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Dokument 62008CJ0462

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 21. Januar 2010.
Ümit Bekleyen gegen Land Berlin.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg - Deutschland.
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats - Recht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers, sich im Aufnahmemitgliedstaat, in dem es eine Berufsausbildung abgeschlossen hat, auf jedes Stellenangebot zu bewerben - Beginn der Berufsausbildung nach dem endgültigen Wegzug der Eltern aus diesem Mitgliedstaat.
Rechtssache C-462/08.

Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-00563

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2010:30

Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C‑462/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 6. Oktober 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Oktober 2008, in dem Verfahren

Ümit Bekleyen

gegen

Land Berlin

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), der Richterin P. Lindh sowie der Richter A. Rosas, U. Lõhmus und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von Frau Bekleyen, vertreten durch Rechtsanwalt C. Rosenkranz,

– der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg und R. Holdgaard als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels als Bevollmächtigte,

– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Oktober 2009

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Bekleyen, einer türkischen Staatsangehörigen, und dem Land Berlin wegen dessen Entscheidung, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Deutschland zu verweigern.

Rechtlicher Rahmen

Die Assoziation EWG–Türkei

3. Art. 59 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls lautet:

„In den von diesem Protokoll erfassten Bereichen darf der Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.“

4. Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:

„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

– nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

– nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

– nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“

5. Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:

„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

– haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;

– haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“

Die Richtlinie 2004/38/EG

6. Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28) bestimmt in Art. 7:

„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

c) − bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

– über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7. Frau Bekleyen, die 1975 in Berlin geboren wurde, lebte bis zu ihrem 14. Lebensjahr mit ihren Eltern im Bundesgebiet. Ihre Eltern, die türkische Staatsangehörige sind, waren beide seit 1971 als Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt. Im Jahr 1989 kehrte Frau Bekleyen mit der gesamten Familie in die Türkei zurück, wo sie ihre Schulausbildung beendete und ein Studium der Landschaftsarchitektur absolvierte.

8. Im Januar 1999 reiste Frau Bekleyen mit Zustimmung des Landes Berlin zu Studienzwecken ohne ihre Familie erneut nach Deutschland ein. Im März 1999 erhielt sie eine Aufenthaltsbewilligung, die mehrfach verlängert wurde, zuletzt als Aufenthaltserlaubnis bis zum 31. Dezember 2005. Im Sommer 2005 schloss sie ihr Studium der Landschaftsplanung an der Technischen Universität Berlin mit dem Grad „Diplom-Ingenieurin“ ab.

9. Am 19. Dezember 2005 beantragte Frau Bekleyen unter Bezugnahme auf ihre in Deutschland absolvierte Hochschulausbildung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80. Mit Bescheid vom 21. September 2006 lehnte das Land Berlin den Antrag mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen für die Erlangung des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht erfüllt seien. Art. 7 Satz 2 erfordere einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt der Eltern und dem des Kindes, der vorliegend nicht gegeben sei. Nach Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung setze der Erwerb des Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechts voraus, dass sich zumindest bei Beginn der Berufsausbildung des Kindes noch ein Elternteil im Aufnahmeland aufhalte.

10. Im Mai 2007 wurde Frau Bekleyen mit Blick auf ihre Beschäftigung bei einer deutschen Gesellschaft nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 13. Mai 2009 erteilt.

11. Mit einer im Juli 2006 zunächst als Untätigkeitsklage erhobenen und anschließend auf den Bescheid vom 21. September 2006 erstreckten Klage begehrte Frau Bekleyen die Bestätigung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80.

12. Das Verwaltungsgericht Berlin wies die Klage mit Urteil vom 9. August 2007 ab. Es führte aus, dass die Klage zwar zulässig sei, weil Frau Bekleyen trotz ihres Aufenthaltsrechts aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 über ein Rechtsschutzbedürfnis verfüge. Wenn ihr nämlich das Recht zuerkannt würde, sich auf Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses zu berufen, hätte sie in Deutschland freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Klage sei jedoch unbegründet, weil die Privilegierung von Frau Bekleyen nach Art. 7 Abs. 2 infolge ihres langjährigen Aufenthalts in der Türkei erloschen sei.

13. Frau Bekleyen legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Berufung ein.

14. Da das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg der Auffassung ist, dass die Entscheidung des Rechtsstreits unter diesen Umständen eine Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 voraussetzt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht nach Abschluss einer Berufsausbildung im Aufnahmeland auch dann entsteht, wenn das im Aufnahmeland geborene Kind, nachdem es mit seiner Familie in den gemeinsamen Herkunftsstaat zurückgekehrt war, als Volljähriger allein in den betreffenden Mitgliedstaat zur Aufnahme einer Berufsausbildung zu einem Zeitpunkt zurückkehrt, zu dem seine in der Vergangenheit als Arbeitnehmer beschäftigten Eltern türkischer Staatsangehörigkeit den Mitgliedstaat bereits zehn Jahre zuvor auf Dauer verlassen hatten?

Zur Vorlagefrage

15. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, in diesem Mitgliedstaat nach Abschluss seiner Berufsausbildung in diesem Staat auch dann auf das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn es, nachdem es mit seinen Eltern in den Herkunftsstaat zurückgekehrt war, allein in den betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrte, um dort diese Ausbildung aufzunehmen.

16. Nach ständiger Rechtsprechung hat Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung, so dass sich die türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllen, unmittelbar auf die ihnen dadurch verliehenen Rechte berufen können (Urteile vom 5. Oktober 1994, Eroglu, C‑355/93, Slg. 1994, I‑5113, Randnr. 17, und vom 16. Februar 2006, Torun, C‑502/04, Slg. 2006, I‑1563, Randnr. 19).

17. Die Rechte, die Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dem Kind eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat verleiht, setzen zwangsläufig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraus, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung sonst jede Wirkung genommen würde (Urteile Eroglu, Randnrn. 20 und 23, sowie Torun, Randnr. 20).

18. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass Art. 7 Abs. 2, wie unmittelbar aus seinem Wortlaut hervorgeht, das einem Kind eines türkischen Arbeitnehmers eingeräumte Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat auf jedes Stellenangebot zu bewerben, von den zwei Voraussetzungen abhängig macht, dass das Kind des betreffenden Arbeitnehmers im fraglichen Mitgliedstaat eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und dass ein Elternteil in diesem Staat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war (Urteil vom 19. November 1998, Akman, C‑210/97, Slg. 1998, I‑7519, Randnr. 25).

19. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nicht erforderlich, dass der Elternteil des Kindes zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Ausbildung abschließt und das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats und damit einen Anspruch auf eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis in diesem Staat erwirbt, nach wie vor die Arbeitnehmereigenschaft besitzt oder in diesem Staat wohnt, sofern er dort in der Vergangenheit mindestens drei Jahre lang ordnungsgemäß beschäftigt war (vgl. in diesem Sinne Urteile Akman, Randnr. 51, und vom 16. März 2000, Ergat, C‑329/97, Slg. 2000, I‑1487, Randnr. 44).

20. Im vorliegenden Fall steht fest, dass Frau Bekleyen in Deutschland eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und dass ihre Eltern dort länger als drei Jahre beschäftigt waren.

21. Die dänische und die niederländische Regierung machen allerdings geltend, dass Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers auf Zugang zum Arbeitsmarkt davon abhängig mache, dass Gleichzeitigkeit zwischen der Beschäftigung oder zumindest dem Aufenthalt eines der Elternteile im Aufnahmemitgliedstaat und dem Beginn der Berufsausbildung des Kindes bestehe. Da im Ausgangsverfahren ein solcher zeitlicher Zusammenhang nicht gegeben sei, könne sich Frau Bekleyen nicht auf die durch Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte berufen.

22. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

23. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Voraussetzung in Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht ausdrücklich genannt ist und dass, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, diese Bestimmung nicht eng ausgelegt werden darf (Urteil Akman, Randnr. 39).

24. Der Beschluss Nr. 1/80 soll die allmähliche Integration der türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen einer der Bestimmungen dieses Beschlusses erfüllen und damit in den Genuss der darin vorgesehenen Rechte kommen, im Aufnahmemitgliedstaat fördern (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C‑337/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29).

25. Nach ständiger Rechtsprechung stellt Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 eine gegenüber Abs. 1 des Artikels günstigere Bestimmung dar, die dara uf abzielt, unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders zu behandeln, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verwirklicht wird (Urteile Akman, Randnr. 38, und Torun, Randnr. 23).

26. Anders als Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, der verlangt, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers bei diesem für gewisse Zeit ununterbrochen seinen Wohnsitz hat (Urteil Altun, Randnr. 30), enthält Art. 7 Abs. 2 keine Voraussetzung eines tatsächlichen Zusammenlebens in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitnehmer.

27. Grund dafür ist, dass Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dazu dient, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen (Urteil Akman, Randnr. 43), sondern den Zugang der Kinder türkischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt erleichtern soll.

28. Diese Feststellung spricht dafür, Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass er die Rechte, die er den Kindern türkischer Arbeitnehmer verleiht, nicht davon abhängig macht, dass ein Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat beginnt, nach wie vor die Arbeitnehmereigenschaft besitzt oder in diesem Staat wohnt.

29. Sind die in Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Voraussetzungen erfüllt, verleiht diese Bestimmung dem Kind eines türkischen Arbeitnehmers ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und entsprechend ein Recht, sich dort aufzuhalten.

30. Zwar hat das Recht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers auf freien Zugang zum Arbeitsmarkt seine Grundlage in der Arbeit, die der Arbeitnehmer in der Vergangenheit im Aufnahmemitgliedstaat verrichtet hat.

31. Wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darf aber nach der spezifischen Funktion, die Art. 7 Abs. 2 im Rahmen der Integration der Kinder türkischer Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hat, das Erfordernis, dass ein Elternteil seit mindestens drei Jahren in diesem Staat gearbeitet hat, nicht so verstanden werden, dass der betreffende Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Berufsausbildung beginnt, nach wie vor die Rechtsstellung eines Arbeitnehmers haben muss. Dieses Erfordernis soll lediglich zusammen mit der Berufsausbildung des Kindes sicherstellen, dass dieses in ausreichendem Maß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert ist, so dass es in den Genuss der besonderen Behandlung nach dieser Bestimmung kommen kann.

32. Die Erfordernisse, dass der Elternteil die Rechtsstellung eines Arbeitnehmers behalten hat und dass bei Beginn der Berufsausbildung ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt der Eltern im Aufnahmemitgliedstaat und dem des Kindes besteht, wären schwer mit dem Ziel von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 in Einklang zu bringen, der, wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils erläutert, nicht dazu dient, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen.

33. Das vorlegende Gericht gibt ferner zu bedenken, ob eine solche Auslegung von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dazu führen würde, dass Kinder türkischer Arbeitnehmer entgegen Art. 59 des Zusatzprotokolls eine günstigere Behandlung erhielten, als sie das Gemeinschaftsrecht den Kindern von Angehörigen der Mitgliedstaaten einräume.

34. Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit allein die Frage betrifft, ob das Aufenthaltsrecht von Frau Bekleyen in Deutschland, nachdem sie dort ihre Berufsausbildung abgeschlossen und Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat, auf Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 zu stützen ist, wie sie selbst meint, oder auf Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses, wie in der ihr bis zum 13. Mai 2009 erteilten Aufenthaltserlaubnis geschehen. Der Zweifel des nationalen Gerichts scheint jedoch daher zu rühren, dass es davon ausgeht, dass das Kind eines Angehörigen eines Mitgliedstaats gemeinschaftsrechtlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht habe, wenn seine Eltern den Aufnahmemitgliedstaat verlassen haben und es allein in diesen Staat zurückkehrt, um dort eine Berufsausbildung aufzunehmen.

35. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Beschluss Nr. 1/80 die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen (Urteile vom 16. Dezember 1992, Kus, C‑237/91, Slg. 1992, I‑6781, Randnr. 25, und Altun, Randnr. 48).

36. Die Mitgliedstaaten sind zudem nach wie vor befugt, Vorschriften über die Einreise der Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer in ihr Hoheitsgebiet zu erlassen und die Bedingungen ihres Aufenthalts während der ersten drei Jahre zu regeln, bis sie das Recht erwerben, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben (Urteil Ergat, Randnr. 42).

37. Im Übrigen genießen türkische Staatsangehörige im Gegensatz zu den Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, sondern besitzen nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte (Urteil vom 18. Juli 2007, Derin, C‑325/05, Slg. 2007, I‑6495, Randnr. 66).

38. Speziell zu den Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat ist festzustellen, dass Frau Bekleyen die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen muss, während das Kind eines Arbeitnehmers, der einem Mitgliedstaat angehört, ein entsprechendes Recht unmittelbar aus Art. 39 Abs. 1 EG herleitet, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union gewährleisten soll.

39. Was sodann die Voraussetzungen für die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat und den Aufenthalt dort angeht, steht fest, dass die Rückkehr von Frau Bekleyen nach Deutschland zu Studienzwecken und die ihr hierfür erteilte Aufenthaltsbewilligung auf Entscheidungen der nationalen Behörden gestützt waren, die nicht nach dem Beschluss Nr. 1/80, sondern allein nach nationalem Recht getroffen worden waren.

40. Kehrt hingegen in einer Situation, die mit der von Frau Bekleyen vergleichbar ist, das Kind eines in der Vergangenheit im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigten Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats in den erstgenannten Staat zurück und hält sich dort auf, so fällt dies in den Geltungsbereich des Unionsrechts.

41. In diesem Fall hätte das Kind des einem Mitgliedstaat angehörenden Arbeitnehmers auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 EG, wonach sich jeder Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten kann, das Recht, sich zu Studienzwecken im Aufnahmemitgliedstaat niederzulassen.

42. Die Ausübung dieses Aufenthaltsrechts unterläge nur den Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38, wonach ein Unionsbürger insbesondere über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen muss sowie über ausreichende Existenzmittel, so dass er keine Sozialhilfeleistungen dieses Staates in Anspruch nehmen muss.

43. Außerdem gibt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen, unter denen die aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 abgeleiteten Rechte beschränkt werden können, zusätzlich zu der Ausnahme wegen der Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die gleichermaßen auf türkische Staatsangehörige wie auf Angehörige der Mitgliedstaaten anwendbar ist, einen zweiten Erlöschensgrund für diese Rechte, der nur die türkischen Migranten betrifft, nämlich den, dass sie den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (Urteil Derin, Randnr. 67).

44. Es trifft also nicht zu, dass die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80, die sich aus den Randnrn. 23 bis 32 des vorliegenden Urteils ergibt, dazu führen würde, dass ein Kind eines türkischen Arbeitnehmers günstiger gestellt wäre als ein Kind eines Angehörigen eines Mitgliedstaats.

45. Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, in diesem Mitgliedstaat nach Abschluss seiner Berufsausbildung in diesem Staat auch dann auf das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn es, nachdem es mit seinen Eltern in den Herkunftsstaat zurückgekehrt war, allein in den betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrte, um dort seine Ausbildung aufzunehmen.

Kosten

46. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass sich das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, in diesem Mitgliedstaat nach Abschluss seiner Berufsausbildung in diesem Staat auch dann auf das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn es, nachdem es mit seinen Eltern in den Herkunftsstaat zurückgekehrt war, allein in den betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrte, um dort seine Ausbildung aufzunehmen.

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