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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62010CJ0095

    Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 17. März 2011.
    Strong Segurança SA gegen Município de Sintra und Securitas-Serviços e Tecnologia de Segurança.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Supremo Tribunal Administrativo - Portugal.
    Öffentliche Dienstleistungsaufträge - Richtlinie 2004/18/EG - Art. 47 Abs. 2 - Unmittelbare Wirkung - Anwendbarkeit auf in Anhang II Teil B der Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen.
    Rechtssache C-95/10.

    Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-01865

    ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2011:161

    Rechtssache C‑95/10

    Strong Segurança SA

    gegen

    Município de Sintra

    und

    Securitas-Serviços e Tecnologia de Segurança

    (Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo)

    „Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 47 Abs. 2 – Unmittelbare Wirkung – Anwendbarkeit auf in Anhang II Teil B der Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen“

    Leitsätze des Urteils

    Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge – Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B der Richtlinie 2004/18

    (Richtlinie 2004/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 47 Abs. 2 und Anhang II Teil B)

    Die Richtlinie 2004/18 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, Art. 47 Abs. 2 dieser Richtlinie auch auf Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B dieser Richtlinie anzuwenden. Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten und unter Umständen die öffentlichen Auftraggeber jedoch nicht daran, in ihren Rechtsvorschriften bzw. in den Auftragsunterlagen eine solche Anwendung vorzusehen.

    (vgl. Randnr. 46 und Tenor)







    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    17. März 2011(*)

    „Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 47 Abs. 2 – Unmittelbare Wirkung – Anwendbarkeit auf in Anhang II Teil B der Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen“

    In der Rechtssache C‑95/10

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Portugal) mit Entscheidung vom 20. Januar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2010, in dem Verfahren

    Strong Segurança SA

    gegen

    Município de Sintra,

    Securitas-Serviços e Tecnologia de Segurança

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, J. Malenovský und T. von Danwitz,

    Generalanwalt: J. Mazák,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    –        der Strong Segurança SA, vertreten durch C. Varela Pinto und M. J. Oliveira e Carmo, advogadas,

    –        des Município de Sintra, vertreten durch N. Cárcomo Lobo und M. Vaz Loureiro, advogados,

    –        der Securitas-Serviços e Tecnologia de Segurança, vertreten durch A. Calapez, advogada,

    –        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello, avvocato dello Stato,

    –        der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann als Bevollmächtigten,

    –        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Kukovec und G. Braga da Cruz als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der relevanten Bestimmungen der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114).

    2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Strong Segurança SA (im Folgenden: Strong Segurança) und dem Município de Sintra (Gemeinde Sintra, Portugal) wegen der Vergabe eines Auftrags über die Erbringung von Wach‑ und Sicherheitsdiensten für die Einrichtungen dieser Gemeinde.

     Rechtlicher Rahmen

     Die relevanten Vorschriften der Richtlinie 2004/18

    3        Die Erwägungsgründe 18 und 19 der Richtlinie lauten:

    „(18) Der Dienstleistungsbereich lässt sich für die Anwendung der Regeln dieser Richtlinie und zur Beobachtung am besten durch eine Unterteilung in Kategorien in Anlehnung an bestimmte Positionen einer gemeinsamen Nomenklatur beschreiben und in zwei Anhängen, II Teil A und II Teil B, nach der für sie geltenden Regelung zusammenfassen. Für die in Anhang II Teil B genannten Dienstleistungen sollten die Bestimmungen dieser Richtlinie unbeschadet der Anwendung besonderer gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen für die jeweiligen Dienstleistungen gelten.

    (19)      Die volle Anwendung dieser Richtlinie auf Dienstleistungsaufträge sollte für eine Übergangszeit auf Aufträge beschränkt werden, bei denen ihre Bestimmungen dazu beitragen, alle Möglichkeiten für eine Zunahme des grenzüberschreitenden Handels voll auszunutzen. Aufträge für andere Dienstleistungen sollten in diesem Übergangszeitraum beobachtet werden, bevor die volle Anwendung dieser Richtlinie beschlossen werden kann. Es ist daher ein entsprechendes Beobachtungsinstrument zu schaffen. Dieses Instrument sollte gleichzeitig den Betroffenen die einschlägigen Informationen zugänglich machen.“

    4        Art. 1 Abs. 2 Buchst. d Satz 1 sieht vor:

    „‚Öffentliche Dienstleistungsaufträge‘ sind öffentliche Aufträge über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Anhang II, die keine öffentlichen Bau‑ oder Lieferaufträge sind.“

    5        Art. 2 („Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen“) bestimmt:

    „Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“

    6        Art. 4 („Wirtschaftsteilnehmer“) sieht in Abs. 2 vor:

    „Angebote oder Anträge auf Teilnahme können auch von Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern eingereicht werden. Die öffentlichen Auftraggeber können nicht verlangen, dass nur Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die eine bestimmte Rechtsform haben, ein Angebot oder einen Antrag auf Teilnahme einreichen können; allerdings kann von der ausgewählten Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern verlangt werden, dass sie eine bestimmte Rechtsform annimmt, wenn ihr der Zuschlag erteilt worden ist, sofern dies für die ordnungsgemäße Durchführung des Auftrags erforderlich ist.“

    7        Titel II Kapitel III („Regelungen für öffentliche Dienstleistungsaufträge“) enthält die Art. 20 bis 22.

    8        Art. 20 („Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil A“) sieht vor:

    „Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil A werden nach den Artikeln 23 bis 55 vergeben.“

    9        Art. 21 („Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B“) lautet:

    „Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B unterliegen nur Artikel 23 und Artikel 35 Absatz 4.“

    10      Art. 23, der in Kapitel IV („Besondere Vorschriften über die Verdingungsunterlagen und die Auftragsunterlagen“) steht, betrifft die technischen Spezifikationen, die in den Auftragsunterlagen enthalten sein müssen, damit sie allen Bietern gleichermaßen zugänglich sind und die Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte für den Wettbewerb nicht in ungerechtfertigter Weise behindert wird; Art. 35 Abs. 4, der in Kapitel VI („Vorschriften über die Veröffentlichung und die Transparenz“) enthalten ist, bezieht sich auf die Informationspflichten der öffentlichen Auftraggeber bezüglich der Ergebnisse des Verfahrens zur Vergabe eines Auftrags.

    11      In Anhang II Teil B Kategorie 23 sind „Auskunfts‑ und Schutzdienste, …“ aufgeführt.

    12      Art. 47 („Wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit“) sieht in Abs. 2 vor:

    „Ein Wirtschaftsteilnehmer kann sich gegebenenfalls für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen stützen. Er muss in diesem Falle dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber nachweisen, dass ihm die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, indem er beispielsweise die diesbezüglichen Zusagen dieser Unternehmen vorlegt.“

    13      Art. 48 („Technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit“) enthält einen Abs. 3, der inhaltlich im Wesentlichen der vorstehend genannten Bestimmung entspricht.

    14      Nach Art. 80 Abs. 1 mussten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften erlassen, um der Richtlinie 2004/18 spätestens am 31. Januar 2006 nachzukommen, und die Europäische Kommission unverzüglich davon unterrichten.

     Nationales Recht

    15      Die Richtlinie 2004/18 wurde durch das Decreto-Lei Nr. 18/2008 vom 29. Januar 2008 über den Erlass des Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge (Código dos Contratos Públicos), das sechs Monate nach seiner am selben Tag erfolgten Veröffentlichung in Kraft getreten ist, in portugiesisches Recht umgesetzt.

     Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    16      Mit einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 15. Juli 2008 veröffentlichte das Município de Sintra eine internationale öffentliche Ausschreibung zur Beschaffung von Wach‑ und Sicherheitsdiensten für kommunale Einrichtungen für die Jahre 2009 und 2010. Die Einzelheiten dieser Ausschreibung waren in den betreffenden Auftrags‑ und Verdingungsunterlagen geregelt, und der Zuschlag sollte nach dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Gesamtangebots erfolgen.

    17      Strong Segurança gab im Rahmen dieser Ausschreibung ein Gebot ab und legte zu diesem Zweck die erforderlichen Unterlagen vor. Sie fügte ihrem Gebot ferner eine Patronatserklärung der Trivalor (SGPS) SA (im Folgenden: Trivalor) bei, in der diese Folgendes erklärt:

    „Da Trivalor Strong Segurança zu 100 % unmittelbar beherrscht, haftet sie nach dem Gesetz über Handelsgesellschaften (Código das Sociedades Comerciais) für die Erfüllung der Verpflichtungen von Strong Segurança.

    In diesem Sinne erklären wir, dass wir uns dazu verpflichten,

    –        zu gewährleisten, dass Strong Segurança über die technischen und finanziellen Mittel verfügt, die für die ordnungsgemäße Erfüllung der aus dem Vergabeverfahren resultierenden Verpflichtungen erforderlich sind;

    –        der Câmara Municipal de Sintra alle Schäden zu ersetzen, die ihr dadurch entstehen, dass die vertraglichen Verpflichtungen, sollte Strong Segurança den Zuschlag erhalten, nicht ordnungsgemäß erfüllt werden.“

    18      Der Vergabeausschuss hatte sich zunächst dafür ausgesprochen, Strong Segurança den Zuschlag zu erteilen, weil deren Gebot bei der Abwägung am besten abgeschnitten habe. Auf die Beschwerde einer Wettbewerberin hin änderte sie jedoch ihre Beurteilung und schlug vor, der Wettbewerberin, die die Beschwerde erhoben hatte, den Zuschlag zu erteilen, da sie der Ansicht war, dass Strong Segurança sich nicht auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit eines Drittunternehmens wie Trivalor berufen könne. In seiner Beratung vom 11. Februar 2009 nahm das Município de Sintra diesen Vorschlag an und entschied, die betreffende Wettbewerberin für die Jahre 2009 und 2010 mit der Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich die Ausschreibung bezog, zu beauftragen.

    19      Die Klage von Strong Segurança gegen diese Entscheidung wurde vom Tribunal Administrativo e Fiscal de Sintra abgewiesen; dieses Urteil wurde durch Urteil des Tribunal Central Administrativo Sul vom 10. September 2009 bestätigt. Strong Segurança hat daraufhin beim Supremo Tribunal Administrativo Rechtsmittel gegen dieses Urteil eingelegt.

    20      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Kernfrage, die sich in der vorliegenden Rechtssache stelle, diejenige sei, ob Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 auch auf in Anhang II Teil B dieser Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen wie diejenigen, um die es in dem im Ausgangsverfahren fraglichen Verfahren gehe, anwendbar sei. Es weist jedoch darauf hin, dass zum einen dieses Verfahren vor Inkrafttreten des Decreto-Lei Nr. 18/2008 eingeleitet worden sei und zum anderen die Frist zur Umsetzung der Richtlinie bei der Eröffnung dieses Verfahrens bereits abgelaufen gewesen sei.

    21      Die erste Frage, die sich hierzu stelle, sei somit die nach der unmittelbaren Wirkung von Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass der erste Teil dieser Bestimmung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend klar, eindeutig und unbedingt sei, so dass er den Mitgliedstaaten keinerlei Gestaltungsbefugnis verleihe. Hinsichtlich des zweiten Teils dieser Bestimmung hat das vorlegende Gericht jedoch Zweifel, da dieser Teil den Mitgliedstaaten in Bezug auf die zu beweisenden Tatsachen sowie die Beweismittel, die der öffentliche Auftraggeber vom Wirtschaftsteilnehmer für den Nachweis seiner wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit verlangen könne, wenn dieser sich auf die Kapazitäten anderer Unternehmen stütze, einen gewissen Ermessensspielraum zu lassen scheine.

    22      Die zweite in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfene Frage sei die nach der Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18, auf die sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Antwort finde. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts führt eine rein am Wortlaut orientierte Auslegung dieser Bestimmung zu dem Ergebnis, dass diese nur auf Aufträge über in Anhang II Teil A aufgeführte Dienstleistungen anwendbar sei. In diesem Fall wären für Aufträge über in Anhang II Teil B aufgeführte Dienstleistungen jedoch so wesentliche Bestimmungen der Richtlinie 2004/18 wie z. B. diejenigen über die Festlegung der Eignungskriterien der Bewerber (Art. 45 bis 52) und der Zuschlagskriterien (Art. 53 bis 55) nicht anwendbar.

    23      Da das Supremo Tribunal Administrativo Zweifel an der Richtigkeit dieser Auslegung hegt, hat es in dem Bewusstsein, dass es in letzter Instanz entscheidet, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.      Ist Art. 47 der Richtlinie 2004/18 nach dem 31. Januar 2006 im innerstaatlichen Recht in dem Sinne unmittelbar anwendbar, dass er Einzelnen ein Recht verleiht, das diese gegenüber den portugiesischen Verwaltungsorganen geltend machen können?

    2.      Wenn ja, ist die genannte Bestimmung trotz der Regelung des Art. 21 der genannten Richtlinie auf Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B der Richtlinie 2004/18 anwendbar?

     Zu den Vorlagefragen

     Zur zweiten Frage

    24      Mit dieser Frage, die zuerst zu beantworten ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 auch auf Aufträge über in Anhang II Teil B dieser Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen anwendbar ist, obwohl sich eine solche Anwendbarkeit aus dem Wortlaut der übrigen relevanten Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere aus Art. 21, nicht ergibt.

    25      Für die Beantwortung dieser Frage ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung von Dienstleistungsaufträgen nach ihrer Zuordnung zu zwei gesonderten Kategorien nicht durch die Richtlinie 2004/18 neu eingeführt wurde. Sie bestand bereits unter der Geltung der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1), die durch die Richtlinie 2004/18 neu gefasst und kodifiziert wurde.

    26      Ferner ist anzumerken, dass bereits in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2004/18 eindeutig darauf hingewiesen wird, dass bei Dienstleistungsaufträgen danach zu unterscheiden ist, ob sie in Anhang II Teil A oder in Anhang II Teil B der genannten Richtlinie aufgeführt sind.

    27      So heißt es im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18, dass die Dienstleistungen für die Anwendung der Regeln dieser Richtlinie in Kategorien zu unterteilen und in zwei Anhängen, II Teil A und II Teil B, nach der für sie geltenden Regelung zusammenzufassen sind.

    28      Der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 bringt den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck, die volle Anwendung dieser Richtlinie für eine Übergangszeit auf Dienstleistungsaufträge zu beschränken, bei denen ihre Bestimmungen dazu beitragen, alle Möglichkeiten für eine Zunahme des grenzüberschreitenden Handels voll auszunutzen – es handelt sich dabei um die Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil A –, und für die übrigen Aufträge – diejenigen über in Anhang II Teil B aufgeführte Dienstleistungen – in diesem Übergangszeitraum eine Beobachtungsregelung vorzusehen, bevor die volle Anwendung der Richtlinie 2004/18 auf diese Aufträge beschlossen werden kann.

    29      Diese in den vorstehend genannten Erwägungsgründen erwähnte Unterteilung der Dienstleistungsaufträge wird in den Bestimmungen der Richtlinie 2004/18 näher erläutert.

    30      Art. 20 sieht vor, dass für Aufträge über in Anhang II Teil A aufgeführte Dienstleistungen praktisch alle Bestimmungen dieser Richtlinie anwendbar sind, während Art. 21 lediglich auf die Art. 23 und 35 Abs. 4 verweist und somit für Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B „nur“ die Verpflichtung der öffentlichen Auftraggeber bezüglich der technischen Spezifikationen für diese Aufträge sowie die Verpflichtung dieser Auftraggeber, der Kommission die Ergebnisse der Verfahren zur Vergabe dieser Aufträge mitzuteilen, vorsieht.

    31      Entgegen dem Vorbringen von Strong Segurança ergeben sich aus dem Wortlaut der Bestimmungen der Richtlinie 2004/18 oder dem Sinn und Zweck sowie der Systematik dieser Richtlinie keine Anhaltspunkte dafür, dass der Unterteilung der Dienstleistungen in zwei Kategorien eine Unterscheidung zwischen „materiell‑rechtlichen Vorschriften“ und „Verfahrensvorschriften“ dieser Richtlinie zugrunde läge. Wie die Kommission zu Recht ausführt, könnte eine solche Unterteilung im Übrigen zu Rechtsunsicherheit in Bezug auf den Anwendungsbereich der verschiedenen Bestimmungen der genannten Richtlinie führen.

    32      Die in den einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften vorgesehene Unterscheidung zwischen den für öffentliche Dienstleistungsaufträge geltenden Regelungen nach der Einordnung der Dienstleistungen in zwei gesonderte Kategorien wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt.

    33      So hat der Gerichtshof entschieden, dass die Einreihung von Dienstleistungen in die Anhänge IA und IB der Richtlinie 92/50 (die Anhang II Teil A und Anhang II Teil B der Richtlinie 2004/18 entsprechen) dem System dieser Richtlinie entspricht, das eine Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie auf zwei Ebenen vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2002, Felix Swoboda, C‑411/00, Slg. 2002, I‑10567, Randnr. 55).

    34      Außerdem hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Richtlinie 92/50 entschieden, dass öffentliche Auftraggeber bei Aufträgen, die unter Anhang IB fallende Dienstleistungen betreffen, lediglich verpflichtet sind, unter Bezugnahme auf innerstaatliche Normen, die europäische Normen umsetzen, technische Spezifikationen festzulegen, die in den allgemeinen Unterlagen oder in den Vertragsunterlagen für jeden einzelnen Auftrag enthalten sein müssen, und dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (OPOCE) eine Bekanntmachung über die Ergebnisse dieser Vergabeverfahren zu schicken (vgl. Urteil vom 13. November 2007, Kommission/Irland, C‑507/03, Slg. 2007, I‑9777, Randnr. 24).

    35      Der Gerichtshof hat nämlich darauf hingewiesen, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgegangen ist, dass Aufträgen über Dienstleistungen des Anhangs IB der Richtlinie 92/50 wegen ihres spezifischen Charakters a priori keine hinreichende grenzüberschreitende Bedeutung zukommt, die es rechtfertigen kann, dass sie in einem Ausschreibungsverfahren vergeben werden, das es den Unternehmen anderer Mitgliedstaaten ermöglichen soll, von der Ausschreibung Kenntnis zu nehmen und ein Angebot einzureichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Irland, Randnr. 25). Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass auch für diese Aufträge, wenn an ihnen ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht, die sich aus den Art. 49 AEUV und 56 AEUV ergebenden allgemeinen Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Irland, Randnrn. 26 und 29 bis 31).

    36      Das durch die Richtlinie 2004/18 errichtete System begründet demnach für die Mitgliedsaaten nicht unmittelbar die Verpflichtung, Art. 47 Abs. 2 dieser Richtlinie auch für öffentliche Aufträge über in Anhang II Teil B dieser Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen anzuwenden.

    37      Zum Vorbringen der Kommission, dass der der Richtlinie 2004/18 eigene allgemeine Grundsatz der „Öffnung für den Wettbewerb“ zu einer solchen Verpflichtung führen könne, ist festzustellen, dass die Öffnung für den Wettbewerb zwar das wesentliche Ziel der genannten Richtlinie ist, dieses Ziel jedoch, so wichtig es ist, nicht zu einer Auslegung führen kann, die dem eindeutigen Wortlaut der Richtlinie – in der Art. 47 Abs. 2 nicht unter den Bestimmungen genannt wird, die die öffentlichen Auftraggeber bei der Vergabe von Aufträgen über in Anhang II Teil B dieser Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen anwenden müssen – zuwiderläuft.

    38      Gemäß der vorstehend angeführten Rechtsprechung ist jedoch noch zu prüfen, ob sich eine Verpflichtung wie die in Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 vorgesehene in dem Fall, dass an einem solchen Auftrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht – was vom vorlegenden Gericht insbesondere im Hinblick darauf, dass im Ausgangsverfahren eine Ausschreibung im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, zu prüfen ist –, aus der Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung ergeben kann.

    39      Zum einen ist zum Grundsatz der Transparenz festzustellen, dass dieser nicht verletzt ist, wenn eine Verpflichtung wie die in Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 vorgesehene dem öffentlichen Auftraggeber bei Aufträgen über in Anhang II Teil B dieser Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen nicht auferlegt wird. Dass sich ein Wirtschaftsteilnehmer nicht auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit anderer Unternehmen stützen kann, steht nämlich in keinem Zusammenhang mit der Transparenz des Vergabeverfahrens. Im Übrigen dient die Anwendung der Art. 23 und 35 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 bei Verfahren zur Vergabe von Aufträgen über solche sogenannten „nichtprioritären“ Dienstleistungen ebenfalls dazu, das Maß an Transparenz zu gewährleisten, das dem spezifischen Charakter dieser Aufträge entspricht.

    40      Zum anderen kann auch der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht dazu führen, dass eine Verpflichtung wie die in Art. 47 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 vorgesehene, trotz der in dieser Bestimmung vorgenommenen Unterscheidung, auch bei der Vergabe von Aufträgen über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B auferlegt wird.

    41      Das Fehlen einer solchen Verpflichtung kann nämlich nicht zu einer – unmittelbaren oder mittelbaren – Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Niederlassungsorts führen.

    42      Eine so weite Betrachtungsweise der Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes könnte zur Anwendung anderer wesentlicher Bestimmungen der Richtlinie 2004/18, wie z. B. – wie das vorlegende Gericht bemerkt – der Bestimmungen über die Festlegung der Eignungskriterien der Bewerber (Art. 45 bis 52) und der Zuschlagskriterien (Art. 53 bis 55), auf Aufträge über in Anhang II Teil B dieser Richtlinie aufgeführte Dienstleistungen führen. Dies brächte die Gefahr mit sich, dass die in der Richtlinie 2004/18 vorgenommene Unterscheidung zwischen den Dienstleistungen der Anhänge II Teil A und II Teil B jegliche praktische Wirksamkeit verlöre, und würde zur Anwendung dieser Richtlinie auf zwei Ebenen führen, je nach dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verwendeten Wortlaut.

    43      Außerdem haben Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B dieser Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen spezifischen Charakter (Urteil Kommission/Irland, Randnr. 25). So weisen zumindest einige dieser Dienstleistungen besondere Merkmale auf, die es rechtfertigen, dass der öffentliche Auftraggeber die von den Bietern eingereichten Gebote in personalisierter und spezifischer Weise jeweils individuell berücksichtigt. Dies ist z. B. bei „Rechtsberatung“, „Arbeits‑ und Arbeitskräftevermittlung“, „Unterrichtswesen und Berufsausbildung“ sowie „Auskunfts‑ und Schutzdienste[n]“ der Fall.

    44      Die allgemeinen Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung erlegen den öffentlichen Auftraggebern daher bei Aufträgen über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B der Richtlinie 2004/18 keine Verpflichtung wie die in Art. 47 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehene auf.

    45      Die Begrenzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2004/18 beruht jedoch, wie sich aus dem 19. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, auf einem schrittweisen Vorgehen des Unionsgesetzgebers, das zwar nicht dazu verpflichtet, während der in dem genannten Erwägungsgrund erwähnten Übergangszeit Art. 47 Abs. 2 dieser Richtlinie auf die Vergabe von Aufträgen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen anzuwenden, es einem Mitgliedstaat und unter Umständen einem öffentlichen Auftraggeber jedoch nicht verbietet, in seinen Rechtsvorschriften bzw. in den Auftragsunterlagen die Anwendung der genannten Bestimmung auf die betreffenden Aufträge vorzusehen.

    46      Aufgrund des Vorstehenden ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2004/18 die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, Art. 47 Abs. 2 dieser Richtlinie auch auf Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B dieser Richtlinie anzuwenden. Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten und unter Umständen die öffentlichen Auftraggeber jedoch nicht daran, in ihren Rechtsvorschriften bzw. in den Auftragsunterlagen eine solche Anwendung vorzusehen.

     Zur ersten Frage

    47      Angesichts der Antwort auf die zweite Frage braucht die erste Frage nicht beantwortet zu werden.

     Kosten

    48      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

    Die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, Art. 47 Abs. 2 dieser Richtlinie auch auf Aufträge über Dienstleistungen gemäß Anhang II Teil B dieser Richtlinie anzuwenden. Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten und unter Umständen die öffentlichen Auftraggeber jedoch nicht daran, in ihren Rechtsvorschriften bzw. in den Auftragsunterlagen eine solche Anwendung vorzusehen.

    Unterschriften


    * Verfahrenssprache: Portugiesisch.

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