CC.OO., vertreten durch A. Martín Aguado und J. Jiménez de Eugenio, abogados,

der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und M. van Beek als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9, im Folgenden: Richtlinie 2003/88).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Asociación Nacional de Grandes Empresas de Distribución (ANGED) und den die Arbeitnehmer vertretenden Gewerkschaften Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA), Federaciόn de Trabajadores Independientes de Comercio (Fetico), Federaciόn Estatal de Trabajadores de Comercio, Hostelería, Turismo y Juego de UGT und Federación de Comercio, Hostelería y Turismo de CC.OO. (im Folgenden: FASGA u. a.) wegen Kollektivklagen dieser Gewerkschaften auf Anerkennung des Rechts bestimmter Arbeitnehmer, ihren bezahlten Jahresurlaub auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn er mit Fehlzeiten wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2)   Gegenstand dieser Richtlinie sind

a)

… der Mindestjahresurlaub …

…“

4

Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)   Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

5

Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Von ihrem Art. 7 ist keine Abweichung zulässig.

Nationales Recht

6

Das Real Decreto Legislativo 1/1995 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut (Real Decreto Legislativo 1/1995, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores) vom 24. März 1995 (BOE Nr. 75 vom 29. März 1995, S. 9654) in der durch das Organgesetz 3/2007 zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern (Ley orgánica 3/2007 para la igualdad efectiva de mujeres y hombres) vom 22. März 2007 (BOE Nr. 71 vom 23. März 2007, S. 12611) geänderten Fassung (im Folgenden: Statut) regelt u. a. den bezahlten Jahresurlaub sowie die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit.

7

Art. 38 des Statuts bestimmt:

„(1)   Der bezahlte, nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzbare Jahresurlaub wird durch Tarifvertrag oder durch Einzelvertrag festgesetzt. Er darf 30 Kalendertage auf keinen Fall unterschreiten.

(2)   Die Urlaubszeit oder -zeiten werden im Einklang mit etwaigen kollektivvertraglichen Bestimmungen über die Jahresurlaubsplanung vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer einvernehmlich festgesetzt.

Kann ein Einvernehmen zwischen den Parteien nicht erzielt werden, bestimmt das zuständige Gericht den Zeitpunkt für die Inanspruchnahme des Urlaubs; die Entscheidung ist nicht anfechtbar. Das Verfahren ist summarisch und vorrangig.

(3)   In jedem Betrieb wird ein Urlaubsplan festgelegt. Dem Arbeitnehmer werden die ihm zugewiesenen Urlaubszeitpunkte mindestens zwei Monate vor Urlaubsbeginn bekannt gegeben.

Fällt die im betrieblichen Urlaubsplan, der im vorstehenden Unterabsatz geregelt ist, festgelegte Urlaubszeit zeitlich mit einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit oder mit dem Zeitraum zusammen, in dem das Arbeitsverhältnis gemäß Art. 48 Abs. 4 dieses Gesetzes suspendiert ist, besteht ein Recht auf Inanspruchnahme des Urlaubs zu einem anderen Zeitpunkt als dem der Arbeitsunfähigkeit oder der Freistellung, die dem Arbeitnehmer in Anwendung dieser Bestimmung zusteht, nach Beendigung des Unterbrechungszeitraums, auch wenn das Kalenderjahr, auf das der Urlaub entfällt, abgelaufen ist.“

8

Art. 37 der Kollektivvereinbarung für Kaufhäuser 2009–2010 enthält eine ähnliche Bestimmung wie Art. 38 letzter Absatz des Statuts.

9

Art. 48 Abs. 4 des Statuts regelt die Fälle der Suspendierung des Arbeitsvertrags bei Geburt, Tod der Mutter bei der Geburt, vorzeitiger Geburt, Krankenhausbehandlung des Neugeborenen, Adoption oder Annahme.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10

Mit getrennten Klagen, die miteinander verbunden wurden, leiteten FASGA u. a. ein Verfahren zur Beilegung eines kollektivrechtlichen Streits ein, um feststellen zu lassen, dass die Arbeitnehmer, die der Kollektivvereinbarung für Kaufhäuser 2009–2010 unterliegen, auch dann ein Recht auf Inanspruchnahme ihres bezahlten Jahresurlaubs haben, wenn er mit Fehlzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt.

11

Die ANGED vertritt die Auffassung, dass Arbeitnehmer, die bereits vor Beginn eines im Voraus festgelegten Urlaubszeitraums vorübergehend arbeitsunfähig geworden seien oder während dieses Zeitraums arbeitsunfähig würden, nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit nicht berechtigt seien, ihren Urlaub in Anspruch zu nehmen, abgesehen von den in der Kollektivvereinbarung ausdrücklich vorgesehenen Fällen, also den in Art. 48 Abs. 4 des Statuts genannten Fällen.

12

Mit Urteil vom 23. November 2009 gab die Audiencia Nacional der Klage von FASGA u. a. in vollem Umfang statt.

13

Die ANGED legte daraufhin beim Tribunal Supremo Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein.

14

Das Tribunal Supremo weist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hin, hält es aber, da die Kassationsbeschwerde den Fall betrifft, dass die Arbeitsunfähigkeit nach Beginn des bezahlten Jahresurlaubs eintritt, gleichwohl für erforderlich, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer Auslegung der nationalen Regelung entgegen, nach der es nicht möglich ist, den Urlaubszeitraum zu unterbrechen, um zu einer späteren Zeit den gesamten – oder verbleibenden – Urlaub in Anspruch zu nehmen, wenn während seiner Inanspruchnahme unvermutet eine Arbeitsunfähigkeit eintritt?

Zur Vorlagefrage

15

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin gehend auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.

16

Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18), die durch die Richtlinie 2003/88 kodifiziert wurde, selbst ausdrücklich gezogen sind (Urteil vom 22. November 2011, KHS, C-214/10, Slg. 2011, I-11757, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17

Zweitens ist zu beachten, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert ist (Urteil KHS, Randnr. 37, und Urteil vom 3. Mai 2012, Neidel, C-337/10, Randnr. 40).

18

Drittens darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. Urteil vom 22. April 2010, Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C-486/08, Slg. 2010, I-3527, Randnr. 29).

19

Zudem steht fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Insoweit weicht dieser Zweck vom Zweck des Anspruchs auf Krankheitsurlaub ab. Letzterer wird dem Arbeitnehmer gewährt, damit er von einer Krankheit, die eine Arbeitsunfähigkeit verursacht, genesen kann (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Vicente Pereda, C-277/08, Slg. 2009, I-8405, Randnr. 21).

20

So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich vor allem aus dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ergibt, dass ein Arbeitnehmer, der sich während eines im Voraus festgelegten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub befindet, berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann (vgl. Urteil Vicente Pereda, Randnr. 22).

21

Aus dieser Rechtsprechung, die einen Arbeitnehmer betrifft, der vor Beginn eines bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig geworden ist, ergibt sich, dass der Zeitpunkt, zu dem die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, irrelevant ist. Der Arbeitnehmer ist infolgedessen berechtigt, seinen bezahlten Jahresurlaub, der mit einem Krankheitsurlaub zusammenfällt, zu einer späteren Zeit zu nehmen, unabhängig davon, wann die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist.

22

Es wäre nämlich vom Zufall abhängig und widerspräche dem in Randnr. 19 des vorliegenden Urteils erläuterten Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, wenn dem Arbeitnehmer das genannte Recht nur unter der Voraussetzung gewährt würde, dass er bereits zu Beginn des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig war.

23

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der neue Jahresurlaub, dessen Dauer der Überschneidung des ursprünglich festgelegten Jahresurlaubs mit dem Krankheitsurlaub entspricht und auf dessen Inanspruchnahme der Arbeitnehmer nach Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit Anspruch hat, gegebenenfalls außerhalb des entsprechenden Bezugszeitraums für den Jahresurlaub festgelegt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Vicente Pereda, Randnr. 23 und Tenor).

24

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin gehend auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.

Kosten

25

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin gehend auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.

nach oben

Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C-78/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Spanien) mit Entscheidung vom 26. Januar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2011, in dem Verfahren

Asociación Nacional de Grandes Empresas de Distribución (ANGED)

gegen

Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA),

Federaciόn de Trabajadores Independientes de Comercio (Fetico),

Federaciόn Estatal de Trabajadores de Comercio, Hostelería, Turismo y Juego de UGT,

Federaciόn de Comercio, Hostelería y Turismo de CC.OO.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter M. Ilešič und E. Levits (Berichterstatter),

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA), vertreten durch J. Caballero Ramos, abogado,

– der Federación Estatal de Trabajadores de Comercio, Hostelería, Turismo y Juego de UGT, vertreten durch J. Jiménez de Eugenio, abogado,

– der Federación de Comercio, Hostelería y Turismo de CC.OO., vertreten durch A. Martín Aguado und J. Jiménez de Eugenio, abogados,

– der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und M. van Beek als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9, im Folgenden: Richtlinie 2003/88).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Asociación Nacional de Grandes Empresas de Distribución (ANGED) und den die Arbeitnehmer vertretenden Gewerkschaften Federación de Asociaciones Sindicales (FASGA), Federaciόn de Trabajadores Independientes de Comercio (Fetico), Federaciόn Estatal de Trabajadores de Comercio, Hostelería, Turismo y Juego de UGT und Federación de Comercio, Hostelería y Turismo de CC.OO. (im Folgenden: FASGA u. a.) wegen Kollektivklagen dieser Gewerkschaften auf Anerkennung des Rechts bestimmter Arbeitnehmer, ihren bezahlten Jahresurlaub auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn er mit Fehlzeiten wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3. Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) … der Mindestjahresurlaub …

…“

4. Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

5. Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Von ihrem Art. 7 ist keine Abweichung zulässig.

Nationales Recht

6. Das Real Decreto Legislativo 1/1995 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut (Real Decreto Legislativo 1/1995, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores) vom 24. März 1995 (BOE Nr. 75 vom 29. März 1995, S. 9654) in der durch das Organgesetz 3/2007 zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern (Ley orgánica 3/2007 para la igualdad efectiva de mujeres y hombres) vom 22. März 2007 (BOE Nr. 71 vom 23. März 2007, S. 12611) geänderten Fassung (im Folgenden: Statut) regelt u. a. den bezahlten Jahresurlaub sowie die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit.

7. Art. 38 des Statuts bestimmt:

„(1) Der bezahlte, nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzbare Jahresurlaub wird durch Tarifvertrag oder durch Einzelvertrag festgesetzt. Er darf 30 Kalendertage auf keinen Fall unterschreiten.

(2) Die Urlaubszeit oder -zeiten werden im Einklang mit etwaigen kollektivvertraglichen Bestimmungen über die Jahresurlaubsplanung vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer einvernehmlich festgesetzt.

Kann ein Einvernehmen zwischen den Parteien nicht erzielt werden, bestimmt das zuständige Gericht den Zeitpunkt für die Inanspruchnahme des Urlaubs; die Entscheidung ist nicht anfechtbar. Das Verfahren ist summarisch und vorrangig.

(3) In jedem Betrieb wird ein Urlaubsplan festgelegt. Dem Arbeitnehmer werden die ihm zugewiesenen Urlaubszeitpunkte mindestens zwei Monate vor Urlaubsbeginn bekannt gegeben.

Fällt die im betrieblichen Urlaubsplan, der im vorstehenden Unterabsatz geregelt ist, festgelegte Urlaubszeit zeitlich mit einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit oder mit dem Zeitraum zusammen, in dem das Arbeitsverhältnis gemäß Art. 48 Abs. 4 dieses Gesetzes suspendiert ist, besteht ein Recht auf Inanspruchnahme des Urlaubs zu einem anderen Zeitpunkt als dem der Arbeitsunfähigkeit oder der Freistellung, die dem Arbeitnehmer in Anwendung dieser Bestimmung zusteht, nach Beendigung des Unterbrechungszeitraums, auch wenn das Kalenderjahr, auf das der Urlaub entfällt, abgelaufen ist.“

8. Art. 37 der Kollektivvereinbarung für Kaufhäuser 2009–2010 enthält eine ähnliche Bestimmung wie Art. 38 letzter Absatz des Statuts.

9. Art. 48 Abs. 4 des Statuts regelt die Fälle der Suspendierung des Arbeitsvertrags bei Geburt, Tod der Mutter bei der Geburt, vorzeitiger Geburt, Krankenhausbehandlung des Neugeborenen, Adoption oder Annahme.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10. Mit getrennten Klagen, die miteinander verbunden wurden, leiteten FASGA u. a. ein Verfahren zur Beilegung eines kollektivrechtlichen Streits ein, um feststellen zu lassen, dass die Arbeitnehmer, die der Kollektivvereinbarung für Kaufhäuser 2009–2010 unterliegen, auch dann ein Recht auf Inanspruchnahme ihres bezahlten Jahresurlaubs haben, wenn er mit Fehlzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt.

11. Die ANGED vertritt die Auffassung, dass Arbeitnehmer, die bereits vor Beginn eines im Voraus festgelegten Urlaubszeitraums vorübergehend arbeitsunfähig geworden seien oder während dieses Zeitraums arbeitsunfähig würden, nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit nicht berechtigt seien, ihren Urlaub in Anspruch zu nehmen, abgesehen von den in der Kollektivvereinbarung ausdrücklich vorgesehenen Fällen, also den in Art. 48 Abs. 4 des Statuts genannten Fällen.

12. Mit Urteil vom 23. November 2009 gab die Audiencia Nacional der Klage von FASGA u. a. in vollem Umfang statt.

13. Die ANGED legte daraufhin beim Tribunal Supremo Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein.

14. Das Tribunal Supremo weist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hin, hält es aber, da die Kassationsbeschwerde den Fall betrifft, dass die Arbeitsunfähigkeit nach Beginn des bezahlten Jahresurlaubs eintritt, gleichwohl für erforderlich, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer Auslegung der nationalen Regelung entgegen, nach der es nicht möglich ist, den Urlaubszeitraum zu unterbrechen, um zu einer späteren Zeit den gesamten – oder verbleibenden – Urlaub in Anspruch zu nehmen, wenn während seiner Inanspruchnahme unvermutet eine Arbeitsunfähigkeit eintritt?

Zur Vorlagefrage

15. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin gehend auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.

16. Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18), die durch die Richtlinie 2003/88 kodifiziert wurde, selbst ausdrücklich gezogen sind (Urteil vom 22. November 2011, KHS, C-214/10, Slg. 2011, I-11757, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17. Zweitens ist zu beachten, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert ist (Urteil KHS, Randnr. 37, und Urteil vom 3. Mai 2012, Neidel, C-337/10, Randnr. 40).

18. Drittens darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. Urteil vom 22. April 2010, Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C-486/08, Slg. 2010, I-3527, Randnr. 29).

19. Zudem steht fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Insoweit weicht dieser Zweck vom Zweck des Anspruchs auf Krankheitsurlaub ab. Letzterer wird dem Arbeitnehmer gewährt, damit er von einer Krankheit, die eine Arbeitsunfähigkeit verursacht, genesen kann (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Vicente Pereda, C-277/08, Slg. 2009, I-8405, Randnr. 21).

20. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich vor allem aus dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ergibt, dass ein Arbeitnehmer, der sich während eines im Voraus festgelegten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub befindet, berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann (vgl. Urteil Vicente Pereda, Randnr. 22).

21. Aus dieser Rechtsprechung, die einen Arbeitnehmer betrifft, der vor Beginn eines bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig geworden ist, ergibt sich, dass der Zeitpunkt, zu dem die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, irrelevant ist. Der Arbeitnehmer ist infolgedessen berechtigt, seinen bezahlten Jahresurlaub, der mit einem Krankheitsurlaub zusammenfällt, zu einer späteren Zeit zu nehmen, unabhängig davon, wann die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist.

22. Es wäre nämlich vom Zufall abhängig und widerspräche dem in Randnr. 19 des vorliegenden Urteils erläuterten Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, wenn dem Arbeitnehmer das genannte Recht nur unter der Voraussetzung gewährt würde, dass er bereits zu Beginn des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig war.

23. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der neue Jahresurlaub, dessen Dauer der Überschneidung des ursprünglich festgelegten Jahresurlaubs mit dem Krankheitsurlaub entspricht und auf dessen Inanspruchnahme der Arbeitnehmer nach Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit Anspruch hat, gegebenenfalls außerhalb des entsprechenden Bezugszeitraums für den Jahresurlaub festgelegt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Vicente Pereda, Randnr. 23 und Tenor).

24. Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin gehend auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.

Kosten

25. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin gehend auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.

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