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Dokument 62010CJ0506

Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 6. Oktober 2011.
Rico Graf und Rudolf Engel gegen Landratsamt Waldshut.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Amtsgericht Waldshut-Tiengen - Deutschland.
Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit - Gleichbehandlung - Selbständige Grenzgänger - Landpachtvertrag - Agrarstruktur - Regelung eines Mitgliedstaats, nach der der Vertrag beanstandet werden kann, wenn die im nationalen Hoheitsgebiet von Schweizer Landwirten als Grenzgänger erzeugten Produkte zur zollfreien Ausfuhr in die Schweiz bestimmt sind.
Rechtssache C-506/10.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-09345

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2011:643

Rechtssache C‑506/10

Rico Graf und Rudolf Engel

gegen

Landratsamt Waldshut

(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen)

„Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Gleichbehandlung – Selbständige Grenzgänger – Landpachtvertrag – Agrarstruktur – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der der Vertrag beanstandet werden kann, wenn die im nationalen Hoheitsgebiet von Schweizer Landwirten als Grenzgänger erzeugten Produkte zur zollfreien Ausfuhr in die Schweiz bestimmt sind“

Leitsätze des Urteils

Völkerrechtliche Verträge – Abkommen EG-Schweiz über die Freizügigkeit – Gleichbehandlung – Zugang zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung – Selbständige Grenzgänger

(Abkommen EG-Schweiz über die Freizügigkeit, Anhang I, Art. 15 Abs. 1)

Der in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung steht einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats einen zwischen einer dort ansässigen Person und einem in dem anderen Vertragsstaat ansässigen Grenzgänger geschlossenen Landpachtvertrag über ein Grundstück, das in einem bestimmten Bereich des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats gelegen ist, aus dem Grund beanstanden kann, dass das gepachtete Grundstück der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte dient, die zollfrei aus dem Binnenmarkt der Union ausgeführt werden sollen, und dadurch Wettbewerbsverzerrungen entstehen, dann entgegen, wenn diese Regelung in ihrer Anwendung eine erheblich größere Zahl von Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaats berührt als Staatsangehörige des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Regelung gilt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies zutrifft.

(vgl. Randnr. 36 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

6. Oktober 2011(*)

„Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Gleichbehandlung – Selbständige Grenzgänger – Landpachtvertrag – Agrarstruktur – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der der Vertrag beanstandet werden kann, wenn die im nationalen Hoheitsgebiet von Schweizer Landwirten als Grenzgänger erzeugten Produkte zur zollfreien Ausfuhr in die Schweiz bestimmt sind“

In der Rechtssache C‑506/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Waldshut-Tiengen (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Oktober 2010, in dem Verfahren

Rico Graf,

Rudolf Engel

gegen

Landratsamt Waldshut

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters D. Šváby, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und J. Malenovský,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Engel, vertreten durch Rechtsanwalt H. Hanschmann,

–        des Landratsamts Waldshut, vertreten durch Rechtsanwalt M. Núñez-Müller,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und S. Pardo Quintillán als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999 (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Graf, einem Schweizer Staatsangehörigen, und Herrn Engels, einem deutschen Staatsangehörigen, einerseits und dem Landratsamt Waldshut andererseits über dessen Weigerung, den zwischen den beiden Erstgenannten geschlossenen Landpachtvertrag nach den geltenden Rechtsvorschriften zu genehmigen.

 Rechtlicher Rahmen

 Abkommen

3        Nach Art. 1 Buchst. a und d des Abkommens besteht dessen Ziel u. a. in der Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und der Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

4        Art. 2 („Nichtdiskriminierung“) bestimmt:

„Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, werden bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert.“

5        In Art. 7 („Sonstige Rechte“) heißt es:

„Die Vertragsparteien regeln insbesondere die folgenden mit der Freizügigkeit zusammenhängenden Rechte gemäß Anhang I:

a)      Recht auf Gleichbehandlung mit den Inländern in Bezug auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung sowie auf die Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen;

…“

6        Art. 13 („Stand still“) sieht vor:

„Die Vertragsparteien verpflichten sich, in den unter dieses Abkommen fallenden Bereichen keine neuen Beschränkungen für Staatsangehörige der anderen Vertragspartei einzuführen.“

7        Art. 16 („Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht“) lautet:

„1.      Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden.

2.      Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt. Über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest.“

8        Anhang I des Abkommens ist der Freizügigkeit gewidmet. In Art. 2 („Aufenthalt und Erwerbstätigkeit“) heißt es:

„1.      Unbeschadet der für die Übergangszeit gemäß Artikel 10 dieses Abkommens und Kapitel VII dieses Anhangs geltenden Bestimmungen haben die Staatsangehörigen einer Vertragspartei das Recht, sich nach Maßgabe der Kapitel II bis IV im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufzuhalten und dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Zum Nachweis dieses Rechts wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt oder eine Sonderbescheinigung für Grenzgänger ausgestellt.

…“

9        Art. 5 („Öffentliche Ordnung“) dieses Anhangs sieht in Abs. 1 vor:

„Die aufgrund dieses Abkommens eingeräumten Rechte dürfen nur durch Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden.“

10      Kapitel III des genannten Anhangs ist den „Selbständigen“ gewidmet, bei denen es sich nach der Definition in Art. 12 Abs. 1 dieses Kapitels um Staatsangehörige einer Vertragspartei handelt, die sich zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen wollen.

11      Art. 13 („Selbständige Grenzgänger“) des genannten Kapitels bestimmt in seinem Abs. 1:

„Ein selbständiger Grenzgänger ist ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.“

12      Art. 15 („Gleichbehandlung“) dieses Kapitels sieht in Abs. 1 vor:

„Dem Selbständigen wird im Aufnahmestaat hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung eine Behandlung gewährt, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.“

13      Art. 25, einziger Artikel des Kapitels VI („Erwerb von Immobilien“) des Anhangs I des Abkommens, bestimmt in Abs. 3:

„Ein Grenzgänger hat hinsichtlich des Erwerbs einer für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit dienenden Immobilie und einer Zweitwohnung die gleichen Rechte wie die Inländer; diese Rechte bedingen keine Veräußerungspflicht beim Verlassen des Aufnahmestaates. Ferner kann ihm der Erwerb einer Ferienwohnung gestattet werden. Für diese Kategorie von Staatsangehörigen lässt dieses Abkommen die geltenden Regeln des Aufnahmestaates für die bloße Kapitalanlage und den Handel mit unbebauten Grundstücken und Wohnungen unberührt.“

 Nationales Recht

14      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass der Abschluss eines Landpachtvertrags nach § 2 des Gesetzes über die Anzeige und Beanstandung von Landpachtverträgen (Landpachtverkehrsgesetz – LPachtVG) vom 8. November 1985 (BGBl. I S. 2075) binnen eines Monats der zuständigen Behörde, dem Landratsamt, anzuzeigen ist. Diese Behörde kann den angezeigten Pachtvertrag nach § 4 Abs. 1 LPachtVG beanstanden, wenn die Verpachtung zu einer „ungesunden“ Verteilung der Bodennutzung oder einer in der Nutzung unwirtschaftlichen Aufteilung von Grundstücken führt oder wenn die Pacht nicht in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht. Nach § 4 Abs. 6 LPachtVG können die Länder für bestimmte Teile ihres Landesgebiets weitere Beanstandungsgründe bestimmen, soweit dies zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für die Agrarstruktur zwingend erforderlich ist.

15      Das Land Baden-Württemberg hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und das Ausführungsgesetz zum Grundstücksverkehrsgesetz und zum Landpachtverkehrgesetz (AGGrdstVG) in der Fassung vom 21. Februar 2006 (GBl. S. 85) erlassen, dessen § 6 Abs. 1a lautet:

„Der Landpachtvertrag kann in dem betroffenen Landesteil zur Abwehr erheblicher Gefahren für die Agrarstruktur über die in § 4 des Landpachtverkehrsgesetzes genannten Gründe hinaus auch beanstandet werden, wenn das verpachtete Grundstück der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte dient, die außerhalb des Gemeinsamen Marktes zollfrei verbracht werden, und dadurch Wettbewerbsverzerrungen entstehen.“

16      Zum 1. Juli 2010 wurde das AGGrdstVG durch das Gesetz über Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur in Baden-Württemberg vom 10. November 2009 (GBl. S. 645) ersetzt, dessen § 13 Abs. 3 Satz 2 mit § 6 Abs. 1a AGGrdstVG inhaltlich übereinstimmt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

17      Am 22. April 2010 legten Herr Graf, Schweizer Landwirt mit Betriebssitz in der Schweiz, im Grenzgebiet zu Deutschland, und Herr Engel, Eigentümer von in Baden-Württemberg gelegenen landwirtschaftlichen Flächen, dem Landratsamt Waldshut einen am 26. Februar 2006 unterzeichneten Landpachtvertrag zur Genehmigung vor. Gemäß diesem Vertrag verpachtet Herr Engel an Herrn Graf im Grenzgebiet zur Schweiz gelegenes Ackerland mit einer Fläche von 369 Ar für einen jährlichen Pachtzins von 1 200 Euro. Herr Graf möchte die auf diesem Land erzeugten Produkte in die Schweiz ausführen.

18      Mit Bescheid vom 17. Juni 2010 beanstandete das Landratsamt Waldshut den Pachtvertrag und forderte die Vertragsparteien auf, diesen unverzüglich aufzuheben. Es wies zwar darauf hin, dass Schweizer Landwirte als selbständige Grenzgänger den deutschen Landwirten bei Genehmigungsverfahren nach dem Landpachtverkehrsgesetz gleichgestellt seien, stützte die Versagung der Genehmigung aber gleichwohl auf § 6 Abs. 1a AGGrdstVG. Das Landratsamt Waldshut führte aus, dass eine Wettbewerbsverzerrung vorliege und dass deutsche Landwirte, die Aufstockungsbedarf hätten, ihr Interesse an der Anpachtung des fraglichen Grundstücks zum ortsüblichen Pachtpreis angezeigt hätten. Damit liege eine ungesunde Verteilung von Grund und Boden vor.

19      Gegen diesen Bescheid stellten Herr Graf und Herr Engel beim Amtsgericht Waldshut-Tiengen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und machten u. a. geltend, § 6 Abs. 1a AGGrdstVG verstoße gegen das Abkommen.

20      Das vorlegende Gericht geht von einer Wettbewerbsverzerrung aus, da Herr Graf für in Deutschland erzeugte Produkte in der Schweiz wesentlich mehr erlösen könne als in Deutschland. Nach Ansicht dieses Gerichts wäre die Beanstandung des Landratsamts Waldshut wirksam, wenn § 6 Abs. 1a AGGrdstVG mit dem Abkommen vereinbar wäre.

21      Das Amtsgericht Waldshut‑Tiengen hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist § 6 Abs. 1a AGGrdstVG mit dem Abkommen vereinbar?

 Zur Vorlagefrage

22      Es ist festzustellen, dass die Situation eines Landwirts und selbständigen Grenzgängers, der im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei niedergelassen ist und im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei eine landwirtschaftliche Fläche pachtet, ungeachtet des Zwecks der wirtschaftlichen Tätigkeit, der der Landpachtvertrag dient, in den Anwendungsbereich des Abkommens fällt.

23      Nach der Rechtsprechung gilt der in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung betreffend den Zugang zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung nicht nur für „Selbständige“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 dieses Anhangs, sondern auch für „selbständige Grenzgänger“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 dieses Anhangs, wie z. B. Schweizer Landwirte, die Grenzgänger sind (vgl. Urteil vom 22. Dezember 2008, Stamm und Hauser, C‑13/08, Slg. 2008, I‑11087, Randnrn. 47 bis 49 und Tenor).

24      Folglich ist zu prüfen, ob der Grundsatz der Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung, der für selbständige Grenzgänger in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens normiert ist, einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.

25      Die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung führt ihrem Wortlaut nach nicht zu einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da die zuständige Behörde die Landpachtverträge unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Vertragsparteien beanstanden kann, wenn die Voraussetzungen dieser Regelung vorliegen.

26      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verbietet der Grundsatz der Gleichbehandlung, der ein Begriff des Unionsrechts ist, allerdings nicht nur offensichtliche, sondern auch versteckte Formen der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. dazu beispielsweise Urteil vom 12. September 1996, Kommission/Belgien, C‑278/94, Slg. 1996, I‑4307, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Rechtsprechung, die bereits vor der Unterzeichnung des Abkommens bestand, gilt nach seinem Art. 16 Abs. 2 auch für das Abkommen selbst.

27      Zu der Frage, ob die Voraussetzungen, die die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung für das Verbot eines Landpachtvertrags aufstellt, faktisch zu einer mittelbaren Diskriminierung führen, ist lediglich festzustellen, dass insoweit, als sich unter den in der Schweiz ansässigen Grenzgängern, die in Deutschland landwirtschaftliche Flächen bewirtschaften, eine erheblich größere Zahl von Schweizer Staatsangehörigen als deutschen Staatsangehörigen findet, eine solche mittelbare Diskriminierung vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 1996, Asscher, C‑107/94, Slg. 1996, I‑3089, Randnrn. 37 und 38).

28      Die Voraussetzungen, die die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung vorsieht, würden sich damit hauptsächlich zum Nachteil der Schweizer Landwirte auswirken.

29      Wird eine solche Diskriminierung festgestellt, ist zu prüfen, ob sie durch einen der im Abkommen vorgesehenen Gründe gerechtfertigt werden kann.

30      Zunächst ist zu betonen, dass die vom Landratsamt Waldshut angeführten Wettbewerbsverzerrungen, die es damit begründet, dass Schweizer Landwirte, die wie Herr Graf Grenzgänger sind, für in Deutschland erzeugte Produkte in der Schweiz wesentlich mehr erlösen könnten als in Deutschland, kein in Art. 5 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens vorgesehener Grund sind, der geltend gemacht werden könnte, um die aufgrund des Abkommens eingeräumten Rechte einzuschränken.

31      Das Landratsamt Waldshut beruft sich außerdem auf das Ziel der Raumordnung als Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens.

32      Nach dieser Vorschrift stellt die öffentliche Ordnung einen Grund dar, aus dem die aufgrund des Abkommens eingeräumten Rechte eingeschränkt werden können. Zwar steht es den Vertragsstaaten im Wesentlichen weiterhin frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Staat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert, doch kann die Tragweite dieser Anforderungen nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch den Gerichtshof bestimmt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, Slg. 2008, I‑5157, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Licht dieser Feststellung muss der Begriff „öffentliche Ordnung“ im Kontext des Abkommens und entsprechend den damit verfolgten Zielen gesehen und ausgelegt werden.

33      Das Abkommen steht in einem allgemeineren Rahmen der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die sich zwar nicht für die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum und am Binnenmarkt der Union entschieden hat, aber gleichwohl durch eine Vielzahl von Abkommen mit dieser verbunden ist, die weite Bereiche abdecken und spezifische Rechte und Pflichten vorsehen, die in mancher Hinsicht den im Vertrag festgelegten entsprechen. Die allgemeine Zielsetzung dieser Abkommen, einschließlich des im Ausgangsverfahren fraglichen, besteht darin, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu intensivieren. Daher sind die in Art. 5 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens abschließend aufgeführten Gründe als Rechtfertigungsgründe für eine Ausnahme von dessen grundlegenden Regeln wie dem Grundsatz der Gleichbehandlung eng auszulegen.

34      In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass die Raumordnung und die angemessene Aufteilung landwirtschaftlicher Flächen zwar unter bestimmten Umständen ein berechtigtes Ziel des Allgemeininteresses darstellen können, Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren fraglichen, die die Anpachtung landwirtschaftlicher Flächen betreffen, jedoch unter keinen Umständen dem Begriff „öffentliche Ordnung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens zugeordnet werden und die aufgrund dieses Abkommens eingeräumten Rechte einschränken können.

35      Hinzuzufügen ist, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die diskriminierend wäre, als neue Beschränkung auch gegen die „Stand-still“‑Klausel in Art. 13 des Abkommens verstieße.

36      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats einen zwischen einer dort ansässigen Person und einem in dem anderen Vertragsstaat ansässigen Grenzgänger geschlossenen Landpachtvertrag über ein Grundstück, das in einem bestimmten Bereich des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats gelegen ist, aus dem Grund beanstanden kann, dass das gepachtete Grundstück der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte dient, die zollfrei aus dem Binnenmarkt der Union ausgeführt werden sollen, und dadurch Wettbewerbsverzerrungen entstehen, dann entgegensteht, wenn diese Regelung in ihrer Anwendung eine erheblich größere Zahl von Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaats berührt als Staatsangehörige des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Regelung gilt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies zutrifft.

 Kosten

37      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Der in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung steht einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats einen zwischen einer dort ansässigen Person und einem in dem anderen Vertragsstaat ansässigen Grenzgänger geschlossenen Landpachtvertrag über ein Grundstück, das in einem bestimmten Bereich des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats gelegen ist, aus dem Grund beanstanden kann, dass das gepachtete Grundstück der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte dient, die zollfrei aus dem Binnenmarkt der Union ausgeführt werden sollen, und dadurch Wettbewerbsverzerrungen entstehen, dann entgegen, wenn diese Regelung in ihrer Anwendung eine erheblich größere Zahl von Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaats berührt als Staatsangehörige des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Regelung gilt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies zutrifft.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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