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Dokument 62010CJ0112

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 17. November 2011.
Procureur-generaal bij het hof van beroep te Antwerpen gegen Zaza Retail BV.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Hof van Cassatie - Belgien.
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 - Insolvenzverfahren - Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens - Im anwendbaren nationalen Recht festgelegte Voraussetzungen, die die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens verhindern - Gläubiger, der befugt ist, die Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens zu beantragen.
Rechtssache C-112/10.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 -00000

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2011:743

Rechtssache C‑112/10

Procureur-generaal bij het hof van beroep te Antwerpen

gegen

Zaza Retail BV

(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van Cassatie)

„Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Insolvenzverfahren – Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens – Im anwendbaren nationalen Recht festgelegte Voraussetzungen, die die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens verhindern – Gläubiger, der befugt ist, die Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens zu beantragen“

Leitsätze des Urteils

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Insolvenzverfahren – Verordnung Nr. 1346/2000 – Internationale Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens – Eröffnung eines Partikularverfahrens vor der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 1346/2000 des Rates, Art. 3 Abs. 4 Buchst. a)

2.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Insolvenzverfahren – Verordnung Nr. 1346/2000 – Internationale Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens – Eröffnung eines Partikularverfahrens vor der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 1346/2000 des Rates, Art. 3 Abs. 4 Buchst. b)

1.        Die Unmöglichkeit der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren muss objektiv gegeben sein und kann sich nicht nach den besonderen Umständen unterscheiden, unter denen die Eröffnung eines solchen Verfahrens beantragt wird. Zwar kann sich diese Unmöglichkeit aus den in der Eigenschaft des Schuldners liegenden Merkmalen ergeben, nicht jedoch allein aus dem Umstand, dass eine bestimmte Person wie der Vertreter der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich eine Niederlassung des Schuldners befindet, nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, nicht befugt ist, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in diesem Mitgliedstaat zu beantragen.

Folglich ist der Ausdruck „die Bedingungen, die … vorgesehen sind“ in dem genannten Art. 3 Abs. 4 Buchst. a, der auf die Voraussetzungen verweist, die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in diesem Staat verhindern, dahin auszulegen, dass er sich nicht auf die Voraussetzungen bezieht, nach denen bestimmte Personen aus dem Kreis derjenigen ausgeschlossen sind, die befugt sind, die Eröffnung eines solchen Verfahrens zu beantragen.

(vgl. Randnrn. 21, 23-24, 26, Tenor 1)

2.        Der mit der Verordnung Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren verfolgte Zweck besteht, wie sich aus ihrem 17. Erwägungsgrund ergibt, darin, die Fälle, in denen die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens beantragt werden kann, bevor die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens beantragt wird, auf das unumgängliche Maß zu beschränken. Die Voraussetzungen für die Eröffnung eines unabhängigen Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der genannten Verordnung sind demnach eng auszulegen.

Somit ist der Begriff „Gläubiger“ in dieser Vorschrift, der den Kreis der Personen bezeichnet, die befugt sind, die Eröffnung eines unabhängigen Partikularverfahrens zu beantragen, dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die nach dessen nationalem Recht den Auftrag hat, im Allgemeininteresse zu handeln, aber weder als Gläubiger noch im Namen und für Rechnung der Gläubiger eingreift, nicht umfasst.

(vgl. Randnrn. 22, 29, 34, Tenor 2)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

17. November 2011(*)

„Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Insolvenzverfahren – Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens – Im anwendbaren nationalen Recht festgelegte Voraussetzungen, die die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens verhindern – Gläubiger, der befugt ist, die Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens zu beantragen“

In der Rechtssache C‑112/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Belgien) mit Entscheidung vom 4. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2010, in dem Verfahren

Procureur-generaal bij het hof van beroep te Antwerpen

gegen

Zaza Retail BV

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und J.‑J. Kasel sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. März 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Zaza Retail BV, vertreten durch M. Cordewener, advocaat,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki, Z. Chatzipavlou und K. Georgiadis als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Petrova als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 4 Buchst. a und b der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1, im Folgenden: Verordnung).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Procureur-generaal bij het hof van beroep te Antwerpen (Generalstaatsanwalt beim Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) und der Zaza Retail BV (im Folgenden: Zaza Retail), einer Gesellschaft niederländischen Rechts mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), über eine Klage des genannten Generalstaatsanwalts auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer belgischen Niederlassung von Zaza Retail.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der 12. Erwägungsgrund der Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung mit dem Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren parallel zum Hauptinsolvenzverfahren. Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Seine Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit des Verfahrens in der Gemeinschaft Rechnung.“

4        Der 17. Erwägungsgrund der Verordnung sieht vor:

„Das Recht, vor der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, zu beantragen, sollte nur einheimischen Gläubigern oder Gläubigern der einheimischen Niederlassung zustehen beziehungsweise auf Fälle beschränkt sein, in denen das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nicht zulässt. Der Grund für diese Beschränkung ist, dass die Fälle, in denen die Eröffnung eines Partikularverfahrens vor dem Hauptinsolvenzverfahren beantragt wird, auf das unumgängliche Maß beschränkt werden sollen. …“

5        Art. 3 („Internationale Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. …

(2)      Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Gebiet dieses letzteren Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt.

(4)      Vor der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Absatz 1 kann ein Partikularverfahren nach Absatz 2 nur in den nachstehenden Fällen eröffnet werden:

a)      falls die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Absatz 1 angesichts der Bedingungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, nicht möglich ist;

b)      falls die Eröffnung des Partikularverfahrens von einem Gläubiger beantragt wird, der seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz in dem Mitgliedstaat hat, in dem sich die betreffende Niederlassung befindet, oder dessen Forderung auf einer sich aus dem Betrieb dieser Niederlassung ergebenden Verbindlichkeit beruht.“

6        Art. 29 der Verordnung, der das Recht zur Beantragung der Eröffnung eines Sekundärverfahrens behandelt, sieht vor:

„Die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens können beantragen:

a)      der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens,

b)      jede andere Person oder Stelle, der das Antragsrecht nach dem Recht des Mitgliedstaats zusteht, in dessen Gebiet das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden soll.“

 Nationales Recht

7        In Art. 3 Abs. 1 des belgischen Konkursgesetzes (Faillissementswet) vom 8. August 1997 (Belgisch Staatsblad vom 28. Oktober 1997, S. 28562, offizielle deutsche Übersetzung: Belgisch Staatsblad vom 13. Oktober 1999, S. 38734) in der durch das Gesetz vom 4. September 2002 (Belgisch Staatsblad vom 21. September 2002, S. 42928, offizielle deutsche Übersetzung: Belgisch Staatsblad vom 14. Februar 2003, S. 7442) geänderten Fassung heißt es:

„Hat ein Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, kann gegen ihn ein Konkursverfahren gemäß den Bestimmungen der Verordnung … eröffnet werden, sofern er eine Niederlassung in Belgien hat.“

8        Art. 6 des genannten Gesetzes bestimmt:

„Unbeschadet der Bestimmungen des Gesetzes über den gerichtlichen Vergleich wird das Konkursverfahren durch Urteil des Handelsgerichts, bei dem die Sache anhängig gemacht worden ist, entweder auf Geständnis des Kaufmanns oder auf Ladung eines oder mehrerer Gläubiger, der Staatsanwaltschaft, des in Artikel 8 erwähnten vorläufigen Verwalters oder des Konkursverwalters des Hauptverfahrens in dem in Artikel 3 Absatz 1 erwähnten Fall eröffnet.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Am 14. November 2006 beantragte der Procureur des Konings (Staatsanwalt) bei der Rechtbank van eerste aanleg te Tongeren (Belgien) die Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der belgischen Niederlassung von Zaza Retail, die den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen in Amsterdam (Niederlande) hat.

10      Zu diesem Zeitpunkt war in den Niederlanden noch kein Insolvenzverfahren über das Vermögen von Zaza Retail eröffnet worden.

11      Die Rechtbank van koophandel te Tongeren (Belgien) ordnete mit Urteil vom 4. Februar 2008 die Eröffnung des Konkurses über das Vermögen von Zaza Retail an.

12      Mit Urteil vom 9. Oktober 2008 änderte der Hof van beroep te Antwerpen das Urteil der Rechtbank van koophandel te Tongeren ab und stellte fest, dass weder die Rechtbank noch er selbst international zuständig seien, um über den Antrag auf Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens über das Vermögen der belgischen Niederlassung von Zaza Retail zu entscheiden.

13      Die Staatsanwaltschaft legte gegen dieses Urteil beim Hof van Cassatie Kassationsbeschwerde ein. Sie macht erstens geltend, dass der Begriff „Gläubiger“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung nicht eng ausgelegt werden dürfe und dass auch die Staatsanwaltschaft die Eröffnung eines Konkursverfahrens beantragen könne. Die Staatsanwaltschaft nehme damit die Rolle eines Wächters des Allgemeininteresses wahr und werde im Fall der Untätigkeit der institutionellen oder individuellen Gläubiger an deren Stelle tätig. Zweitens gelte die in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung vorgesehene Ausnahme auch für einen von ihr gestellten Antrag auf Eröffnung eines Konkursverfahrens, da die Staatsanwaltschaft, wenn sie zur Stellung dieses Antrags nicht befugt sein sollte, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in den Niederlanden, dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen habe, nicht erreichen könnte.

14      Unter diesen Umständen hat der Hof van Cassatie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Umfasst der Begriff „die Bedingungen, die … vorgesehen sind“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung auch die Bedingungen, die eine für die Beantragung des Insolvenzverfahrens erforderliche Eigenschaft oder das dafür erforderliche Interesse einer Person – wie der Staatsanwaltschaft eines anderen Mitgliedstaats – betreffen, oder beziehen sich diese Bedingungen nur auf die materiellen Voraussetzungen für die Eröffnung und Durchführung dieses Verfahren?

2.      Kann der Begriff „Gläubiger“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Insolvenzverordnung weit ausgelegt werden, so dass auch eine nationale Behörde, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, zu dem sie gehört, dazu befugt ist, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, und im Allgemeininteresse und als Vertreter der Gesamtheit der Gläubiger auftritt, im vorliegenden Fall rechtsgültig die Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Insolvenzverordnung beantragen kann?

3.      Ist, wenn der Begriff „Gläubiger“ auch eine nationale Behörde umfasst, die dazu befugt ist, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, es für die Anwendung von Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung notwendig, dass diese nationale Behörde nachweist, dass sie im Interesse von Gläubigern handelt, die ihrerseits ihren Wohnsitz, Sitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Land dieser nationalen Behörde haben?

15      Parallel zu dem in Belgien eröffneten Insolvenzverfahren hat die Rechtbank te Amsterdam mit Beschluss vom 8. Juli 2008 in den Niederlanden das Konkursverfahren über das Vermögen von Zaza Retail eröffnet.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

16      Vor der Prüfung der Vorlagefragen ist auf die durch die Verordnung geschaffene Regelung hinzuweisen.

17      Art. 3 der Verordnung sieht insoweit zwei Arten von Insolvenzverfahren vor. Das Insolvenzverfahren, das nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung vom zuständigen Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, eröffnet wird und das sogenannte „Hauptinsolvenzverfahren“ ist, hat universale Wirkungen, da es sich auf das Vermögen des Schuldners erstreckt, das sich in allen Mitgliedstaaten befindet, in denen die Verordnung anwendbar ist. Zwar kann nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung vom zuständigen Gericht eines Mitgliedstaats, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, ein Verfahren eröffnet werden, doch sind die Wirkungen dieses sogenannten „Sekundärinsolvenz-“ oder „Partikularverfahrens“ auf das im Gebiet dieses Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC, C‑341/04, Slg. 2006, I‑3813, Randnr. 28, und vom 21. Januar 2010, MG Probud Gdynia, C‑444/07, Slg. 2010, I‑417, Randnr. 22).

18      Die Eröffnung eines Sekundär- bzw. Partikularinsolvenzverfahrens unterliegt unterschiedlichen Voraussetzungen, je nachdem, ob das Hauptinsolvenzverfahren bereits eröffnet ist oder nicht. Im ersten Fall wird das Verfahren als „Sekundärinsolvenzverfahren“ eingestuft und richtet sich nach den Vorschriften des Kapitels III der Verordnung. Im zweiten Fall wird das Verfahren als „unabhängiges Partikularverfahren“ eingestuft, und Art. 3 Abs. 4 der Verordnung bestimmt, in welchen Fällen dieses Verfahren eröffnet werden kann. Diese Vorschrift bezieht sich auf zwei Situationen, nämlich erstens auf die, in der die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens angesichts der Bedingungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, nicht möglich ist, und zweitens auf die, in der die Eröffnung eines Partikularverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem sich eine Niederlassung des Schuldners befindet, von bestimmten Gläubigern beantragt wird, die zum Hoheitsgebiet dieses Staates eine besondere Verbindung haben.

19      Mit seinen Fragen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die für diese beiden Situationen geltende Regelung zu erläutern.

 Zur ersten Frage

20      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Ausdruck „die Bedingungen, die … vorgesehen sind“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung, der auf die Voraussetzungen verweist, die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in diesem Staat verhindern, dahin auszulegen ist, dass er sich nur auf die materiellen Voraussetzungen für die Schuldnereigenschaft bezieht, oder ob er auch die Voraussetzungen für die Eigenschaft der Personen einschließt, die befugt sind, die Eröffnung eines solchen Verfahrens zu beantragen.

21      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung den Fall betrifft, in dem „die Eröffnung [eines Hauptinsolvenzverfahrens] nicht möglich ist“. Im 17. Erwägungsgrund der Verordnung geht es um eine Situation, in der das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, „die Eröffnung [eines solchen Verfahrens] nicht zulässt“. Aus diesen Formulierungen geht hervor, dass die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens objektiv unmöglich sein muss und sich diese Unmöglichkeit nicht nach den besonderen Umständen unterscheiden kann, unter denen die Eröffnung eines solchen Verfahrens beantragt wird.

22      Diese Lesart entspricht dem mit Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung verfolgten Zweck, der, wie sich aus dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung ergibt, darin besteht, die Fälle, in denen die Eröffnung eines Partikularverfahrens beantragt werden kann, bevor die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens beantragt wird, auf das unumgängliche Maß zu beschränken. Zwar lässt die durch die Verordnung geschaffene Regelung das Nebeneinanderbestehen eines Hauptinsolvenzverfahrens und von Sekundärinsolvenzverfahren zu, allerdings, wie im 12. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgehoben wird, unter Beachtung der zwingenden Vorschriften für die Koordinierung, die dem Gebot der Einheitlichkeit des Verfahrens in der Union Rechnung tragen sollen. Diese Koordinierung kann aber nicht erfolgen, solange ein Hauptinsolvenzverfahren nicht eröffnet wurde.

23      Wie Zaza Retail, die griechische Regierung und die Europäische Kommission geltend gemacht haben, kann sich die Unmöglichkeit der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens aus den in der Eigenschaft des Schuldners liegenden Merkmalen ergeben, die ausschließen, dass über sein Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Als Beispiele führen sie zutreffend die Situation an, in der zu den Voraussetzungen, die das Recht des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen habe, aufstelle, die Kaufmannseigenschaft gehöre, die dem Schuldner fehle, und die Situation, in der der Schuldner ein öffentliches Unternehmen sei, das nach dem genannten Recht nicht für insolvent erklärt werden könne.

24      Dagegen kann sich die Unmöglichkeit, ein Hauptinsolvenzverfahren zu eröffnen, nicht allein aus dem Umstand ergeben, dass eine bestimmte Person wie der Vertreter der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich eine Niederlassung des Schuldners befindet, nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, nicht befugt ist, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in dem letztgenannten Mitgliedstaat zu beantragen. Sofern nämlich unstreitig ist, dass andere Personen, insbesondere Gläubiger, befugt sind, einen solchen Antrag zu stellen, ist die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens sehr wohl möglich.

25      Dies ist auch im Ausgangsverfahren der Fall, da sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass über das Vermögen von Zaza Retail mit Entscheidung der Rechtbank te Amsterdam vom 8. Juli 2008 in den Niederlanden das Konkursverfahren eröffnet wurde.

26      Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass der Ausdruck „die Bedingungen, die … vorgesehen sind“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung, der auf die Voraussetzungen verweist, die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in diesem Staat verhindern, dahin auszulegen ist, dass er sich nicht auf die Voraussetzungen bezieht, nach denen bestimmte Personen aus dem Kreis derjenigen ausgeschlossen sind, die befugt sind, die Eröffnung eines solchen Verfahrens zu beantragen.

 Zur zweiten Frage

27      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Gläubiger“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung, der den Kreis der Personen bezeichnet, die befugt sind, die Eröffnung eines unabhängigen Partikularverfahrens zu beantragen, dahin auszulegen ist, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats umfasst, die nach dessen nationalem Recht den Auftrag hat, im Allgemeininteresse und zu dem Zeck zu handeln, das Interesse der Gesamtheit der Gläubiger zu wahren.

28      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff des Gläubigers in der Verordnung nicht definiert wird.

29      Hinzuweisen ist auch darauf, dass aus den in den Randnrn. 21 und 22 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen auch die Voraussetzungen für die Eröffnung eines unabhängigen Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung eng auszulegen sind.

30      Dieser restriktive Ansatz ergibt sich aus dem Vergleich der genannten Vorschrift mit Art. 29 der Verordnung, der sich auf das Recht bezieht, die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen. Während die letztgenannte Vorschrift dieses Recht dem Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens und jeder anderen Person oder Stelle einräumt, der das Antragsrecht nach dem Recht des Mitgliedstaats zusteht, in dem der Eröffnungsantrag gestellt wird, beschränkt Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung den Kreis der antragsberechtigten Personen auf ganz bestimmte Gläubiger, die eine besondere Verbindung zu dem Mitgliedstaat haben, in dem sich die betreffende Niederlassung des Schuldners befindet. Es handelt sich dabei um die in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gläubiger und die Gläubiger dieser Niederlassung.

31      Was die belgische Staatsanwaltschaft betrifft, ist mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass sie, da sie keinerlei eigene Forderung gegen den Schuldner hat, in den Insolvenzverfahren nicht Gläubiger im gewöhnlichen Wortsinn ist.

32      Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass die Staatsanwaltschaft im Rahmen dieser Verfahren den Auftrag hat, im Interesse der Allgemeinheit zu handeln. Das Eingreifen dieser öffentlichen Stelle gewährleiste, dass Schwierigkeiten eines Unternehmens rechtzeitig in Angriff genommen würden, indem gegebenenfalls die Untätigkeit des Schuldners und seiner Gläubiger kompensiert werde. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass das Tätigwerden der Staatsanwaltschaft in bestimmten Fällen im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger oder zumindest einiger Gläubiger liegt, scheint es so zu sein, dass diese Stelle weder in der Eigenschaft eines Gläubigers noch in der Eigenschaft eines Vertreters der Gesamtheit der Gläubiger tätig wird. Denn in der Vorlageentscheidung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft nach belgischem Recht nicht im Namen und für Rechnung der Gläubiger handle.

33      In Anbetracht dessen, dass Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung eng auszulegen ist, kann eine staatliche Stelle, die unter diesen Voraussetzungen handelt, nicht einem Gläubiger im Sinne dieser Vorschrift gleichgestellt und folglich auch nicht in den Kreis der Personen eingeschlossen werden, die befugt sind, die Eröffnung eines Partikularinsolvenzverfahrens zu beantragen.

34      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Begriff „Gläubiger“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung, der den Kreis der Personen bezeichnet, die befugt sind, die Eröffnung eines unabhängigen Partikularverfahrens zu beantragen, dahin auszulegen ist, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die nach dessen nationalem Recht den Auftrag hat, im Allgemeininteresse zu handeln, aber weder als Gläubiger noch im Namen und für Rechnung der Gläubiger eingreift, nicht umfasst.

 Zur dritten Frage

35      Angesichts der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

36      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der Ausdruck „die Bedingungen, die … vorgesehen sind“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren, der auf die Voraussetzungen verweist, die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in diesem Staat verhindern, ist dahin auszulegen, dass er sich nicht auf die Voraussetzungen bezieht, nach denen bestimmte Personen aus dem Kreis derjenigen ausgeschlossen sind, die befugt sind, die Eröffnung eines solchen Verfahrens zu beantragen.

2.      Der Begriff „Gläubiger“ in Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der genannten Verordnung, der den Kreis der Personen bezeichnet, die befugt sind, die Eröffnung eines unabhängigen Partikularverfahrens zu beantragen, ist dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die nach dessen nationalem Recht den Auftrag hat, im Allgemeininteresse zu handeln, aber weder als Gläubiger noch im Namen und für Rechnung der Gläubiger eingreift, nicht umfasst.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.

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